ALBANIA - Mazedonien

Flüchtlingskind aus Mazedonien - Nikos größter Wunsch: zurück in die Schule

Flüchtlingskind aus Mazedonien - Nikos größter Wunsch: zurück in die Schule



http://www.stern.de/familie/kinder/fluechtlingskind-aus-mazedonien-nikos-groesster-wunsch-zurueck-in-die-schule-2096565.html

Niko ist neun Jahre alt und einer von Hunderttausenden Flüchtlingen in
Deutschland. Zusammen mit seiner Familie wartet er seit Monaten auf eine
Aufenthaltsgenehmigung - und auf seinen ersten Schultag. Von Steffi Hentschke

Nikos*
altes Leben endet im vergangenen September. Der Neunjährige war in der
Schule, sein fünfjähriger Bruder im Kindergarten und Vater Rade
verkaufte Gemüse auf dem Marktplatz ihres Heimatdorfes im Süden
Mazedoniens. Weil ihm zuletzt Waren gestohlen worden waren, begleitete
seine Frau ihn. Die Familie gehört zur Minderheit der Roma und die haben
in Mazedonien, wie in anderen Ländern Osteuropas, keinen guten Stand.
Nikos Mutter war gerade zur öffentlichen Toilette gegangen, da hörte
Rade Schreie. Vor dem Eingang des Häuschens fand er seine Frau, umringt
von Männern, bewusstlos. Man hatte sie mit ihrer Halskette gewürgt. "Die
hätten sie töten können", sagt Rade. Er überlegte nicht lange, nahm
seine Frau, holte die Söhne und stieg mit seiner Familie in den nächsten
Bus in Richtung Deutschland.

In Hamburgs Osten
kündigt sich der Frühling an. Im Hinterhof der Backsteinsiedlung spielen
Kinder, während Niko auf einer fremden Couch sitzt und wartet, mal
wieder. Sein Vater und er sind zu Besuch bei einer freiwilligen
Flüchtlingshelferin. Die Erwachsenen wollen heute zur Ausländerbehörde,
mal wieder. Sie stehen auf dem Balkon, rauchen und unterhalten sich -
auf Deutsch. Niko versteht nicht, was sie sagen und überhaupt scheint
ihm nicht klar zu sein, was er hier soll. Er hat den dicken Anorak
nicht ausgezogen und spielt mit den Gummibändern seiner Jogginghose. Bei
jeder Frage verzieht er sein rundliches Gesicht zu einer Grimasse,
kneift seine braunen Augen angestrengt zusammen und antwortet mit dem
einzigen Satz, den er in der fremden Sprache beherrscht: "Ich weiß
nicht."

Alles in der Schwebe

Rade spricht
besser Deutsch, aber er verrät seinen Kindern wenig über ihre aktuelle
Situation. Er wolle nicht, dass sie sich zu viele Sorgen und schon gar
nicht zu viele Hoffnungen auf ein Leben in Deutschland machen - und gibt
so das Gefühl in einer ewigen Warteschleife zu hängen, ungewollt an
seine Söhne weiter. Durchschnittlich braucht es acht Monate, bis ein
Asylantrag vollständig bearbeitet und entschieden ist, wie es mit den
Menschen hinter dem Formular weitergeht. Bis dahin ist alles
provisorisch, alles in der Schwebe. Für Niko heißt das: Statt in seinem
vertrauten Kinderbett schläft er nun im Stockbett, über ihm sein Papa,
im Etagenbett an der gegenüberliegenden Wand liegt unten sein kleiner
Bruder, oben die Mutter. Die Familie wohnt in einem der Containerdörfer,
die die Stadt aus Platzmangel aufgestellt hat. Acht Quadratmeter für
vier Personen und das seit vier Monaten. "Da muss man sich
organisieren", sagt Rade.

Morgens um acht Uhr
klingelt der Wecker, dann gehen alle zu den Waschräumen auf der anderen
Seite des Lagers. Eine eigene Toilette oder ein Waschbecken gibt es
nicht. Im Essensraum steht Frühstück bereit: Toastbrot, Marmelade,
Salami und Scheiblettenkäse. Eigene Lebensmittel sind in den Containern
untersagt, die knapp 300 Euro Taschengeld, die Rade für seine Familie
jeden Monat bekommt, würden dafür eh nicht ausreichen. Nach dem
Frühstück hat Niko zwei Stunden Deutschunterricht, für seinen Bruder
gibt es eine Art Kindergarten. Um zwölf kommen wieder alle zusammen,
Mittagessen. Meistens stehen Nudeln mit Tomatensoße auf dem Speiseplan.
"Die kriegen mittlerweile nicht mal mehr die Kinder runter", klagt Rade.
Um die Zeit bis zum Abendessen zu verkürzen, hat er eine Mittagsruhe
für alle eingeführt. Danach spielt er mit seinen Söhnen draußen auf dem
zum Containerdorf umfunktionierten Parkplatz. Über Spenden hat die
kleine Familie zwei Gesellschaftsspiele ergattern können, "Uno" und
"Mensch ärgere dich nicht". Das mag Niko besonders. "Er kann auch
verlieren, anders als sein Bruder", sagt sein Vater.

Ein Handy ist nicht drin

Die
Kinder hätten sich seit der Flucht sehr verändert, erzählt Rade.
Während Niko immer stiller und in sich gekehrter werde, mache der Kleine
ständig Radau. Zwar hatten die Jungs in ihrer alten Heimat immer mit
Anfeindungen von Mitschülern oder Lehrern zu kämpfen - doch in ihrem
Dorf hatten sie auch Freunde, mit denen sie Fußball spielen oder Fahrrad
fahren konnten. Der Familie ging es finanziell nicht schlecht und
gerade die Großeltern konnten es nicht lassen, ihre Enkel zu verwöhnen.
Sie und Nikos Tante sind in Mazedonien geblieben. Hin und wieder ruft
Rade bei den Verwandten an, besuchen können sie ihre Familie nicht:
Asylbewerber dürfen Deutschland nicht verlassen, in der Regel nicht mal
das Bundesland und - etwa in Bayern und Sachsen - sogar den Landkreis
nicht.

Im Mai hat Niko Geburtstag, er wird zehn Jahre
alt. Eigentlich hatte er sich ein Handy gewünscht, das hatte ihm sein
Papa versprochen. Doch Niko weiß: ein Handy oder eine Playstation, das
ist erst einmal nicht drin. Jetzt geht es um die elementaren Dinge. Als
er gebeten wird seine Wünsche aufzuzeichnen, malt er das, was für die
meisten Kinder in Deutschland Normalität ist: ein Haus für seine
Familie, ein Fahrrad für seinen Bruder und eine Schule. "Niko will
unbedingt wieder in die Schule gehen", übersetzt sein Vater. "Und Oma
und Opa wiedersehen."

Anfang April entscheidet sich, ob Nikos Wünsche in Erfüllung gehen - oder ob er weiter in der Warteschleife hängen wird.

*Um das Asylverfahren nicht zu gefährden, wurden alle Namen geändert.