Atom-Protest: Die Menschen gehen wieder auf die Straße Zehntausende demonstrieren im Berliner Regierungsviertel / Die Opposition freut sich Berlin
Auf dem Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs, in Sichtweite des Kanzleramts und Reichstags, haben sich zehntausende Menschen aller Altersgruppen versammelt. Von ihren gewählten Vertretern im Parlament fühlen sich die Demonstranten mit ihren Anti-Atom-Plakaten nicht mehr repräsentiert. Sie pfeifen, skandieren, protestieren und recken ein Meer strahlend gelber Fahnen in die Höhe: Atomkraft? Nein danke! Die vier einsam flatternden Deutschlandflaggen auf dem Reichstag wirken dagegen an diesem Sonnabend ziemlich verloren.
Mit der heutigen Demonstration werden wir der Bundesregierung zeigen, dass sie mit ihrem atompolitischen Kurs nicht durchkommt, sagt Jochen Stay vom Aktionsbündnis ausgestrahlt, einem der Veranstalter der Kundgebung. Wer auf die wogende Masse blickt, die vom Bahnhof Richtung Innenstadt zieht, könnte ihm glauben. In einer Menschenkette umzingeln die Demonstranten das Regierungsviertel und lassen sich zu einer symbolischen Sitzblockade nieder. Nach der Zählung der Veranstalter sind 100 000 Demonstranten gekommen, die Polizei spricht von mehreren zehntausend, legt sich aber nicht auf eine Zahl fest.
Die Laufzeitverlängerung für Atommeiler um durchschnittlich zwölf Jahre dürfte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Kabinett Wählersympathien gekostet haben. Einer ZDF-Umfrage zufolge sieht die Mehrheit der Deutschen darin vor allem die Interessen der Atomkonzerne berücksichtigt. Für die Opposition ist der geplante Beschluss am Bundesrat vorbei ohnehin ein politischer Skandal (SPD), schmutziger Deal (Grüne) und Angriff auf die Demokratie (Linke).
Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann sieht in den Anti-Atom-Demonstrationen gar den Beginn einer neuen Protestkultur. Das ist das Fünkchen, aus dem sich eine neue politische Bewegung entwickeln kann, sagte er in einem Interview. Bei den Zwölf- bis 16-Jährigen könne über das Thema Atomkraft das politische Interesse auch generell wieder ansteigen.
Hurrelmanns These findet Zustimmung bei SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, die mit einem roten Luftballon bewaffnet inmitten der Demonstranten steht und fröhlich zur dröhnenden Musik wippt. Die Proteste zeigten eine Renaissance der Bürgerbeteiligung, jubelt Nahles. Statt Frust zu schieben, gingen die Leute wieder auf die Straße. Das freut mich und ist gut für unsere Demokratie.
Auch Mario Bloem läuft erstmals seit der Nato-Nachrüstung 1981 wieder bei einer Großdemonstration mit. Die Proteste gegen Atomkraft und das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 sieht er als historischen Moment: Die Menschen zeigen, dass sie sich von der Politik nicht mehr vertreten fühlen. Während die heutigen Endzwanziger und Mittdreißiger noch ein apolitischer Totalausfall seien, engagiere sich die nachwachsende Generation wieder stärker.
Laut der Shell-Jugendstudie 2010 verfolgen 40 Prozent der 15- bis 24-Jährigen regelmäßig das politische Geschehen, sechs Prozent mehr als noch 2002. Und tatsächlich sind viele Minderjährige unter den Berliner Demonstranten, die um ihre Zukunft fürchten. Die Endlagerungsfrage ist doch noch gar nicht gelöst, schimpft die 17-jährige Sophie. Die Politiker schließen aber die Augen, weil sie schon längst tot sind, wenn uns das Ganze um die Ohren fliegt. Ihre beiden Freundinnen nicken zustimmend, die drei Mädchen sind am Morgen extra aus Kiel angereist.