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Atomkraft spaltet Kieler Koalition. WZ vom 08.09.2010

Atomkraft spaltet Kieler Koalition. WZ vom 08.09.2010

Atomkraft spaltet die Kieler Koalition
FDP lehnt längere Laufzeiten für
Pannenreaktoren in Krümmel und Brunsbüttel ab – die CDU begrüßt dagegen
den Berliner Kompromiss
Berlin/Kiel /bg

Die schwarz-gelbe Koalition in Kiel streitet
über die geplante Laufzeitverlängerung von Atommeilern. Während
Ministerpräsident Peter Harry Carstensen und Wirtschaftsminister Jost de
Jager (beide CDU) den Beschluss der Bundesregierung wegen der
„zusätzlichen Wertschöpfung“ zugunsten des Stromnetz–Ausbaus und der
„Planungssicherheit für die drei Kernkraftwerke im Land“ begrüßten,
lehnte die FDP im Norden ihn ab.


„Wir wollen keine Laufzeitverlängerung für Brunsbüttel und Krümmel“, sagte FDP-Landeschef Jürgen Koppelin unserer Zeitung. FDP-Fraktionschef
Wolfgang Kubicki forderte eine Enthaltung des Landes im Bundesrat:
„Einer generellen Verlängerung werden wir nicht zustimmen.“ Auch eine
Klage gegen die vom Bund geplante Umgehung der Länderkammer wollte
Koppelin in einer Sitzung des Kieler Koalitionsausschusses am Abend
erörtern.


Nach dem Berliner Beschluss können die drei Atomkraftwerke im Norden
deutlich länger am Netz bleiben als bisher geplant. So darf der Reaktor
in Brunsbüttel, der in drei Jahren stillgelegt werden sollte, nun acht
Jahre länger und damit bis 2021 Strom produzieren. Die anderen beiden
Werke erhalten sogar einen Zuschlag von 14 Jahren. Brokdorf kann daher
ebenso bis 2033 weiterarbeiten wie der Pannenreaktor in Krümmel.


Die FDP will dagegen nur die bisherigen Restlaufzeiten der beiden
älteren Meiler auf den jüngeren in Brokdorf verschieben. „Wir wollen die
Laufzeiten von Brunsbüttel und Krümmel übertragen“, fordert Koppelin.
Allerdings lehnt Betreiber Vattenfall das ab: „Wir haben vor, beide
Kernkraftwerke langfristig weiter zu betreiben“, sagte Firmensprecherin
Barbara Meyer-Bukow. Zwar stehen die Reaktoren derzeit wegen Pannen still, doch sollen sie laut Meyer-Bukow 2011 wieder ans Netz – Krümmel bereits „im Januar“, Brunsbüttel „in der zweiten Jahreshälfte“.


Seite 7:

Opposition will gegen Atom-Kompromiss klagen
SPD-Chef Gabriel wirft Schwarz-Gelb Käuflichkeit vor / Merkel lobt Energiekonzept als „Revolution“
Berlin/Kiel /dpa /bg

Nach der Einigung von Schwarz-Gelb auf deutlich längere Atom-Laufzeiten steht Deutschland vor einem heißen Herbst. Gestern drohte mit Nordrhein-Westfalen
ein weiteres Land mit einer Verfassungsklage, falls die Regierung den
Bundesrat bei der geplanten Verlängerung um bis zu 14 Jahre zu umgehen
versucht. Atomgegner kündigten zudem massive Proteste an.


Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bewertete das neue Energiekonzept mit Milliarden-Finanzspritzen
für mehr Ökostrom hingegen als „Revolution“: „Unsere Energieversorgung
wird damit die effizienteste und auch die umweltverträglichste
weltweit.“ Zu den ersten Gewinnern gehörten die Atomkonzerne Eon, RWE
& Co. – ihre Aktienkurse legten kräftig zu.


Im Gegenzug für die längeren Laufzeiten zahlen alle AKW-Betreiber
künftig eine Brennelementesteuer an den Bund und verpflichten sich
zudem, langfristig 15 Milliarden Euro in erneuerbare Energien zu
investieren. Anders als von Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) gefordert, erhalten die Standort-Länder aber keinen eigenen Anteil an den Zusatzgewinnen der Energiekonzerne.


Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) und Wirtschaftsminister Rainer
Brüderle (FDP) erklärten, das Zeitalter der erneuerbaren Energien werde
eingeläutet. Nicht durchsetzen konnte sich Röttgen mit seiner Forderung
nach einem speziellen Schutz der Atommeiler vor Flugzeugabstürzen.
Allerdings gibt es nach seinen Worten künftig neue Standards, damit die
Atomaufsicht schneller reagieren könne. Absehbar seien bereits jetzt
Nachrüstkosten von bis zu 600 Millionen Euro je Kraftwerk.


Die Koalition will die Laufzeitverlängerung ohne den Bundesrat durchsetzen. Dort hat Schwarz-Gelb
keine Mehrheit. Sie sei guten Mutes, dass die Atomentscheidung bei
einer möglichen Klage Bestand haben werde, sagte Merkel. SPD und Grüne
haben schon angekündigt, dass sie gegen die Verlängerung der Laufzeiten
klagen werden.


Auch wirft die Opposition der Kanzlerin und ihrer Koalition
Käuflichkeit vor. Die Sicherheit der Deutschen sei an die vier
Atomkonzerne verkauft worden, kritisierte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Grünen-Fraktionschef
Jürgen Trittin erklärte, die Konzerne könnten bis zu 100 Milliarden
Euro mit den längeren Laufzeiten verdienen: „Davon wird nicht, wie
angekündigt, die Hälfte abgeschöpft, sondern nur ein kleiner Bruchteil,
ein Brosamen.“


Auch die Opposition in Schleswig-Holstein kritisierte den Atombeschluss der Bundesregierung gestern scharf. „Schwarz-Gelb
stellt sich erneut gegen die Mehrheit der Bevölkerung – diesmal nicht
zugunsten von Hoteliers und reichen Erben, sondern zugunsten der
mächtigen Energiekonzerne“, schimpfte SPD-Landes-
und Fraktionschef Ralf Stegner. Die energiewirtschaftliche Sprecherin
der Grünen, die Flensburger Bundestagsabgeordnete Ingrid Nestle,
befürchtet, dass die längeren Laufzeiten die erneuerbaren Energien in
Schleswig-Holstein zurückwerfen: „Die Energiekonzerne werden ihre Pläne für Offshore-Windkraft jetzt bremsen.“ Der Kieler Landtag will sich in dieser Woche in einer Aktuellen Stunde mit dem Atombeschluss befassen.


Längere Laufzeiten: Konzerne zahlen in Ökostrom-Fonds
Berlin /dpa

Nach monatelangen Verhandlungen hat sich die Bundesregierung in der
Nacht zu gestern auf ein Energiekonzept bis 2050 geeinigt. Darin werden
nicht nur die längeren Atomlaufzeiten geregelt, sondern auch der Weg
festgelegt hin zu einer Versorgung mit erneuerbaren Energien.


Atom: Die
Laufzeiten werden um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert. Die sieben
bis 1980 ans Netz gegangenen Anlagen bekommen acht Jahre mehr, die zehn
jüngeren AKW 14 Jahre. Dadurch erhöht sich die von Rot-Grün
beim Ausstieg festgelegte Regellaufzeit von 32 auf 40 bis 46 Jahre. Das
könnte – je nach Produktion der Anlagen und Strommengenübertrag von
stillgelegten Meilern – Atomkraft in Deutschland bis 2040 oder sogar
2050 bedeuten.


Zahlungen:
Die Konzerne müssen eine neue Atomsteuer zahlen, die dem Bund von 2011
bis 2016 fast 14 Milliarden Euro für die Haushaltssanierung bringen
soll. Für den Ausbau der Öko-Energie sollen sie zusätzlich eine Sonderabgabe von insgesamt 1,4 Milliarden in einen neuen Ökostrom-Fonds
zahlen. Von 2017 an, wenn Steuer und Abgabe ausgelaufen sind, sollen
sie langfristig bis zu 15 Milliarden Euro aus ihren Laufzeit-Gewinnen für den Fonds abgeben.


Windkraft:
Über die Staatsbank KfW wird vom nächsten Jahr an der Ausbau von
Windparks in der Nordsee gefördert. Die Genehmigungsverfahren werden
vereinfacht. Um den Windstrom von der Küste in die Ballungszentren zu
bringen, will die Regierung den Ausbau der Leitungsnetze beschleunigen.
Dafür will sie nächstes Jahr ein Konzept „Zielnetz 2050“ vorlegen.


Kohle: Bei
der Stromgewinnung aus Kohlekraftwerken soll die Technik zur Abscheidung
und unterirdischen Speicherung des Klimakillers Kohlendioxid (CO2) vorangetrieben werden. Bis 2020 soll es zwei Modell-Kraftwerke geben. So sollen Klimaziele besser erreicht werden.


Energieeffizienz:
Hier will die Regierung mit intelligenten Stromnetzen und mehr Anreizen
für Verbesserungen sorgen. Um Verbraucher und Wirtschaft beim
Energiesparen zu unterstützen, wird beim Wirtschaftsministerium ein
„Effizienzfonds“ eingerichtet. Laut Umweltministerium lässt sich durch
mehr Effizienz bis zu 50 Prozent Energie sparen.


Kontrolle: Die
Regierung will die Fortschritte beim Umbau der Energieerzeugung
fortlaufend von Wissenschaftlern prüfen lassen. Alle drei Jahre soll es
ein „Monitoring-Verfahren“ geben.





Re: Atomkraft spaltet Kieler Koalition. WZ vom 08.09.2010

Kommentar:



Die Chance der Länder
Über strengere Sicherheitsanforderungen kann Schleswig-Holstein verhindern, dass seine Problemmeiler noch jahrelang weiterlaufen
Henning Baethge

Auf Bundesebene hat die schwarz-gelbe Koalition den Streit um längere Reaktor-Laufzeiten erst mal beendet – jetzt verlagert er sich auf die Landesebene, jedenfalls in Schleswig-Holstein.
Denn anders als die CDU im Norden lehnt ihr Regierungspartner FDP den
Atombeschluss aus Berlin vehement ab. Es stört die Liberalen, dass auch
die Pannenmeiler in Brunsbüttel und Krümmel eine zusätzliche Schonfrist
bekommen. Besonders absurd finden nicht nur sie, dass die
Bundesregierung den Dauerproblemfall Krümmel sogar zur Kategorie der
modernen Reaktoren zählt, die gleich 14 statt 8 Jahre länger laufen
dürfen. Krümmel könnte daher bis 2033 am Netz sein.


Dabei dürfte sich Schwarz-Gelb in Kiel bei
den zunächst anstehenden Fragen noch leicht zusammenraufen – wenn es
darum geht, wie sich das Land im Bundesrat zur Laufzeitverlängerung
verhält und ob es dagegen klagt, wenn der Bund das Votum der
Länderkammer übergeht. In beiden Fällen hängt von der schleswig-holsteinischen Entscheidung nichts Wesentliches ab.


Zum Schwur kommt es hingegen vielleicht schon im Januar, wenn
Vattenfall das Werk in Krümmel wieder anfahren will – spätestens aber
nach dem nächsten Störfall. Dann muss sich die Kieler Regierung einigen,
wie sie ihren neuen Spielraum nutzt, den die Bundesregierung den
Ländern parallel zur Laufzeitverlängerung gibt: Die
Atomaufsichtsbehörden können strengere Sicherheitsanforderungen stellen
als bisher. Dies ist ein Hebel, um Pannenreaktoren trotz der offiziell
längeren Laufzeit stillzulegen. Denn hohe Nachrüstkosten machen alte
Meiler schnell unrentabel.


Es wäre gut, wenn sich im Norden zumindest mittelfristig die FDP
durchsetzen könnte und die Koalition die anfälligen Meiler in Krümmel
und Brunsbüttel eher früher als später abschaltet. Zwar verlocken nicht
zuletzt Ministerpräsident Peter Harry Carstensen die zusätzlichen
Steuereinnahmen, die aus einem möglichst langem Weiterbetrieb der
Reaktoren fließen würden. Aber auch er weiß natürlich wie die FDP um die
Risiken der Atomenergie im Allgemeinen und die Vorbehalte der Bürger
gegen Krümmel im Besonderen. Vielleicht ist es ja hilfreich, dass
letztlich ein atomskeptischer Außenstehender entscheidet: Zuständig für
die Atomaufsicht im Land ist Justizminister Emil Schmalfuß – und der ist
parteilos.