Hamburg: Rückkauf der Energienetze? WZ vom 21.09.2013
Hamburg: Rückkauf der Energienetze? WZ vom 21.09.2013
Verbissener Kampf um die Netze Hamburg entscheidet morgen auch über den Rückkauf der Energienetze durch die Stadt er würde zwei Milliarden Euro kosten Hamburg
Viel ist geredet und zuletzt auch verbissen gestritten worden um den Rückkauf der Hamburger Energienetze morgen sprechen die Bürger das letzte Wort. Per Volksentscheid befinden die Hamburger über das Ansinnen der Initiative Unser Hamburg unser Netz, die Strom-, Gas- und Fernwärmeleitungen zu 100 Prozent in öffentliche Hand zu übernehmen. Der SPD-Senat unter Olaf Scholz lehnt die Vergesellschaftung vehement ab, die Kosten von geschätzt zwei Milliarden Euro seien unbezahlbar. Scholz hatte im vorigen Jahr von Vattenfall und E.ON Hanse je 25,1 Prozent an den Netzen für die Stadt zurückerworben und mit den Mehrheitseignern Maßnahmen für eine Hamburger Energiewende vereinbart.
Der immer verbissener geführte Streit hat den Bundeswahlkampf im Stadtstaat mittlerweile in den Hintergrund gedrängt Indiz für die immense Bedeutung. Umweltbewegte und Grüne sehen die Kontrolle über die Leitungen als entscheidenden Hebel für eine echte Energiewende hin zu Erneuerbaren. Den Kaufpreis halten die Fürsprecher für refinanzierbar und verweisen auf üppige Gewinne der bisherigen Betreiber.
Die Gegner sprechen dagegen von unkalkulierbaren Risiken neuerlicher Milliardenverbindlichkeiten. Olaf Scholz kämpft zudem um den Nimbus des Erfolgs-Politikers, dem die erste echte Schlappe als Bürgermeister droht. Vattenfall und E.ON wiederum wollen die durchaus einträglichen Netze nicht abgeben, auch um ihren Einfluss auf dem riesigen Energiemarkt der Millionenstadt zu sichern.
In dem Ringen stehen sich zwei starke Blöcke unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite die Rückkauf-Freunde um den Umweltverband BUND, den evangelischen Kirchenkreis Ost, die Verbraucherzentrale, Grüne, Linke sowie Dutzende Unterstützergruppen. Im anderen Lager, ungewohnt eng an SPD-Seite, CDU, FDP, nahezu alle Wirtschaftsverbände mit der Handelskammer an der Spitze sowie ein Großteil der Gewerkschaften.
Neues Gaskraftwerk auf der Kippe
Auch wenn es im Volksentscheid ausschließlich um die Hamburger Energieinfrastruktur geht, so wird der Ausgang auch in Schleswig-Holstein mit größtem Interesse verfolgt. Verliert Vattenfall das Fernwärmenetz, steht plötzlich auch das geplante 500 Millionen Euro teure Gaskraftwerk in Wedel (Kreis Pinneberg) auf der Kippe. Die Rückkauf-Befürworter wollen Hamburgs Fernwärme lieber in Dutzenden Blockheizkraftwerken erzeugen.
Eon Hanse wiederum, Besitzer des Hamburger Gasnetzes, hat seinen Sitz in Quickborn (Kreis Pinneberg). Der Versorger verdient mit den 7400 Kilometer langen Leitungen und 229 000 Kunden in Hamburg gutes Geld, 2012 mehr waren es mehr als 17,6 Millionen Euro. Und damit auch die sieben schleswig-holsteinischen Kreise. Denn diese halten an dem Nachfolger von Schleswag und HeinGas 26,1 Prozent der Anteile.
Zu erwarten ist allemal eine spannende und lange Nacht im Rathaus. Erste Zwischenstände der Abstimmung sind für 20 Uhr angekündigt, einen belastbaren Trend soll es ab 22 Uhr geben. Aber es kann auch viel länger dauern. Denn die Volksinitiative braucht am Sonntag nicht nur mehr Ja- als Neinstimmen, sie muss auch ein verschärftes Quorum schaffen. Das bemisst sich erstmals an der Zahl der Zweitstimmen für die Parteien, die es am Sonntag in den Bundestag schaffen. Kommt es also zu einer langen Zitterpartie für FDP und AfD, könnte erst gegen Mitternacht feststehen, ob Hamburgs Bürger die Netze zurückwollen oder nicht. Markus Lorenz
Re: Hamburg: Rückkauf der Energienetze? WZ vom 21.09.2013
WZ vom 24.09.2013:
Der lange Weg zum Rückkauf Der Hamburger Volksentscheid verpflichtet den Senat zum Handeln gegen den Willen der Konzerne / Bürgermeister Scholz erwartet Prozessflut Hamburg /mlo
Nach dem Ja der Hamburger für einen Rückkauf der Energienetze steht der Stadt ein beispielloses Verfahren bevor. Noch kaum jemand überblickte gestern im Rathaus in Gänze die finanziellen, juristischen, technischen und politischen Folgen der vom Wahlvolk gewollten Vergesellschaftung der Strom-, Gas- und Fernwärmeleitungen. Der Senat unter Olaf Scholz (SPD) muss nun umsetzen, wogegen er vehement gekämpft hatte. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Was will die Stadt zurückkaufen?
Das Stromnetz von Vattenfall (27 500 Kilometer) zuzüglich Umspannwerken, das Gasnetz samt Leitzentrale und technischen Einrichtungen vom Quickborner Versorger Eon Hanse (7400 Kilometer) sowie ebenfalls von Vattenfall das Fernwärmenetz (800 Kilometer) samt einigen Erzeugungsanlagen.
Was kostet die Übernahme?
Unklar. Die Rückkauf-Gegner gehen von mehr als zwei Milliarden Euro aus. Diese Schätzung basiert auf dem Kauf von 25,1 Prozent der Anteile durch die Stadt im vorigen Jahr für 543,5 Millionen Euro. Beobachter erwarten ein langwieriges Gezerre um den Preis der Leitungen.
Wie will Hamburg das bezahlen?
Nicht aus dem Stadthaushalt, sondern über die städtische Beteiligungsgesellschaft HGV. Die würde den Kaufpreis als Kredit aufnehmen.
Ist der Netzbetrieb gewinnbringend?
Ja. Das Hamburger Stromnetz warf 2012 rund 48 Millionen Euro ab, das Gasnetz 17,6 Millionen. Für das Fernwärmenetz gibt es keine Zahlen. Rückkauf-Befürworter erwarten Profite in einer Gesamthöhe von rund 100 Millionen Euro pro Jahr.
Sinken nach dem Netzerwerb die Preise?
Nein. Was Netzbetreiber von den Kunden kassieren dürfen, ist über die Bundesnetzagentur streng reguliert.
Fließt mehr Öko-Energie?
Umstritten. Der Netzeigner muss jede Art von Energie durchleiten, auch Atom- und Kohlestrom. Unser Hamburg unser Netz argumentiert, dass vor allem im Fernwärmemarkt der Besitzer des Netzes mittelfristig entscheidet, wie die Heizenergie erzeugt wird.
Zieht der Senat bei der Umsetzung des Volksentscheides mit?
Auch wenn er den Rückkauf abgelehnt hat, sagt Bürgermeister Scholz jetzt: Ja. Ich bin ein großer Anhänger von Volksentscheiden.
Was wird dann mit all den anderen Vereinbarungen des Energiepakts?
Formal werden alle hinfällig. Das gilt auch für ein zwischen Vattenfall und Hamburg vereinbartes neues Gaskraftwerk in Wedel. Allerdings könnte Vattenfall den Bau im Alleingang realisieren.
Wie reagieren Vattenfall und E.ON Hanse?
Beide wollen ihre Netze behalten und werden das Kaufangebot der Stadt über ihre je 74,9 Prozent ablehnen. Vattenfall Deutschland-Chef Tuomo Hatakka hat schon angekündigt, sein Unternehmen werde sich 2014 erneut um die Stromkonzession bewerben. Von E.ON Hanse wird dies für die Gaskonzession 2016 ebenfalls erwartet.
Gingen die Konzession für die Netze automatisch an die Stadt?
Nein. Stadt und Konzerne würden als Konkurrenten gegeneinander antreten. Als wahrscheinlich gilt aber, dass die Senatsbürokratie am Ende ihrer eigenen Gesellschaft den Zuschlag erteilen wird.
Droht juristischer Ärger?
Reichlich. Scholz erwartet sieben Prozesse zwischen Stadt und Vattenfall/E.ON: Drei um die Konzessionen, drei um den Kaufpreis und einen um die Zukunft der Fernwärmenetze.
Standpunkt:
Klarer Auftrag an Scholz Hamburgs Bevölkerung stimmt für den Rückkauf der Versorgungsnetze Markus Lorenz
Es ist eine späte Quittung für enttäuschte Hoffnungen einstiger Privatisierungseuphorie. Gegen den erklärten Willen ihres Senats haben die Hamburger per Volksentscheid für den vollständigen Rückkauf der Strom-, Gas- und Fernwärmenetze gestimmt. Knapp, aber eindeutig sagen die Bürger ihren Politikern im Rathaus: Nehmt zwei Milliarden Euro in die Hand und kauft zurück, was ihr in den 90ern an staatlicher Infrastruktur verscherbelt habt. Damals konnte sich der behäbige Staat gar nicht schnell genug aus der Daseinsvorsorge verabschieden und die Privaten ans Ruder lassen.
Heute zeigt sich: Ob Strom, Gas oder Gesundheit, kaum etwas ist wirklich besser geworden, seit der Markt regiert. Und schon gar nicht günstiger. Gleichwohl ist es eine romantische Illusion zu glauben, das Rad der Geschichte ließe sich mal eben zurückdrehen. Wie wenig das funktionieren wird, zeigt sich gerade in Hamburg, wo sich der Volksentscheid eben ausschließlich auf die Netze bezieht, nicht auf die Kraftwerke. Die bleiben in der Hand der Konzerne. Ob also die Energiewende in Hamburg durch Vergesellschaftung tatsächlich Fortschritte macht, muss sich erst zeigen. Ebenso wie das Ausmaß des finanziellen Risikos. Richtig ist: Zwei Milliarden neuer Schulden sind beängstigend viel. Richtig ist aber auch: Netzbetrieb hat goldenen Boden. Für Zins und Tilgung sollte es allemal reichen. Landespolitisch gesehen ist mit der Abstimmung tatsächlich dem Bürgermeister der erste Zacken aus der Krone gebrochen. Olaf Scholz hat sich persönlich mit ganzer Kraft gegen den Rückkauf gestemmt und verloren. Nun muss er umsetzen, was er von Herzen ablehnt. Pikant genug, aber eben auch ein Exempel dafür, wie ernst Politik den erklärten Volkswillen wirklich nimmt.
Re: Hamburg: Rückkauf der Energienetze? WZ vom 21.09.2013
WZ vom 26.09.2013:
Bürgermeister Scholz sagt schnellen Netze-Rückkauf zu Hamburg /lno
Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hat der Bürgerschaft die Umsetzung des Netze-Volksentscheids zugesichert.
Mit Blick auf die Anfang 2014 anstehende Interessenbekundung für das Stromnetz sagte Scholz in einer Aktuellen Stunde: Die Stadt wolle eine Bewerbung abgeben, die so gut ist, dass keine Behörde irgendwo in Deutschland sie ablehnen könnte. Gleichzeitig ermahnte er Gegner und Befürworter einer Rekommunalisierung, nach dem Ja der Bürger zu einem vollständigen Rückkauf der Energienetze nun nicht wieder alte Argumente vorzutragen. Das alles ist bereits gesagt. Nun gelte es den Volksentscheid umzusetzen. In einem ersten Schritt wollte das Parlament am Abend unter anderem einen SPD-Antrag zum weiteren Vorgehen verabschieden.
Danach soll der Senat Vattenfall und E.ON unverzüglich fragen, ob diese freiwillig ihre Anteile an den Energienetzen verkaufen. Sollten sie dies wie erwartet ablehnen, soll Hamburg die 25,1-Prozent-Beteiligungen der Stadt an den Netzen rückabwickeln, die rund 544 Millionen Euro zurückverlangen und dann in Konkurrenz zu den Energiekonzernen in das Bewerbungsverfahren eintreten. Bis 15. Januar 2014 muss die Stadt ihr Interesse am Stromnetz bekundet haben, um danach in das eigentliche Bewerbungsverfahren einzutreten. Zudem wird die Stadt für das Gasnetz ein Konzessionsverfahren vorbereiten.