Lünen: "Wohnen am Kohlekraftwerk", FR - 06.01.2009
Frankfurter Rundschau - 06-01.2009
Wohnen am Kohlekraftwerk
Ihnen stinkt's
Die Kinder husten und röcheln - für Familie Köhler steht fest: Das Kohlekraftwerk vor ihrer Haustür in Lünen macht krank. Ärzte unterstützen sie. Die Stadt aber baut ein weiteres Kraftwerk.
Von Annika Joeres
Als Lennart zum ersten Mal die Luft wegblieb, ergriff seine Eltern noch Panik. Sie packten den Säugling ins Auto und rasten zum Krankenhaus. Da wohnten sie gerade wieder sechs Monate in Lünen, Kreis Unna, am östlichen Rand des Ruhrgebiets. "Nun röcheln alle Kinder. Jeden Tag", sagt Sara Köhler.
Im Winter müssen drei ihrer vier Kinder inhalieren, vier Mal am Tag eine Viertelstunde. Denn Jonas und Lennart, beide Grundschüler, und Kindergartenkind Katharina ringen inzwischen alle nach Luft und leiden unter chronischem Husten. Nur der vor zwei Monaten geborene Jasper blieb bislang verschont.
Familie Köhler hat den Feind ihrer Lungen längst ausgemacht: Es ist das Kohlekraftwerk vor ihrer Haustür, glaubt sie. "Sobald wir in den Urlaub fahren, sind unsere Kinder wieder gesund", sagt Sara Köhler. Wenn die Familie wie jeden Sommer an die Nordsee fährt, bleiben die Inhalationsgeräte zuhause. Wieder zurück in Lünen benötigen alle schon in der ersten Nacht das Akut-Spray, um frei atmen zu können.
Köhlers wohnen in einer Mietwohnung mitten in der Innenstadt. Von jedem Punkt der rot gepflasterten Fußgängerzone sind die bedrohlich hohen Schlote der Industrie gut zu erkennen. In der Luft liegt ein säuerlicher Geruch, wenn der Wind stärker von den Anlagen herüberweht, wird er unangenehm stechend und erinnert an Essigsäure.
"Unsere Stadt macht uns krank", davon ist Sara Köhler überzeugt. Sie ist 30, in Lünen geboren, von zierlicher Statur und hatte selbst als Kind eine nachgewiesene Bleivergiftung, Hustenanfälle und Nasenbluten.
Seit ein paar Wochen ist sie noch wütender auf ihre Stadt. Der kommunale Energieverbund Trianel hat im September den Grundstein für ein zweites, 1,4 Milliarden Euro teures Kraftwerk in Lünen gelegt. "Als ich davon gehört habe, wurde mir schlecht", sagt Sara Köhler. Und ihr Mann Christian ergänzt: "Wir können es nicht mehr mit unserem Gewissen vereinbaren, unsere Kinder leiden zu sehen."
Seit Monaten gehen der 36-jährige Sozialarbeiter und die Pädagogik-Studentin zu Demonstrationen gegen neue Kohlekraftwerke, die älteren beiden Kinder kommen mit auf die Straße. "Wir tun, was wir können, aber es wird wohl nicht reichen."
Denn der Kohlehunger der Energiekonzerne ist groß. Und Befürworter der Industrie sind zahlreich. Die Köhlers und ihre wachsende Bürgerinitiative argumentieren mit ihren Beobachtungen, sie erzählen Geschichten aus dem Kindergarten und der Schule. Eindeutige Zahlen können sie nicht liefern. Es existiert bundesweit keine Studie darüber, wie sich Kohlekraftwerke auf die Gesundheit der Anwohner auswirken können. Für Atomkraftwerke hat im vergangenen Jahr eine Untersuchung des Bundesamtes für Strahlenschutz bewiesen: Das Risiko für Kindern an Leukämie (Blutkrebs) zu erkranken nimmt zu, je näher sie an einem Kernkraftwerk wohnen.
Bei Kohlekraftwerke hingegen werden bislang nur die weitreichenden Folgen für den Klimawandel diskutiert. Was die Menschen betrifft, ist auch die Bundesregierung ratlos. Im Mai dieses Jahres stellte die Grünen-Bundestagsfraktion eine kleine Anfrage zur Zukunft der Kohleverstromung. Sie lautete unter Punkt 16: "Welche aktuellen Studien sind der Bundesregierung bekannt, die die Umwelt- und Gesundheitsbelastung in der Nähe von Kohlekraftwerken untersucht haben?" Die Antwort fiel denkbar knapp aus: "Der Bundesregierung sind keine aktuellen Studien bekannt." Keine aktuellen und auch keine älteren. Auch die Umweltschutzverbände haben das Thema vernachlässigt. "Das Risiko für die Anwohner kam bislang wohl zu kurz", sagt Ralph Kampwirt vom World Wide Fund.
Und so kämpfen die Menschen vor Ort in dutzenden kleinen Bürgerinitiativen, um ein neues Kraftwerk in ihrer Stadt zu verhindern. Sie erregen viel Aufmerksamkeit, denn "die Ängste der Bürger müssen ernst genommen werden", lautet es unisono aus den Stadtspitzen.
Gegen die Werbung und Versprechen der Industrie sind die Initiativen jedoch machtlos. In Krefeld hat eine Bürgerinitiative, angeführt von dutzenden Ärzten, zunächst ein geplantes Kohlekraftwerk verhindert. In der Stadt am Niederrhein stimmten im März 2007 alle Parteien mit Ausnahme der FDP gegen die, wie es damals hieß: "Dreckschleuder" - um dann im Jahr 2008 plötzlich dem "Projekt positiv gegenüber zu stehen", wie es Oberbürgermeister Gregor Kathstede (CDU) heute ausdrückt.
Denn die Kraftwerksbauer ziehen zur Not einfach eine Stadt weiter. Als Krefeld noch ablehnte, warb Hamm am anderen Ende des Ruhrgebiets um den Kraftwerksbau. Arbeitsplätze schaffen die Industrieanlagen zwar nicht viele. In Lünen sollen dauerhaft nur etwa 80 Menschen im Kraftwerk arbeiten. Aber die Städte hoffen auf Folgeaufträge. Und darauf, vom großen Kuchen der Energiekonzerne zu naschen. "Wir wollen den oligopolistischen Markt mit vier großen Spielern aufbrechen", sagte Sven Becker, Chef von Trianel beim ersten Spatenstich für das Werk in Lünen.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich vor wenigen Monaten offiziell für den Bau neuer Werke aus. Geht es nach den großen Energiekonzernen, sollen allein in Nordrhein-Westfalen elf neue Kraftwerke entstehen, bundesweit sind 26 geplant, zum Beispiel in Berlin, Mannheim und Boxberg. 26 neue Kraftwerke bedeuten aber auch Millionen Menschen, die von einem Tag auf den anderen Feinstäube, Quecksilber, Schwermetalle und Dioxin einatmen.
Die Ärzte vor Ort schlagen Alarm. Der Lüner Allergologe Karl Kluge ist einer von ihnen. Er behandelt in seiner Praxis Kinder, die an Asthma leiden, die wochenlang husten, denen das Blut aus der Nase schießt. "Dafür sind die Fabriken verantwortlich", sagt Kluge.
Eigentlich ist der Mediziner vor wenigen Monaten in den Ruhestand getreten, aber die kleinen Patienten lassen ihm keine Ruhe. "In Lünen werden wissentlich unsere Kinder vergiftet", sagt er. Er benutzt gerne drastische Worte, er möchte Alarm schlagen. Früher, als er noch in Süddeutschland praktizierte, hätte er keine vergleichbaren Fälle gehabt.
Aus dem grauhaarigen Arzt mit Brille, Seitenscheitel und Schnurrbart ist inzwischen ein Aktivist geworden. Er hat selbst eine Studie über die kranken Kinder von Lünen erstellt. Auf einer Karte der Stadt hat er alle 847 Patienten verortet, die 2005 ständig von ihm behandelt wurden. 547 von ihnen leiden unter Asthma und Pseudokrupp, die große Mehrzahl von ihnen wohnt in der Windrichtung der Anlagen. "Die Emissionsschutzgesetze sind von Politikern gemacht und nicht von Medizinern", sagt er. Für ihn ist der Zusammenhang zwischen dem intrinsischen Asthma, unter dem seine kleinen Patienten leiden, und den Schwermetallen in der Luft eindeutig: "Die Stäube hemmen die Enzyme, die ansonsten Histamin abbauen. Dieser Botenstoff, der für die körpereigene Abwehr von Fremdstoffen notwendig ist, löst dann im Überfluss Allergien und Asthma aus."
Kluge ist einer von 96 Medizinern in Lünen, die gegen das neue Kohlekraftwerk kämpfen. Auch seine Mitstreiter haben an ihren Patienten überdurchschnittlich viele umweltbedingte Krankheiten entdeckt. "Fast die Hälfte meiner Patienten hat geschwollene Mandeln", erzählt Zahnarzt Ulrich Böhmer. "Diese roten Mandeln mit Eiterstippen können sie in anderen Regionen Deutschlands mit der Lupe suchen." Harte Daten hat auch Zahnarzt Böhmer nicht.
"Wir wissen, dass Luftverschmutzungen Bronchitis, Asthma und Neurodermitis auslösen können", sagt Peter Germann, Industrieexperte des deutschen Berufsverbandes der Umweltmediziner(dbu). Die Gesundheit von Menschen in Industriestädten sei stark angegriffen. Welchen Anteil daran die Kraftwerke haben - zu dieser Frage kann auch Germann nur die Schultern zucken. "Es fehlen bis heute objektive Studien. Die sind aber sehr aufwändig - und bislang hatten weder Politik noch Industrie ein Interesse daran", sagt der im bayerischen Weißenburg praktizierende Arzt nüchtern.
Einzelne Stoffe, die von der Lünener Industrie in die Luft geblasen werden, sind inzwischen besser untersucht. Kinder, die in der Nähe von Edelstahl-Produktionen leben, leiden häufiger an Atemwegserkrankungen wie allergischem Asthma, Bronchitis oder Nasen-Nebenhöhlen-Entzündung, ergab eine Studie im Auftrag des nordrhein-westfälischen Umweltministeriums im Dezember. Untersucht wurden 700 Kinder mit ihren Müttern an den Standorten Krefeld-Stahldorf, Bochum, Witten und Siegen. Damit wurde ein Zusammenhang von belasteter Luft und verstärkten Allergien erstmals bewiesen.
In Lünen selbst fehlt eine solch aufwändige Studie. Entsprechend verunsichert sind die Bürger. "Meine Kinder haben häufig Husten", sagt zum Beispiel Susanne Balduan, die nicht mit ihrem richtigen Namen zitiert werden will. Gerade schiebt sie ihre schlafende zweijährige Tochter, eingepackt in einen rosafarbenen Wintermantel, durch die Fußgängerzone. "Aber ich will nicht spekulieren", sagt sie. Und warum will sie anonym bleiben? Freunde von ihr arbeiteten in den Fabriken, sagt sie.
So vorsichtig reagieren viele Lüner. Für die Kommune, die einst mit dem Slogan "Die Stadt im Industriegebiet" warb, ist die Kritik der Bürger in etwa so schmerzlich, wie es gewesen wäre, hätten die Bürger im Ruhrgebiet früher gegen ihre Zechen demonstriert. Selbstgebastelte Plakate der Initiative "Kontra Kohlekraftwerk" hängen neben den professionell gestalteten Werbeschildern des Energieverbundes Trianel. Polizeiwagen fahren Patrouille und verscheuchen jeden, der die Baustelle betreten will. In der Schule, beim Bäcker ist das Kraftwerk ein ständiges Thema.
"Zwei Kinder konnten an der letzten Klassenfahrt nicht teilnehmen, weil sie Atembeschwerden hatten", erzählt Sara Köhler. Die Rektoren von Lüner Schulen äußern sich zurückhaltender. "Wir haben einige Kinder mit Asthma", sagt zum Beispiel Petra Krüger, Leiterin der Wittekindgrundschule. Aber dies sei "nicht unbedingt" ungewöhnlich, Vergleichszahlen fehlten ihr. Bernd Spelsberg, Rektor der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule bewertet die Situation pragmatisch. "Lünen ist strukturschwach. Da sind immer Arbeitsplätze auf der einen und Schadstoffe auf der anderen Seite."
"Mit dem neuen Kraftwerk haben wir den industriellen Kern unserer Stadt gestärkt", sagt Hans-Wilhelm Stodollick, unabhängiger Bürgermeister von Lünen, mit monotoner Stimme. Die aufgebrachten Vorwürfe einiger Bürger beantwortet der Jurist bürokratisch. "Wir haben alle Vorschriften eingehalten, sonst hätten wir ja keine Genehmigung erhalten", sagt er. Experten hätten qualifizierte Anträge geschrieben, und das Gesundheitsamt hätte sie abgenickt. Alles sei sicher. "Jetzt gibt es einfach unterschiedliche Auffassungen über das Projekt."
Die lokale Presse hingegen ist sich einig: Als Lünen den Zuschlag für das Trianel-Kraftwerk bekam, frohlockten die Zeitungen über die "neuen Arbeitsplätze", den "neuen Schwung für die Stadt". Politiker wurden zitiert, Tenor: Endlich gehe es aufwärts. "Was nützt es Ihrem Kind, wenn es durch einen grünen Wald gehen kann, aber arbeitslos ist?", hat ein Politiker unlängst zu Sara Köhler gesagt.
Auch der SPD-Landtagsabgeordnete Reiner Schmeltzer begrüßt das neue Kraftwerk. "Ich lebe seit meiner Geburt einen Kilometer von einem Kraftwerk entfernt", erzählt der 47-Jährige. Heute sei die Belastung viel geringer als damals. "Als ich Kind war, war unsere Wäsche schwarz und der Himmel niemals blau." Er bestreite ja gar nicht, dass mit dem neuen Kraftwerk auch Schadstoffe entstünden. Aber diese würden sich eher in den Nachbarstädten niederschlagen. Wirklich bedauerlich findet Schmeltzer, von Beruf Fachwirt, die aufgeheizte,unsachliche Stimmung in der Stadt.
Lünen im Winter 08/09. Trotz der hübsch verputzten Fachwerkhäuser hier und da ist der 90 000-Einwohner-Stadt die Krise anzusehen. Die Zechen sind zu, die Arbeitslosigkeit pendelt zwischen 13 und 19 Prozent. Billigläden reihen ihre grellen Resteposten aneinander, am Abend bleiben viele Fenster gespenstisch unbeleuchtet.
Familie Köhler plagen zurzeit wieder andere Sorgen. Die Mandeln ihres zweitältesten Sohnes Jonas sind häufig geschwollen, das lymphatische System angegriffen. Weil schwächere entzündungshemmende Medikamente nicht mehr wirken, inhalieren die Kinder inzwischen Corticosteroide, zu denen auch Kortison gehört. Die Liste der Nebenwirkungen ist lang und reicht von Osteoporose bis zur Nierenschädigung.
Die Köhlers haben sich entschieden: Wenn das neue Kraftwerk wirklich laufen wird, werden sie wegziehen. "Das sind wir unseren Kindern schuldig", sagt Christian Köhler. Auch wenn der Älteste, der neunjährige Lennart, dann seine Schulklasse verlassen und er selbst sich eine neue Arbeit suchen muss.
Freunde von ihnen haben sich bereits aus Lünen verabschiedet und ein Haus in der Müritz gekauft, eine andere befreundete Familie hat gerade erst gebaut und "ist nun total verzweifelt. Alle wollen weg", sagt Christian Köhler. Wohin die sechsköpfige Familie dann auswandert, ist offen. "Es ist schwierig, eine Stadt zu finden, wo nicht bald ein neues Kraftwerk in der Nähe droht."
Quelle: http://www.fr-online.de/panorama/ihnen-stinkt-s/-/1472782/3343612/-/item/0/-/index.html