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Neue Zweifel an der Stromautobahn „Südlink“. WZ vom 29.05.2015

Neue Zweifel an der Stromautobahn „Südlink“. WZ vom 29.05.2015




Neue Zweifel an der Stromautobahn „Südlink“
Energie-Expertin: Für den Atomausstieg brauchen wir die Leitung von Schleswig-Holstein nach Bayern nicht
Berlin/Kiel

Nächsten Monat geht der Atomausstieg weiter: In der zweiten
Junihälfte schaltet der Stromkonzern E.ON sein Kernkraftwerk
Grafenrheinfeld in Bayern endgültig ab. Dann sind neun von einst
siebzehn Meilern in Deutschland stillgelegt und damit mehr als die
Hälfte, inklusive Brunsbüttel und Krümmel in Schleswig-Holstein.
Von den restlichen acht Reaktoren stehen fünf im Süden der Republik –
doch selbst sobald auch die letzten drei Ende 2022 ihre Produktion
eingestellt haben, wird Bayern auf die geplante Stromautobahn „Südlink“
von Wilster in der Elbmarsch verzichten können. Zu diesem überraschenden
Urteil kommt die Energie-Expertin Claudia
Kemfert vom renommierten Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
(DIW). „Das Wohl und Wehe der Energiewende hängt nicht am Südlink“,
sagte Kemfert gestern in Berlin.


Mit ihrer Einschätzung stützt Kemfert den bayrischen
Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der die neue „Südlink“-Leitung zum
Transport von Windstrom nach Süddeutschland wegen Bürgerprotesten am
liebsten ganz verhindern oder wenigstens größtenteils durch die
benachbarten Länder Hessen und Baden-Württemberg führen will. „Wichtig für Süddeutschland ist nicht Südlink“, pflichtet Kemfert dem CSU-Chef nun bei, „sondern dass die Integration des Strommarkts mit Österreich gesichert bleibt.“ Denn dann könnten Bayern und Baden-Württemberg
bei besonders hoher Nachfrage zusätzlichen Strom von jenseits der
Grenze importieren – in der Regel aus Wasserkraft. Und selbst diese
Stromeinfuhr werde nur „in wenigen Fällen“ nötig sein, erklärte Kemfert.
Eine neue innerdeutsche Nord-Süd-Trasse
dagegen sei für den Atomausstieg bis 2022 nicht erforderlich. „Südlink
ist keine Frage für die nächsten zehn Jahre“, sagte die Expertin.
Vielmehr reiche es „später über eine weitere Leitung von Norden nach
Süden auf welcher Strecke auch immer zu reden“, meinte Kemfert: „Das
wird erst relevant, wenn deutlich mehr Windstrom kommt – also nach
2025.“


Dagegen will Netzbetreiber Tennet den „Südlink“ bis 2022
fertigstellen, wie es der Gesetzgeber vorsieht. Zwar sei das ein
„ehrgeiziges Ziel“, räumt Tennet-Sprecherin
Ulrike Hörchens ein. Doch sei der Süden Deutschlands schon bald auf
Strom aus dem Norden angewiesen: „Selbst die konservativsten Prognosen
gehen davon aus, dass Bayern in zehn Jahren ein Drittel seines
Jahresbedarfs nicht mehr decken kann“, sagte Hörchens. Sollte der
Freistaat sich dann auf den Stromimport aus Österreich verlassen,
widerspreche das nicht nur der Logik der deutschen Energiewende, sondern
sei auch riskant: „Bei Engpässen wäre die Frage, ob Österreich nicht
zuerst das eigene Land beliefert.“


Auch der grüne Kieler Energieminister Robert Habeck kritisierte Kemfert.
„Südlink ist und bleibt dringend erforderlich“, sagte er. Das habe die
Bundesnetzagentur mehrfach festgestellt. Zudem könne Bayern den
wegfallenden Atomstrom nicht allein mit Wasserkraft aus Österreich
kompensieren. Vielmehr sei dazu auch Atomstrom aus dem Ausland oder
Kohlestrom nötig. „Ohne Südlink“, sagte Habeck, „gibt es vor allem einen
Verlierer – den Klimaschutz.“Henning Baethge




Seite 2:

"Standpunkt" von Henning Baethge



Die Gunst der Stunde nutzen
Trotz aller Kritik – die „Südlink“-Stromleitung muss kommen
Henning Baethge

Klar, eine Stromleitung hat niemand gern vor seinem Haus. Sie ist
hässlich, macht seltsame Geräusche und verursacht Elektrosmog. Daher ist
es zwar nicht unbedingt besonders verantwortungsvoll, aber doch
verständlich, wenn CSU-Chef Horst Seehofer den Protesten seiner Landsleute gegen die geplante „Südlink“-Trasse zwischen Schleswig-Holstein
und Bayern nachgibt und den Bau neuerdings ablehnt. Dass die große
Koalition die Stromautobahn nach gründlicher Beratung mit ihrer
Bundesnetzagentur ins Bedarfsplangesetz geschrieben hat und für die
parteiübergreifend beschlossene Energiewende für unverzichtbar hält,
macht die Einwände des bayrischen Ministerpräsidenten allerdings
fachlich sehr zweifelhaft.


Etwas anderes scheint es zu sein, wenn jetzt auch das renommierte
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und seine viel gefragte
Energie-Expertin Claudia Kemfert dem bayrischen
Ministerpräsidenten beispringen. Dass Kemfert den Bau des „Südlinks“ für
bis weit ins nächste Jahrzehnt verschiebbar hält, ist überraschend und
hat Gewicht – mehr jedenfalls als Seehofers Drehen seines Fähnleins nach
dem Wind. Denn wenn der Atomausstieg tatsächlich auch ohne eine neue
Stromautobahn möglich sein sollte, warum dann nicht auf die Leitung
verzichten?


Weil sie irgendwann doch kommen muss. Denn Expertin Kemfert hält es
zwar anders als Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel in der Tat für
möglich, „Südlink“ später als 2022 zu bauen. Doch für völlig verzichtbar
hält auch sie nicht die neue Nord-Süd-Trasse
– jedenfalls nicht, wenn Deutschland wirklich bis 2050 mindestens 80
Prozent seiner Energie aus erneuerbaren Quellen gewinnen will. Wenn die
Gleichstromautobahn aber früher oder später sowieso gebaut werden muss,
dann sollte die Bundesregierung lieber gleich loslegen und noch die
Gunst der Stunde nutzen. Denn nicht nur ist die Planung für den
„Südlink“ weit fortgeschritten, sondern auch die Energiewende bei den
Bürgern nach wie vor stark akzeptiert. Wer weiß, wie lange das so
bleibt.