Traurige Geschichte
Eine Geschichte von einem unbekannten Autor:
Wir sind allein im
Zimmer, deine Mutter ist im Obergeschoss des Hauses. Ich mag dich, habe
dich von Anfang an sehr gern gehabt. Ich nehme es dir nicht übel, dass
du oft grob zu mir bist, du bist ja noch klein. Plötzlich findest du
diesen Bürotacker, beginnst damit zu spielen. Du bist ja noch so klein,
so neugierig, willst alles ausprobieren. Du tackerst Papier zusammen,
jauchzt vor Freude. Ganz selten beschäftigt sich jemand mit dir, armes
Kind, das musst du meist selbst machen, sie wollen nur ihre Ruhe haben.
Dann
kommst du auf mich zu, mit dem Tacker in der Hand. Deine kleine
Kinderhand greift nach meinem Schlappohr. Au! Das hat weh getan! Ich
jaule auf, doch du verstehst es nicht. Bist ja noch so klein, für dich
ist es nur ein Spiel. Du greifst wieder nach meinem Ohr, ich will
fliehen, doch wir sind in dem kleinen Zimmer eingesperrt. Du tust es
wieder, wieder jaule ich laut auf, unter dem Schmerz. Du verstehst es
nicht, denkst es wäre ein Spaß, ein lustiges Spiel,
Ich bin dir
nicht böse, du bist ja noch so klein. Du tust es wieder und wieder und
wieder, ich kann dir nicht entkommen. Mein lautes Jaulen schallt durchs
ganze Haus, doch niemand kümmert sich darum. Wo ist deine Mutter? Warum
lässt sie uns so lange allein? Warum hört sie mein Jaulen, meine
verzweifelten Hilfeschreie nicht? Du rennst hinter mir her, drängst mich
in die Ecke, tust es wieder. Wieder jaule ich gequält auf, dieses Mal
noch lauter als zuvor.
Halt endlich die Schnauze, du
Scheißköter", hallt die Stimme deiner Mutter durchs Treppenhaus. Sie
nennt mich immer so, sie mag mich nicht besonders. Eigentlich hat sie
mich nur gekauft, damit du etwas zum Spielen hast und sie in Ruhe lässt.
Sie will immer nur ihre Ruhe haben. Sie mag sich nicht um dich kümmern
und sie mag sich erst recht nicht um mich kümmern. Mein Ohr schmerzt,
doch du lässt nicht von mir ab.
Was soll ich nur tun? Ich will dir
nicht wehtun. Ich weiß, du meinst es nicht böse. Du verstehst es nicht,
weil dir niemand beigebracht hat, dass man Tiere nicht zum Spaß quälen
darf. Niemand hat dir je beigebracht, dass auch ich Schmerzen empfinde.
Wieder spüre ich diesen stechenden Schmerz, er macht mich rasend. Wieder
versuche ich zu entkommen, doch es gelingt mir nicht.
Ich will dir
nicht wehtun, ich liebe dich doch! Aber du hörst nicht auf, jagst mir
eine Klammer nach der anderen ins Ohr. Schließlich kann ich nicht mehr,
halte die Schmerzen nicht länger aus. Ich schnappe nach dir, mein
Fangzahn streift dich an der Wange.
Wir halten beide erschrocken
inne, sehen uns einen Moment in die Augen. Ich wollte dich nicht
verletzen, wollte nur, dass es aufhört. Du greifst dir mit deiner
kleinen Hand an die Wange und als du das Blut siehst, beginnst du zu
schreien. Plötzlich geht alles ganz schnell. Deine Mutter kommt, reißt
dich an sich. Dein Vater kommt, tritt brutal auf
mich ein und
schleift mich ins Auto. Er bringt mich zum Tierarzt. Sofort
einschläfern, der hat mein Kind gebissen", brüllt er aufgebracht.
Der
Tierarzt kennt mich. Er wundert sich, kann kaum glauben, dass ich das
wirklich getan haben soll. Tränen schießen ihm in die Augen, als er die
annähernd 100 Heftklammern in meinem Ohr sieht. Er streichelt mir sanft
über den Kopf, dann greift er zur Spritze. Er muss es tun. Morgen werde
ich die Sonne nicht mehr aufgehen sehen. Aber ich werde berühmt sein.
Auf den Titelblättern aller großen Zeitungen wird mein Foto stehen.
Darüber wird in großen Buchstaben geschrieben sein: Hund zerfleischt
Kind!"
Vielleicht wird die Geschichte sogar im Fernsehen diskutiert.
Viele Men¬schen werden dann entsetzt aufschreien, hitzig diskutieren,
einige werden fordern, dass alle Hunde für immer eingesperrt werden
sollten. Aber niemand wird sagen, was genau geschah, denn das
interessiert nur ganz wenige. Deine Eltern haben es den Medien so
erzählt, und die waren sehr froh darüber. Die Menschen lieben
Geschichten über wilde Bestien. Das bringt gute Auflagen und gute
Einschaltquoten. Das wiederum bringt viel Geld und das lieben die
Menschen noch viel mehr.
Ich habe die Menschen geliebt. Ich habe dich geliebt.