Die neue Weltwirtschaftskrise
Die neue Weltwirtschaftskrise
Von Paul Krugman
2009, 248 Seiten
Take-Aways
Bis 2008 glaubten führende Ökonomen, die Konjunktur im Griff zu haben.
Sie ignorierten zahlreiche böse Vorzeichen aus Asien und Lateinamerika in den
1990ern.
Ob in Mexiko oder Thailand, das Krisendrehbuch war immer gleich: plötzlicher Vertrauensverlust,
sich selbst verstärkende Panikreaktionen, schwere Rezession.
In Japan verpufften geldpolitische Maßnahmen wirkungslos.
Westliche Beobachter machten Korruption und Vetternwirtschaft für die Krisen
verantwortlich.
Sie vertrauten darauf, dass gute Regierungsführung und eine kluge Geldpolitik
jede Rezession im Keim ersticken würden.
Dann platzte die Immobilienblase in den USA und setzte eine beispiellose
Abwärtsspirale in Gang.
Schuld war der Zusammenbruch der Schattenbanken: nicht regulierte Institute, die
hochriskante Wetten eingegangen waren.
Heute haben wir es mit einer weltweiten Nachfrageschwäche zu tun, die an die
Große Depression der 1930er Jahre erinnert.
Keynes damalige Antwort gilt auch heute: Der Staat muss durch Investitionen
Beschäftigung schaffen.
Relevanz
Das lernen Sie
Nach der Lektüre dieses Abstracts wissen Sie: 1) wie es zur globalen Wirtschaftskrise
kam, 2) warum so viele Warnungen ungehört blieben und 3) was zu tun ist, um den
Konjunkturmotor neu zu starten.
Empfehlung
An den Finanzmärkten ging es in den Jahren vor der Krise wie in einem Kasino zu:
Immer mehr Menschen drängten an die Spieltische, in der Hoffnung, mühelos zu Geld
zu kommen. Am Ende begriff niemand mehr, warum es fast nur Gewinner zu geben
schien, geschweige denn, wie die Spielregeln lauteten. Nur eines war anscheinend bombensicher:
Eine zweite Große Depression würde es nie mehr geben. Schließlich hatte
man ja aus den Fehlern der ersten gelernt, oder? Ganz und gar nicht, rief Paul Krugman
schon 1999 aus der Wüste und warnte in der ersten Aufl age dieses Buchs vor westlicher
Selbstgefälligkeit. Und siehe da, der prophezeite Schlamassel trat ein. Grund genug, die
erweiterte Neuauflage zu lesen. Außerdem ist Krugmans Talent, komplexe ökonomische
Zusammenhänge verständlich zu machen, nach wie vor unerreicht. Kapieren geht vor
reformieren, findet getAbstract und legt das Buch allen ans Herz, die begreifen möchten,
wie wir uns derart verspekulieren konnten.
Der große Trugschluss
Das zentrale Problem der Depressionsvermeidung ist in jeder praktischen Hinsicht
gelöst, sagte der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Lucas 2003, und seine Zuhörer
nickten anerkennend. Der Sozialismus hatte auf ganzer Linie versagt, der Kapitalismus
triumphal gesiegt, und am Wirtschaftshimmel schien, abgesehen von kurzen Konjunkturtiefs,
meistens die Sonne. Tatsächlich erlitten jedoch viele asiatische Länder, allen
voran Japan, in den 1990ern depressionsartige Zustände. Auch in Lateinamerika kam es
zu Krisen, die hellhörig hätten machen müssen. Die Wirtschaftsblätter schrieben gerade
über die vermeintliche Erfolgsgeschichte der Region, als 1994 in Mexiko die Tequila-
Krise ausbrach. Was war geschehen? Ehrgeizige Reformen hatten riesige Mengen ausländischen Kapitals ins Land gelockt, doch das erhoffte Wachstum blieb aus. Teure
Wahlgeschenke ließen die Devisenreserven schwinden. Die Regierung entschied sich
für eine Abwertung des Peso um 15 %. Die Folge war eine massive Kapitalflucht, der
Peso fiel ins Bodenlose, die Wirtschaft schrumpfte um 7 %. Mexiko hatte zwei wichtige
Regeln missachtet: Wenn die Wirtschaft angekurbelt werden soll, indem Exporte
billiger gemacht werden, muss eine Abwertung deutlich ausfallen, um zu signalisieren,
dass nicht mehr zu erwarten ist. Und: Die Regierung muss Vertrauen schaffen, um Panikreaktionen
zu vermeiden.
Auch Argentinien galt als wirtschaftspolitisches Musterland. Zur Inflationsbekämpfung
hatte es den Peso eins zu eins an den Dollar gebunden. Mit Ausbruch der Tequila-
Krise begannen ausländische Investoren an der Sicherheit ihrer Einlagen zu zweifeln
und forderten ihre Kredite zurück. Dies setzte ein Teufelskreis aus Kreditknappheit
und Bankenstürmen in Gang. Der US-Währungsausgleichsfonds stellte Dollarkredite
für Mexiko, die Weltbank ebensolche für Argentinien zur Verfügung. Innerhalb weniger
Monate erholten sich beide Volkswirtschaften, und die Sache war schnell vergessen.
Leider stellte niemand die Frage, wie vergleichsweise geringe Fehler derart verheerende
Auswirkungen hatten zeigen können.
Japans Tragödie
In den späten 80er Jahren entstand in Japan eine enorme Immobilien- und Aktienblase.
1991 ging ihr die Luft aus allerdings nicht mit einem Knall, sondern einem lang gezogenen
Seufzer. Die Wirtschaft wuchs zwar, aber zu langsam im Vergleich zu den Kapazitätssteigerungen.
Japan befand sich in einer Wachstumsrezession. Die Ursachen für
das Desaster lagen in dem ökonomischen Prinzip der Verführung zum Risiko. Es charakterisiert
Situationen, in denen Menschen hohe Risiken eingehen und in guten Zeiten
dicke Gewinne einstreichen, aber die negativen Folgen ihrer Handlungen nicht ausbaden
müssen. In Japan war es am Ende kinderleicht, sich ohne Sicherheiten Geld für riskante
Geschäfte auszuleihen. Wenn es schiefgeht, so das Kalkül, würde der Steuerzahler dafür
aufkommen. Das musste er dann auch.
Das Beispiel einer Babysitting-Kooperative erklärt auf anschauliche Weise, was bei
einer Rezession passiert. Etwa 150 beteiligte Paare erhalten für jede Stunde, die sie
auf die Kinder anderer aufpassen, einen Coupon, den sie ihrerseits für den Babysitting-
Service einlösen können. Die Babysitter beginnen, Coupons zu horten. Die Nachfrage
nach Kinderbetreuung sinkt und die im Umlauf befi ndlichen Coupons gehen zurück.
Die Verwaltung der Kooperative reagiert auf diese Situation, indem sie den Teilnehmern
gestattet, sich Coupons auszuleihen, die sie später zurückzahlen müssen allerdings zu
einem gewissen Preis, einem Zins, wenn man so will: Es müssen mehr Coupons zurückgezahlt
werden, als man sich ausgeliehen hat. Dadurch gelangen wieder mehr Coupons
in Umlauf. Genauso handelten die Zentralbanker in Japan: Sie warfen die Druckerpresse
an allerdings ohne großen Erfolg. In einer Babysitting-Kooperative wie in der übrigen
Wirtschaft schwanken Angebot und Nachfrage nach Coupons saisonal. Im Winter
bleiben die Leute lieber zu Hause, im Sommer gehen sie eher aus. Um Schwankungen
auszugleichen, müssen die Entleihbedingungen, sprich: die Zinsen, angepasst werden.
Tatsächlich sanken die Zinsen in Japan gegen null. Doch das Land befand sich im Würgegriff
der Defl ation, d. h. langfristig fallender Preise. Für die Kooperative hieße das,
dass im Winter gehortete Coupons im Sommer noch mehr wert sind. Warum sollte man
unter diesen Bedingungen in der kalten Jahreszeit ausgehen? Die Erkenntnis daraus:
Eine leichte Infl ationserwartung kann für angeschlagene Volkswirtschaften sehr heilsam
sein.
Die Asienkrise
In Thailand begann der Boom später als in vielen anderen asiatischen Ländern, dafür
fi el er aber umso heftiger aus. Ausländisches Kapital fl oss mit beängstigender Geschwindigkeit
ins Land und verursachte eine enorme Kredit- und Spekulationsblase. Um Thailands
Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, hielt die Regierung den Wechselkurs des Baht
künstlich niedrig. Anfang Juli 1997 sah sie sich nach spekulativen Attacken gezwungen,
die Wechselkurse freizugeben. Der Wert des Baht fi el im Vergleich zum Dollar um 50 %.
Die Währungspanik ließ das Vertrauen der Anleger schwinden und setzte die bekannte
Abwärtsspirale in Gang. Binnen kurzer Zeit erfasste das Virus die ganze Region. Die
Ansteckung erfolgte weniger über realwirtschaftliche Verfl echtungen als vielmehr über
globalisierte Finanzströme der so genannten Schwellenländerfonds: Schlechte Nachrich-
ten für Thailand bedeuteten einen Vertrauensverlust auch für Malaysia, Indonesien und
sogar für das viel wohlhabendere Südkorea. Die Krise nahm also zuerst in den Köpfen
der Investoren Gestalt an, bevor sie wirklich eintrat. Westliche Beobachter schoben die
Schuld auf Korruption und Vetternwirtschaft in Asien und übersahen die Bedrohung
vor der eigenen Haustür.
Die keynesianische Theorie
Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise sahen viele die freie Marktwirtschaft als gescheitert.
John Maynard Keynes war nicht dieser Ansicht, er glaubte aber, dass ein Fremdstart
durch die Regierung erforderlich sei, um den Wirtschaftsmotor wieder in Gang zu
bringen. Für Länder wie Kanada, die USA und Großbritannien hat sich die keynesianische
Theorie bewährt. Eine adäquate Zins- und Investitionspolitik verwandelte milde
Rezessionen schnell in Boomzeiten. In den Krisenländern der 90er Jahre aber hat die
Theorie versagt. Moderate Währungsabwertungen lösten einen katastrophalen Vertrauensschwund
aus, der das befürchtete Krisenszenario erst recht wahr werden ließ. Umgekehrt
führte allein die Angst vor dem Vertrauensverlust in vielen Dritte-Welt-Ländern
zu unsinniger Politik. Ein Beispiel hierfür ist Brasilien, das bei einsetzender Rezession
auf Rat der USA und des Internationalen Währungsfonds eine restriktive Geld- und
Steuerpolitik betrieb. Das Ergebnis war 1999 eine schlimme Rezession.
Die Rolle der Hedgefonds
Es sieht fast so aus, als gäbe es für Entwicklungsländer gar keine glückliche Lösung.
Das bedeutet jedoch nicht, dass es während der Finanzkrisen jener Zeit keine Schurken
gab. Die Macht einzelner Marktteilnehmer, insbesondere der Hedgefonds, wurde lange
unterschätzt. Diese nutzen die Marktschwankungen aus, indem sie auf sinkende oder
steigende Kurse spekulieren. Bei einer so genannten Baisse-Spekulation leiht sich der
Fondsmanager eine Aktie mit dem Versprechen, sie zu einem bestimmten Zeitpunkt
zurückzugeben. Er verkauft sie zwischenzeitlich, investiert das Geld anderweitig und
hofft, dass die Aktie beim Rückkauf, den er ja tätigen muss, weniger wert sein wird. Geht
alles gut, winken große Gewinne. Wenn nicht, ist der Anleger angeschmiert. Hedgefonds
werfen mit Geld um sich, das ihr Einlagekapital um ein Vielfaches übersteigt, und
sie haben die Macht, Märkte zu bewegen.
Die Schattenbanken
Die Geschichte des Bankwesens ist voll von periodisch wiederkehrenden Krisen infolge
von Bankenstürmen. Sie treten ein, wenn alle Einleger einer Bank ihr Geld auf einmal
zurückverlangen. Um das System gegen solche und andere Krisen zu wappnen, wurde
es reguliert. Man zwang die Banken u. a., bestimmte Kapitalreserven zu halten. Nach
der Großen Depression kam es in den USA zu weiteren Sicherheitsmaßnahmen: Nur
stark regulierte Depositenbanken durften Einlagen entgegennehmen, Investmentbanken
jedoch nicht. Dies führte allerdings zur Bildung eines Schattenbankensystems. Weil die
kaum regulierten Investmentbanken weit bessere Renditen boten, wuchsen sie unverhältnismäßig
stark. Sie boten Produkte an, bei denen alle zu gewinnen schienen. Ein
Beispiel sind die Auction-Rate-Security-Papiere von Lehman Brothers: Einzelpersonen
liehen dem Institut langfristig Geld. Jede Woche veranstaltete es eine Auktion, bei der
jeder dieser Leihgeber aussteigen und sein Geld zurückerhalten konnte, wenn es nur
genügend Bieter gab, die einsteigen wollten. Das Verhältnis zwischen Ein- und Aussteigern
bestimmte den variablen, relativ hohen Zinssatz. Anfang 2008 waren 400 Milliarden
Dollar in dem System gebunden. Dann gab es plötzlich nicht mehr genügend Bieter,
eine Auktion nach der anderen scheiterte und die Einleger wollten ihr Geld zurück. Das
Ganze war im Grunde nichts anderes als eine Serie von Bankenstürmen. Mit einem
Unterschied: Die Einlagen waren nicht gesichert.
Die neue Krise
Während der Immobilienblase wurden Kredite vergeben, von denen die Gläubiger
wussten, dass die Schuldner sie nie würden zurückzahlen können. Solange die Hauspreise
anzogen, war das kein Problem. Doch im Herbst 2005 begann die Blase, langsam
Luft abzulassen. 2007 wurde es unmöglich, zweitklassige Subprime-Häuserkredite in
Finanzprodukte umzuverpacken und sie wie zuvor in der ganzen Welt zu verkaufen. Der
Zusammenbruch der Schattenbanken löste dann die eigentliche Krise aus. Konservativ
geführte Fonds verloren durch das Desaster mit den Subprime-Krediten an Vertrauen
und zogen ihre Mittel ab. Dies setzte einen Teufelskreis in Gang, der immer weitere
Vermögensverkäufe zu immer niedrigeren Preisen erzwang und Kapital dahinschmelzen
ließ wie Butter in der Sonne. Die Finanzmärkte spielten verrückt. Die Fed senkte die
Zinsen von 5,25 % gegen null und steigerte die direkten Ausleihungen an die Banken von
beinahe null auf über 400 Milliarden Dollar. Anders als in früheren Krisen fehlte diesen
Maßnahmen aber der nötige Biss. Warum? Weil die herkömmliche Geldpolitik bei den
Schattenbanken versagt.
Binnen kurzer Zeit weitete sich die Krise aus. Die Globalisierung des Finanzwesens in
den vergangenen Jahren hätte dieses Risiko durch die vielen wechselseitigen Beteiligungen
eigentlich verringern sollen. Wenn ein Land in die Rezession schlitterte, so die Idee,
könnte man sich auf Investitionen in anderen Ländern verlassen. Doch ein Großteil dieser
grenzübergreifenden Investitionen war hochriskant. Die Pleite von Lehman Brothers
brachte schließlich alle Kreditfl üsse zum Versiegen, die Währungen der Schwellenländer
sackten ab und eine sich selbst verstärkende Panik machte sich breit. Die amerikanische
Finanzkrise ist zur globalen geworden. Und die Politik scheint machtloser denn je.
Ein Plädoyer für Keynes
Niemand hätte bis vor Kurzem geglaubt, dass eine globale Nachfrageschwäche heute
noch möglich sei. Die Welt vertraute in die Fähigkeiten der Zentralbanker, Konjunkturschwächen
durch Zinssenkungen wegzubügeln. Ein Irrtum. In dieser Krise kommt
es kurzfristig auf zwei Dinge an: Kredite müssen wieder fl ießen und die Menschen
müssen sich wieder trauen, Geld auszugeben. Die Regierungen weltweit sollten ihre
Maßnahmen koordinieren und strauchelnde Banken rekapitalisieren, selbst wenn dieser
Schritt auf eine zeitlich begrenzte Teilverstaatlichung des Systems hinausläuft. Außerdem
müssen die Staaten in ihre Infrastruktur investieren, Beschäftigung schaffen und
so die Nachfrage wieder beleben. Es ist an der Zeit, die Lehren der Großen Depression
wieder zu beherzigen: Was in schlechten Zeiten eine staatliche Rettung verdient, muss
in guten Zeiten reguliert werden.
Über den Autor
Paul Krugman lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Princeton University und gilt als
einer der einfl ussreichsten Ökonomen unserer Zeit. In seinen Büchern und Kolumnen
macht er komplexe ökonomische Zusammenhänge einem breiten Publikum verständlich.
2008 erhielt er den Wirtschaftsnobelpreis. Er ist auch Autor der Bücher Der große Ausverkauf
und Der Mythos vom globalen Wirtschaftskrieg.
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