Flutwelle: Der Natur Schuld zu geben, ist bequem
© Tages-Anzeiger; 30.12.2004 Seite 45
Der Natur Schuld zu geben, ist bequem
Schmerz, Leid, Mitgefühl nach der Flutkatastrophe in Südostasien sind gross. Allerdings macht sich auch ein bequemes Denken breit. Wir reden von Naturkatastrophe, statt nach unserer Verantwortung zu fragen. Von Wolf R. Dombrowsky. Wolf R. Dombrowsky ist seit 2002 Leiter der Katastrophenforschungsstelle der Universität Kiel.
So radikal wurde die Weihnachtsbotschaft selten widerlegt: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen . . . Tausende Quadratkilometer fielen in Trümmer, begruben Menschen, Hoffnungen, Lebenspläne. Ungeahnt findet die Hölle im Paradies statt. Ganz buchstäblich waren es Ferienparadiese. Zehntausende Touristen aus wohlhabenden Ländern wollten Sonne und Erholung tanken in Regionen dieser Welt, die dafür wie geschaffen scheinen: Palmen, Strand, Romantik, Exotik - und durchaus auch Erotik. Der Speer der Ausbeutung ist unendlich lang, Menschenhandel, Prostitution und Sex mit Minderjährigen ist nur die blutige Spitze. Davor liegen harmlosere Träume. Träume von zierlichen Körpern, von Anmut, von ungekannter Freundlichkeit und Sanftmut, von tropischen Früchten und Meeresrauschen. An diesen Segnungen möchte man gesunden vom Stress und den Sorgen heimischer Erwerbskonkurrenz.
So liegt denn die Vermarktung nahe und auch die Versuchung, das Paradiesische mit Bestmargen zu verramschen. Billigflüge, billige Arbeitskräfte vor Ort, kaum Auflagen, weder im Umweltschutz noch im Arbeitsschutz, dafür alles All-Inclusive für die Gäste. In gewisser Weise profitieren alle davon, auch die Gastgeberländer, wenngleich das Pfund, mit dem sie zu wuchern suchen, mit jeder Saison mehr verwelkt und herabsinkt in den Einheitsbrei des Massentourismus, wie er heute schon andernorts langweilt oder gar abstösst.
Nähert man sich der Katastrophe auf diese Weise, lässt sich nicht mehr ungebrochen von Tsunami sprechen. Denn was hier traf und das Paradies bereits vor dem Verfallsdatum der Totalvermarktung ins Unglück stürzte, waren Gier, Unvermögen und Dummheit. Dies klingt hart, hämisch gegenüber den Betroffenen - und doch stösst es mit aller Härte auf einen Zusammenhang, den wir durch die Art und Weise, wie wir landläufig über Katastrophen reden, um nichts auf der Welt sehen wollen: über unsere individuelle Mitverantwortung am kollektiven Schicksal unserer Welt.
Da fragt die «Bild-Zeitung» lieber scheinheilig: «Warum tut uns die Natur das an?» («Bild» vom 28. 12.) und verkehrt Täter zu Opfern. Fragte man anders, müsste man Konsequenzen ziehen. Warum nahm man in den jetzt betroffenen Ländern die Seebebenmeldungen der internationalen Messnetze und deren Lokalisation des Epizentrums nicht wahr? Warum verstrich die lange Vorwarnzeit (von bis zu vier Stunden je nach Laufzeit der Welle) ungenutzt? Warum gibt es in den meisten der
betroffenen Länder überhaupt kein Warnsystem und keine Evakuierungsplanung - weder für die Bevölkerung noch für die mit Land und Leuten unvertrauten Touristen? Warum tun alle Verantwortlichen so, als hätte man über die Erdbebengefährdung dieser Region nichts gewusst? Warum verfügen nicht einmal die Grossen der Tourismusbranche über eine interne Katastrophenplanung, zumal sie nicht nur über moderne Telekommunikation und Internet verfügen, sondern auch das einschlägige Knowhow kennen sollten, wie es Thomas Drabek 1995 der globalen Tourismus-Industrie ins Stammbuch geschrieben hat («Disaster Response Within the Tourist Industry», Int. Journal of Mass Emergencies and Disasters 13: 7-23)?
Nein, da ist ein Denken à la «Bild» viel bequemer und vor allem frei von Anstrengung. Man muss sich nicht kümmern, nichts organisieren, nichts vorbereiten und vor allem keine störenden Fragen beantworten. Ein Tourist, der nichts fragt, ist viel angenehmer als so ein Querkopf, der wissen will, wo der Feuerlöscher hängt, wo der Sammelplatz für die Evakuierung ist und wie man mit den Reisedokumenten verfahren soll. Und welcher Tourist will sich die Unbeschwertheit des Paradieses mit einem ID-Umhänger oder -Armband vergällen, die durch Blutgruppe, Arzneibedarf, Impfdaten und Passnummer an Hinfälligkeit und Tod erinnern?
Und wer von den Einheimischen will an derartige Gefahren denken, gar darüber sprechen, wenn er durch die Vermarktung seines Paradieses endlich ein wenig Geld verdienen kann, eine Anstellung findet oder sogar eine Existenz gründen kann? Da träumt es sich lieber in eine andere Richtung, in einen kleinen Wohlstand, eine Zukunft für Familie und Kinder, ein Tor hinaus aus einem Leben ohne Dusche, WC und Leitungskomfort. Das Paradies dort träumt sich als unser Leben hier . .
Man muss also über Angebot und Nachfrage sprechen, über Austausch, über Bedarf und Bedürfnisse und deren Befriedigung, kurz: über globale Ökonomie. Die Katastrophe traf so genannte Schwellenländer und weniger entwickelte Länder; Ökonomien mithin, die von Rohstoffen, Vorprodukten und der Verwertung natürlicher Ressourcen leben. Menschen gibt es dort so reichlich, dass es darauf nicht ankommt - ökonomisch gesehen. Aber auch aus sozialer und emotionaler Perspektive wird anders und um anderes gelitten. In Indien sind Frauen und Mädchen nicht viel wert, fällt dagegen der Mann als Ernährer weg, droht der Abstieg in Bettelei und Obdachlosigkeit. Verstümmelung und Krankheit gelten in der gesamten Region als Stigma, sie verhindern jede Anstellung wie auch eine Ehe.
Die Überlebenden werden ihr Schicksal verfluchen. Der Unterschied zwischen Makro- und Mikroökonomie ist unüberbrückbar. Letztlich haben wir es mit einer Katastrophe der kleinen Leute zu tun, die als Saison- und Wanderarbeiter teils im Tourismus, teils in der Agro-Industrie (Plantagen, Holzindustrie) ein Auskommen suchen, von dem zumeist ganze Grossfamilien oder Clans abhängen. Wir haben es mit einem beginnenden Mittelstand innerhalb des tertiären Sektors zu tun, mit Kleinhändlern, Imbiss- und Restaurantbetreibern, Schmuck- und Kleidermachern, Ladenbesitzern, Handwerkern. Sie siedeln um die Hotels und Touristengettos, zumeist einfach bis primitiv, weil sie ihr Geld in Waren, Material, Werkzeuge und ein bisschen heimische Ausstattung stecken. Dies alles ist dahin; die meisten stehen wieder vor dem Nichts, wenn es schlimm kommt, vor Schulden, und wenn es ganz schlimm kommt, vor dem Verlust von Angehörigen und damit von Arbeitskraft und Zukunft.
Die Makroökonomie ist davon beinahe unberührt. Die Hotelketten gehören ohnehin ausländischen Investoren und sind versichert; die Kettenglieder, die sich in die Weltwirtschaft einfügen, sind nirgendwo gerissen. Weder sind Häfen oder Anlagen zerstört, noch ist überlebenswichtige Infrastruktur vernichtet. Ein paar Strassen und Schienen wurden unterspült, Kommunikationsnetze unterbrochen, doch wird dies sehr schnell behoben sein. Vielleicht werden im Tourismus die Buchungszahlen für ein oder gar zwei Jahre zurückgehen, doch zeigen die Erfahrungen aus anderen Weltgegenden, dass sich nur Kundensegmente verschieben und «Mitnahmeeffekte» eintreten: Um wieder ins Geschäft zu kommen, wird übergangsweise billiger angeboten, was Klasse durch Masse ersetzt und mittelfristig die Verramschung des Paradieses beschleunigt. Und weil die Masse eher auf All-Inclusive giert, bleibt die Kaufkraft viel stärker in den Ökonomien der Hotelketten hängen, sodass letztlich nur die Ökonomie der kleinen Leute leidet. Die Katastrophe verhindert damit vor allem die Herausbildung eines Mittelstandes, während die Makroökonomien der betroffenen Länder mit «business as usual» fortfahren werden.
Und weil durch diese absehbare Schraube die Gewinnmargen in der Tourismusbranche erst einmal sinken, steigt der Zwang, die Möglichkeiten zu nutzen, die die saisonal bedingten Zeitfenster erlauben. Also werden die Bettenkapazitäten gesteigert, wird Natur zersiedelt, wird herangerückt an das, was Ausländer für paradiesisch halten, und wird gespart, wo es nur geht - eben auch an Schutz, an Prävention, an Information und Planung. Wir haben ja unsere bewährten Ausreden von der N a t u r katastrophe und der vorgeblichen Unabsehbarkeit eines Handelns, dessen Konsequenzen wir nicht wahrhaben wollen. Herr, unsere tägliche Katastrophe gib uns heute!