Das Reich Engelsfluegel - Mein Leben

Lebensgeschichte

Lebensgeschichte

Dann spucke ich auf Mutters Grab
Wo war Gott, als Monjas Seele zerbrach?

Wie viel seelischen und körperlichen Schmerz kann ein Mensch ertragen und trotzdem weiterleben? Die Geschichte einer jungen Frau, die die Hölle in dieser Welt erlebt hat und nicht aufgibt, nach einem Sinn zu fragen.

Von Sibylle Sterzik

An der Straße gegenüber dem Café sägt ein Mann morsche Äste vom Baum. Krachend fallen sie zu Boden. An ihrer Stelle sollen im Frühling neue Triebe wachsen. Das hofft auch Monja, die ihr Leben entrümpelt.
Die 35-jährige psychisch kranke Frau möchte loswerden, was sie kaputt macht. Sie schiebt den Ärmel ihres rosa Pullis zurück. Unterhalb ihres Handgelenks zeigt sie auf mehrere Narben. Mit Glasscherben ritzte sie sich die Haut. Ohnmächtige Wut, die ihrer Mutter gilt, richtete sie gegen sich selbst. Schlimmer noch schmerzen unsichtbare Narben von unsäglichen Kinderqualen. "Ich hasse dieses Leben, aber ich gebe nicht auf."

Ich bin mir keiner Schuld bewusst
Die Angst sitzt tief, der Hass hat sich eingegraben. Niemand darf ihr zu nahe kommen. Niemals wieder lässt sie jemanden so dicht an sich heran.
Wie diese Frau, ihre ärgste Peinigerin. "Ich wünsche mir jeden Tag, dass meine Mutter stirbt. Dann gehe ich hin und spucke auf ihr Grab." Mit fester Stimme sagt sie das. Sie muss sich dafür nicht schämen, das weiß sie. Die Mutter hat Monja beinahe umgebracht. Den kleinen Körper mit Fäusten und Gegenständen malträtiert, die Seele zertrampelt, an den Stiefvater ausgeliefert. "Dass ich noch hier sitze, ist eigentlich ein Wunder", sagt sie. "Irgendwas hat mich überleben lassen. Eine unsichtbare Kraft hält mich."
Ihre Mutter will sich umbringen, als sie 1968 mit ihr schwanger ist. "Ich war nicht gewollt", sagt sie. An Monjas vierten Geburtstag trennen sich ihre Eltern. Dreimal heiratet die Mutter wieder. Franz, der zweite Stiefvater, legt sich zu Monja in die Badewanne, als sie noch nicht mal zehn ist. "Ich hatte die Tür nicht abgeschlossen", erzählt die junge Frau, als müsste sie sich rechtfertigen.
Er zwingt sie, sein Geschlecht zu berühren, bis er genug hat. Seine Finger steckt er ihr zwischen die Beine. "Wenn du Mutti was erzählst, bringe ich dich um", droht er. Monja erinnert sich nicht mehr, wie oft er zu ihr kam.
"Ich hab im Schlafzimmer auf Franz gewartet, während er mit Dir rumgemacht hat", wirft die Mutter ihr eines Tages vor. Der Boden wankt unter ihren Füßen. Woher weiß sie das? Wieso ist sie nicht eingeschritten? "Ich war ihr egal." Bis heute hämmern diese Fragen in ihrem Kopf. Niemand antwortet. Der Kontakt zur Mutter ist abgebrochen. "Ich bin mir, was euch betrifft, keiner Schuld bewusst", schrieb sie an die drei Jahre jüngere Schwester. Monja weiß, die Mutter wohnt noch wie damals in Berlin-Neukölln.
Bruchstücke jahrelanger täglicher Pein tauchen auf wie unter Wasser gedrückte Eisschollen. Einmal fährt die Mutter drei Tage weg. Die Kinder lässt sie allein in der Wohnung zurück, ohne Essen. "Wir haben Rotkohl aus einem Glas gegessen."
Eine Freundin der Mutter ruft die Polizei. "Ihr hättet nicht ans Telefon gehen dürfen", schimpfte die Mutter sie hinterher aus. Tagelang straft sie die Kinder mit Schweigen.
Eines Nachmittags macht Monja Hausaufgaben. Die Mutter will, dass sie die Küche putzt. Monja weigert sich, ein Unwetter bricht los. Sie liegt auf dem Rücken, die Mutter sitzt auf ihr, schlägt mit Fäusten auf sie ein. Ein anderes Mal saust eine Pferdepeitsche auf ihrem Rücken nieder. Die Mutter schleudert sie mit dem Kopf gegen die Wand, schleift sie durch die Küche, wirft mit einem Vogelkäfig nach ihr, in dem noch der Vogel sitzt. Sie greift nach einer Schublade, schlägt auf den Kinderarm, der blutet. Dann sperrt sie die Tochter im Kinderzimmer ein. In der Schule entdeckt eine Mitschülerin ihre Wunde.
Der Direktor der "Schule am Hasenheger Weg", einer Sonderschule für Lernbehinderte, die sie besucht, ruft die Polizei. Zwei Beamte kommen und fotografieren. Das Mädchen muss sich ausziehen, sich zeigen: die Striemen, Narben, blauen Flecken, die offene Wunde. Wohin jetzt? Monja darf wählen. Aus Angst vor der Mutter, die sie nicht ziehen ließe, geht sie zurück in die Hölle.
Eines Tages steht der Jugendamtsleiter vor der Tür. Monja weint, hat Angst und muss doch mit, zwangsweise. Eine Odyssee beginnt durch Unterkünfte des Kindernotdienstes und Kinderheime. Das Mädchen ist verstört, gilt als schwer erziehbar, befolgt Regeln nicht, räumt nicht auf und kommt in der Schule nicht mit. Sie erkrankt an Tuberkulose, muss ins Krankenhaus.
Und immer wieder: nach Hause. "Wäre ich früher weggegeben worden, wäre es besser für mich gewesen", sagt sie heute.
Als sie zwölf war, zwingt sie ein Junge aus ihrer Klasse, ihn sexuell zu berühren. Sie kann sich nicht wehren, zieht niemanden ins Vertrauen. Einzig ihre Gefühle zu verbergen, hat sie gelernt. Sie will ein Ende machen. Läuft irgendwo auf Bahnschienen entlang. "Mir fehlte der Mut. Vielleicht sah ich auch nicht ein, dass das mein Leben gewesen sein soll."

Jürgen Fliege bringt die Wende
Mit fünfzehn kommt Monja ins Kinderheim Sonnenschein in R. bei Lübeck - weit weg von Berlin. Das Jugendamt strengt einen Prozess gegen die Mutter an. Vor Gericht muss Monja aussagen, was furchtbar ist. Die setzt ihr zu: "Sag, Leute auf der Straße hätten dich geschlagen."
Ob die Mutter verurteilt wurde, weiß sie nicht. "Ich glaube, sie ist wegen mir ins Gefängnis gekommen." Wegen mir. Schuldgefühle plagen sie. 1990 wird sie aus der Heimbetreuung entlassen, bezieht eine eigene Wohnung. Sechs Jahre lebt sie in abgedunkelten Räumen, die Vorhänge zugezogen. Sie isst kaum, wäscht weder Wäsche noch Geschirr. Essensreste, Teller, Kartons, Papier türmen sich. Die Zimmer verwandeln sich in stinkende Müllhalden. Sieben Monate schläft sie auf einer Matratze im Flur. Äußerlich wirkt sie sauber, doch ihre Wohnung verrät, wie sie sich innerlich fühlt: schmutzig, wie Dreck. "Ich stieg über den eigenen Müll drüberweg und alles war mir egal. Ich hatte keine Kraft mehr, irgendetwas zu tun." Zweieinhalb Jahre lässt sie niemanden in die Wohnung, lebt von einer Erwerbsunfähigkeitsrente.
Und immer die Angst, die Wohnungstür zu öffnen. "Ich war stadtbekannt, die Nachbarn redeten über mich. Aber niemand fragte, ob er helfen könne."
Jürgen Fliege bringt die Wende. Monja ruft ihn 1996 während eines Telefonforums an. Ihr Mut wird mit Glück belohnt, sie kommt durch und erzählt. Der Fernsehpfarrer verständigt den damaligen Ortspfarrer P. in R.. Dessen Frau hilft Monja.
Jeden Abend klingelt sie bei ihr, holt die Müllbeutel ab, die Monja tagsüber füllt. "Innerhalb von drei Wochen kamen 30 blaue Säcke Müll, 20 Kisten Altpapier, 20 Säcke mit Kleidung und noch mal sechs gelbe Müllsäcke zusammen", notiert sie, und: "Endlich konnte ich wieder in meinem Bett schlafen. Ich habe es ganz allein geschafft."
Woher sie die Kraft nimmt, weiß sie nicht. Vielleicht ist das Gottes Wille gewesen, denkt sie. "Ich sollte das alles erleiden, um anderen helfen zu können." Frauen, die Ähnliches erlebten, ist sie eine geduldige Zuhörin. "Weil ich weiß, wie das ist, kann ich anderen viel geben."
Fünf Jahre später zieht sie zurück nach Berlin. Fühlt sich einsam in der großen Stadt. Nähe kann sie schwer aushalten und sehnt sich doch so danach. "Ich werde es nie zulassen können, dass mir ein Mann wirklich nahe kommt. Das macht mich zornig. Ich hasse die Menschen, die mir angetan haben, dass ich heute kein Vertrauen haben kann." Fast unmöglich für sie, einen Gottesdienst zu besuchen. In den Dom geht sie gern, aber nur, wenn ringsherum alles leer ist. Manche Tage versinken in Tränen. "Dabei bin ich ein fröhlicher Mensch."
Monja ist getauft, "Evangelisch" steht im Pass. Pastor P. in R. half ihr und enttäuschte sie. Sie schrieb ihm vom Missbrauch. Er reagierte nicht.
"Es hätte ihn zu sehr belastet, sagte er mir später." Kirchengemeinden bleiben ihr fremd. "Christliche Menschen leben in einer heilen Welt." Eine Lebenslüge, wie Monja denkt. "Böses wird draußen gelassen. Das Elend existiert nicht. Gott wird überall entschuldigt.
Das Böse macht nicht er, sondern der Mensch." Auf die Erde sollte er kommen und Rede und Antwort stehen. "Aber er kann nicht, er ist zu weit oben. Er muss die ganze Welt überblicken." Bei der Domseelsorge wollte eine Frau für sie beten. Aber das Vaterunser schmerzt in ihren Ohren. Wo war denn Erlösung? Wo war Gott, als das alles geschah?
Seit sie in Berlin ist, sucht sie Kontakt zu Bischof Huber. Er sei so liebevoll, wirke so väterlich, meint sie.
Ihre Stiefväter, alle Alholiker mit dem Hang zur Gewalttätigkeit, waren das nie. Sie hört seine Predigten und fragt wieder nach Gott.
Warum lässt er zu, dass so etwas geschieht? War das sein Wille, was mit ihr geschah? Sie sucht nach Antworten, nicht diese allgemeinen, sondern solche, die ihr persönlich helfen. Wolfgang Huber beantwortet ihre E-Mails, so oft er kann. Wieder hat sie Angst, unerwünscht zu sein.
Viel zu selten gelingt es ihr, in seinen Gottesdienst zu gehen. Dann ist sie glücklich, wenn er sie mit Namen begrüßt. Und vorletztes Weihnachten nahm er sie sogar in den Arm. "Das war toll."

Verse gegen den Schmerz
Monja schreibt Gedichte, ihr Ventil, und sie ist stolz darauf. "Todtraurig, aber immer mit Hoffnung." Zwanzig sind an Gott adressiert. "Wo war Gott, als die Seele zerbrach / wo war er, als ich mit ihm sprach? / Ich spürte nie seine Liebe / stattdessen bekam ich Hiebe. / Es gab Menschen / sie schlugen auf mich drauf / und Gott passte nicht auf. / Ich wünschte mir / Gott gebe mir seine Hand / und er würde mich führen / in ein Wunderland." "Anklagende Gebetsgedichte" nennt sie es. "Vielleicht war er es, der mich überleben lassen hat. Irgendwo tief in mir bin ich mit Gott verwurzelt, ohne dass ich es weiß." Manchmal liest sie in der Bibel, die sie von Pastor P. zum 30. Geburtstag bekam. "Psalmen haben etwas Tröstliches", sagt sie.
Vor kurzem hat sie eine Therapie angefangen. Samstags belohnt sich Monja mit Blumen, wenn ihr Wohnzimmer aufgeräumt ist. "Jeder Tag ist ein Kampf. Ich brauche oft stundenlang, um meine Müdigkeit zu bekämpfen." Sie möchte ein Buch schreiben. Sich alles von der Seele reden. Fast hätte sie es in Flieges Talkshow geschafft. Kurz vorher kam die Absage. "Meine Geschichte passte wohl nicht." "Ich gebe nicht auf", sagt sie mit einer Energie, die ahnen lässt, dass die schlanke Frau mit den langen brünetten Haaren es schaffen wird. "Ich möchte anderen Mut machen. Das Leben kann die Hölle sein, aber man findet immer noch die Kraft, wieder aufzustehen. Das ist ein Wunder."

Die Namen sind der Redaktion bekannt.