Gruppe Enigma - Texthaufen

Nussschale

Re: Nussschale

Countdown

Scheiß Silvester. Scheiß gute Vorsätze. Ich lieg in meinem Bett und neben mir liegen zwei kranke, geliebte Menschen. Es ist still in unsrem Zimmer. Der Bildschirm zeigt die Uhr an. Fünfzehn Sekunden lang.

Ich fand Silvester immer doof. Ich fand auch die so genannten guten Vorsätze immer doof. Überflüssig wie ein Kropf. Kann ich das nicht an jeden x-beliebigen anderen Tag machen, mir etwas vornehmen? Und da liege ich nun. Exakte fünfzehn Sekunden lang nehme mir tatsächlich etwas vor.

Doofes Silvester? Doofe Vorsätze? Ich fühl mich plötzlich nicht mehr doof! Ich fühl schon fast mich gereinigt. Die fünfzehn Sekunden tickern rückwärts, –tick-tick-tick- ich genieße die Stille und werde etwas anders machen.

Nächstes Silvester werde ich mich einsperren. In einen Raum hoch oben über der großen Stadt. Allein. Der Fernseher wird auf lautlos gestellt sein, ich werde auf dem Bildschirm das Zifferblatt sehen, dieses dumme, dumme entfernte Böllern hören und meine Stille genießen. Das Nichtsdenken. Das Nichtsvornehmen. Das Reinigen. Den Zustand Silvester. Abseits der Menschen. Nicht mehr und nicht weniger.

Geliebtes Silvester. Ich komme. Der Countdown läuft schon.

Re: Nussschale

Handschuh

Mir ist ja ständig kalt. Wissen Sie. Besonders an den Händen. Aber auch so. Eigentlich immer.

Ich zieh mich ja schon warm an. Im Winter. Schön warm versuch ich’s und wenn ich dann auch noch meine wirklich schönen Lederhandschuh trage, aus weichem Leder diese, wissen Sie, dann ist mir obenrum schon relativ warm, mal abgesehen von mein Händen natürlich und untenrum immer noch kalt. Also, ab Arsch abwärts halt. Bis zu den Füßen. Das ist gar nicht schön, wissen Sie.

Ja, und meinem Mann, dem Harald, dem war ja nie kalt. Stellen Sie sich das mal vor, der trug noch nicht mal Handschuh! Ich mein, auch draußen nicht! Nicht mal bei Minusgraden. So was! Und wenn ich dann so neben ihm hergegangen bin und nach seiner Hand geschnappt hab und er nicht schnell genug war, mit dem Wegziehen, mein ich. Also, das muss ich doch noch kurz erzählen! Das war ja immer unser Spiel: So zuschnappen und der andere musste wegziehen, also gerade noch rechtzeitig. Jedenfalls wenn ich seine Hand dann geschnappt hab, war sie wirklich immer warm! Neiiin, war die warm! Fast heiß.

Und meinen Liebhaber, den Jochen, den traf ich ja oft. Egal, ob Winter oder Sommer, den traf ich ja immer einmal die Woche. Jahrelang, wissen Sie. Ja und wenn der mich dann in die Arme nahm, krabbelten seine Hände immer unter meine Bluse und hinab in meinen Hosenbund hinein. So hintenrum, wissen Sie. Und seine Hände waren doch tatsächlich immer heiß! Gott, waren die heiß! Naja, jetzt denk ich mir schon, das kam doch bestimmt auch daher, weil mein Hintern immer so kalt war. Arschkalt sozusagen. Deshalb mussten sich seine Hände doch heiß anfühlen, da draußen im Park! Wie bitte? Ob sich das denn für eine verheiratete Frau …? Also, ich muss doch sehr bitten! Das tut doch jetzt gar nicht zur Sache! Nicht direkt jedenfalls! Aber nun hören sie doch erst mal zu!

Jedenfalls, mir ist ja ständig kalt, schon immer gewesen, das sagte ich ja bereits und eines Tages kam da die Susann daher. Diese stattliche Frau in den besten Jahren, wissen Sie, die mit dem wirklich schönen Busen und den langen wallenden Haaren. Und, ja, Sie werden’ s kaum glauben, die nahm mich doch einfach mit! Um die Ecke zog sie mich, drückte mich im dunklenTreppenhaus an eine Mauer und küsste mich. Und wie sich unsere Hände berührten, als sie die meinen mit den ihren feste an die raue Wand drückte, da fühlte wir es. Ja, tatsächlich: Wir waren genau gleich warm! Also, gleich kalt oder warm oder ich weiß nicht, wie man es nennen soll. Naja, und jedenfalls ehe ich dann etwas sagen konnte, meinte sie nur zu mir, einfach so meinte sie da zu mir: Du bist ja kalt!

Also, wissen Sie: Du bist ja kalt! Was soll denn so was! Das hat doch wirklich noch niemand zu mir gesagt. Naja, bis auf den Harald natürlich, damals im Winter, als wir im Deister spazieren waren. Na gut und auch der Jochen. Aber der hatte ja eigentlich immer viel zu heiße Hände! Sowieso. Das hatte ich ihm aber auch gesagt, an jenem Morgen im Park, als er meinen Hintern… Und ich finde wirklich, da hört die Freundschaft auf, wenn so etwas gesagt wird! Und genau das sagte ich dann der Susann und da gab sie mir ihre. Ich mein, sie gab mir ihre schnöden, langweiligen gestrickten Handschuh! So wie die beiden Männer mir auch welche gegeben haben, als ich meine Hände von ihnen fortgenommen und verzweifelt nach meinen eigenen wirklich guten Warmen gesucht hab. Weil diese Blödiane wohl ausnahmsweise selber welche dabei hatten! Susann, hab ich da zu ihr gesagt, das ist doch wohl nicht Dein Ernst, he? Doch sie verstand gar nicht, was ich meinte, genauso, wie die beiden Herren mich nicht verstanden haben und so was macht mich ja wirklich wütend und da kann ich dann ja auch gar nicht anders, als.

Naja. Und nun sitze ich hier. Und hätt gern mal wieder welche. Nach so langer Zeit mal wieder. So ein richtig kuscheliges Paar. Solche aus weichem Nappaleder, wissen Sie. Weil meine Hände doch immer so kalt sind. Haben Sie nicht vielleicht welche dabei? Wie bitte? Nur Wollene. Etwa aus Polyacryl? XS? Also, wissen Sie, dann kommen Sie doch bitte nie wieder hierher und belästigen mich! Und überhaupt, wie sehen Sie eigentlich aus? So fast nackig und mit diesen komischen Flügeln da auf dem Rücken! Ich sag jetzt dem Wärter Bescheid! Wäääärter! Bringen Sie ihn weg! Sofort!

Und vergessen Sie bloß nicht ihren heilgen Schein!

Ach, Herr Wärter, wo Sie doch gerade noch hier sind! Haben Sie nicht vielleicht ein Paar Handschuh für mich? Ach! Ehrlich? Etwa aus Leder? Ziege? Neiiin! Oh, ich danke Ihnen, viiielen lieben Dank, Sie sind ja ein Engel! Wie war doch gleich Ihr Name?

Re: Nussschale

Gib mir Fieber. Gib mir Träume. Gib mir Taubheit und Verwirrung. Gib mir Krieg und Untergang, Depression und Zerstörung. Gib mir irgendwas, nur nicht diese perfekte Welt, in der alles zu stimmen scheint.
Gib mir Reibung.