1963: Punkt zwölf bei Mayas Vater
Punkt zwölf bei Mayas Vater
Heute muß ich pünktlich sein, sagte sich Knut. Wenigstens einmal im Leben. Er legte behutsam den Strauß mit achtzehn Rosen neben den Fahrersitz, ging noch einmal um den frisch polierten Capri, kratzte den letzten Fliegendreck von der Scheibe, betrachtete kritisch das viel zu flache Profil, sah auf seine Uhr und dampfte los. Halb zwölf, da konnte er gemütlich fahren. Er brauchte höchstens eine Viertelstunde bis zu Maya.
"Komm am Montag, wenn ich mündig werde", hatte sie gesagt. "Dann fahren wir zusammen in den Frühling." Frühling! Dabei fing es an zu nieseln. "Und du mußt bei meinem Vater einen sehr korrekten Eindruck hinterlassen. Sei pünktlich auf die Sekunde ..." Was manche alten Herren für Marotten hatten. Pünktlichkeit! Wo gab es heute sowas überhaupt?
"Und fahr vorsichtig. Denk an die Haarnadelkurve kurz vorm Haus." Blutjung und trotzdem so korrekt. Das nannte man Elternhaus. Haarnadel ... Auch nur mit Asphalt gepflastert ... Keine Sorge, heute wollte er besonders langsam fahren.
Er nahm den Rosenstrauß und roch daran. Die Straße führte durch leichte Hügel, aus denen überall das Grün hervorschoß. Jetzt kam das Vorgebirge mit den ersten Kurven. Er legte den Strauß zurück und sah auf die Uhr.
Viertel vor zwölf. Phantastisch! Noch zwei, drei Kurven, dann war er da. Der Regen wurde stärker, der Himmel spiegelte sich in der Straße.
Der Wagen vor ihm drosselte das Gas. Ach, du Schande: eine Autoschlange! Im Schneckentempo ging es weiter, Schritt für Schritt ... Fußgänger müßte man sein! Da wäre man in zwei Minuten da, ... bei dem alten Herrn mit Glatze, Marotten und 900 Angestellten ...
Knut trommelte mit den Fingern auf dem Lenker und verfolgte den Sekundenzeiger. In der Klemme ... Ausgerechnet vor der letzten Kurve ... Jeder Zentimeter wurde lang und länger. Drei vor zwölf. Man könnte es noch schaffen. Gleich nach der Kurve kamen schon die ersten Häuser mit dem Bungalow des alten Herrn.
Der Regen prasselte aufs Autodach. Verträumte Landwelt. Keiner überholte. Seit geraumer Zeit kam nichts entgegen. Nur die Warteschlange weit und breit ... Jetzt oder nie!
Knut scherte aus und gab Gas. Gleich kam die Kurve, und die Sicht zum Bungalow war frei. Mehrere Wagen in der Schlange drückten auf die Lichthupe. Idioten! Ach so: ein Laster! Einreihen, schnell!
Puh! Warum griffen bloß die Reifen nicht? ... Spiegelglatter Asphalt. Verflixtes Profil! ... Wozu Autos überhaupt ein Lenkrad hatten! Einen Steuerknüppel bräuchte man in diesem See ...
Wie war das mit dem Breitmaulfrosch: "Ich sehe keinen Laster, Laster, Laaaaa..."
Es quietschte. Der Capri schleuderte herum, tanzte Wiener Walzer und blieb mit einem Ruck im Straßengraben stehen.
Knut war hellwach und unverletzt. Er hatte dem Akrobaten-Kunststück seines Autos völlig unbeteiligt zugeschaut. Er fühlte sich wie außerhalb des Körpers. Unbeteiligt, still, besonnen. Beim letzten Ruck fühlte er sich plötzlich tief erleichtert. Die aufgestaute Spannung hatte sich gelöst, das Befürchtete war eingetroffen. Schlimmer konnte es nicht werden.
Eine unverhoffte Heiterkeit ergriff ihn. Er begann, ein Lied zu pfeifen, zog sich den Schlips im Autospiegel zurecht, zog den Scheitel nach, löste den Sicherheitsgurt, nahm den Blumenstrauß und öffnete die Wagentür. Er stand dreißig Schritte vor dem Bungalow.
Da kam der alte Herr mit Maya schmunzelnd auf ihn zu: "Sie haben Glück gehabt, junger Freund. Sie hätten zwar vor dem Haus parken können ... Aber immerhin: pünktlich auf die Sekunde!"
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband:https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html