Kreative Intelligenz - Kurzgeschichten

1985: Federschliff – Geschichten über das Schreiben

1985: Federschliff – Geschichten über das Schreiben

Federschliff

“Hallo, armer Poet!” rief Wieland und steckte seine breite, waagrecht aus dem Gesicht ragende Nase durch den Türspalt meiner Mansarde. “Hier ist was zu lesen für dich.” Dabei warf er mir eine Zeitung aufs Bett, auf dem ich zwischen Büchern und Papier beim Dichten saß.
“Danke, lese keine Zeitung”, sagte ich.
“Lies mal die Anzeige: Fördern von Schriftstellernachwuchs.”
“Fördern? Zeig her! Geld kann ich immer gebrauchen.”
“Nix Geld. Die wollen den Nachwuchs sichern.”
“Ach so. Brauche keinen Nachwuchs. Kinder sind teuer.”
“Hör auf zu quatschen, lies die Zeitung.” Wieland ging.

Ich dichtete weiter und behandelte die Zeitung, wie es sich gehörte: mit absoluter Missachtung. Was war dieses flüchtige Geschwafel – heute wichtig, morgen nichtig – gegen meine Dichtung, die in die Weltgeschichte eingehen und alle Ewigkeiten überdauern sollte? Als ich aufstehen und den Ramsch in den Papierkorb werfen wollte, fiel mein Blick auf die Headline der Anzeige: “Sind Sie einer von den tiefen Denkern, die gern schreiben?” Ich nickte und las – zum erstenmal seit Jahren – in der Zeitung.
Kurz darauf steckte ich meine unauffällige, durch keinerlei hervorstechende Merkmale zu charakterisierende Nase in den Türspalt von Wielands Mansarde. “Hallo, Nachwuchsförderer! Haste mal ne Briefmarke?”
“Angebissen, wa?”
“Muss doch wissen, was da läuft.”

Drei Tage später blätterte ich eine Broschüre durch, die mit tiefenpsychologisch aufgebauten Argumenten für eine Fernschule des Schreibens warb. “Sie erhalten unsere von professionellen Schriftstellern erarbeiteten Lehrhefte, arbeiten sie in aller Ruhe zu Hause durch, machen die Übungen und reichen uns dann ihre fertige Arbeit ein. Ihr Studienleiter korrigiert Ihre Hausarbeit und gibt Ihnen in seinem Antwortbrief weitere wertvolle Ratschläge und Hinweise, während Sie inzwischen das nächste Lehrheft durcharbeiten.”
Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass professionelles Schreiben zwar in Amerika und Frankreich als Hochschulstudium angeboten werde, in Deutschland dagegen sei der Schriftstellernachwuchs ganz auf sich selbst gestellt. Kein Wunder also, dass unter internationalen Bestsellerautoren nur sporadisch ein Deutscher zu finden sei. Dem musste ich wehmütig beipflichten, hatte ich doch die deutschen Vorlesungsverzeichnisse für Germanistik und Publizistik vergeblich nach Kursen für professionelles Schreiben durchforstet.
Zwei Gründe sprachen allerdings dagegen, mich für diesen Fernkurs anzumelden: Erstens wurde ich den Verdacht nicht los, dass der Kurs nur auf blutige Laien und Anfänger zurecht geschnitten war und sich die Studienleiter nicht anmaßen konnten, mich, den Poeten, das Schreiben zu lehren. Zweitens sollte ich dafür bezahlen!
Nur der penetranten Werbestrategie des Fernlehrinstituts, das meine einmal als Schreibinteressent erfasste Anschrift über mehrere Jahre hinweg in regelmäßigen Abständen mit immer neuem, aufeinander abgestimmten Werbematerial belieferte, war es zu verdanken, dass ich mich drei Jahre später eines schönen Tages dabei ertappte, wie ich einen roten Kugelschreiber mit Tesa auf ein leeres Blatt klebte, “Für meinen Studienleiter” darunter schrieb und ihm, wie es im Probeheft verlangt wurde, in 80 Manuskriptzeilen erläuterte “Warum ich schreiben lernen will.” Nämlich

Weil es meine Zauberpuppe will.

Auf dem Regal bei meinem Bett sitzt eine Zauberpuppe. Vor einer Woche sagte sie zu mir: “Was schaust du mich so an und wartest, dass ich wieder was diktiere? Ich höre auf damit, du hörst ja doch nicht zu.”
Sie streckte sich auf ihrem Pfauenfächer aus und ließ die braun-weiß gestreifte Eulenfeder achtlos aus den Fingern gleiten.
Da stand ich da: ein Schreiber – ohne Text.
“Was ist denn, warum diktierst du nicht weiter?”
“Du kannst ja doch nicht schreiben, was ich will.”
“Ich kann nicht schreiben?”
“Märchen vielleicht. Oder geistreiche Gedichte. Aber der Geschäftsbrief, den ich dir diktieren will, der ist zu schwer für dich, was wetten wir?”
“Zu schwer für mich? Das will ich sehen.”
Janni, meine Zauberpuppe, richtete sich auf, nahm die riesige, leicht gebogene Eulenfeder wie ein Samuraischwert in die Hand und befahl in geschäftlich strengem Ton: “Dann hole bitte aus dem Ordner 83 die Unterlagen für die Anmeldung beim IFS.”
“Beim Institut für Federschleifen? Bist du wahnsinnig? Du kannst doch nicht von mir verlangen, dass ich bei diesen Halsabschneidern in die Lehre gehe. Die versuchen noch, uns weißzumachen, dass unsre Schriften alle wertlos sind. Ich darf erst jahrelang für braves Geld studieren, bevor ich ihrem hohen Lektorat was schicken kann. Ich habe schließlich in der Schule schon Grammatik und so weiter und ...”
“Schon gut. Ich wusste ja: Es ist zu schwer. Doch eines sag ich dir: Die Werke, die uns auf der Seele brennen, diktiere ich allein dem Federhalter, der seine Feder bis ins Tüpfelchen beherrscht und selbst bei Schallgeschwindigkeit im Griff behält.”
“Kein Problem. Du sprichst so oft, so schnell, so flüssig, wie du willst – ich höre zu und schreibe mit, so gut ich kann.”
“So gut du kannst, das ist es ja: Die feinen Untertöne hast du nie gehört.”
“Meinst du vielleicht, dass diese Bauernfänger mir erklären können, wie ich deine Stimme besser höre?”
“Genau. Das können sie.”
“Sie kennen dich doch gar nicht.”
“Woher willst du das wissen? Wer Bücher schreibt, der kennt auch jemanden, der ihm diktiert. Das sind doch schließlich Schreiber, oder nicht?”
Ich blickte aufs Regal und betrachtete mein märchenhaftes Püppchen. Ihr langer weißer Bart, ihre kindlich offenen Augen, ihr weißer Spitzhut und ihr weißer Kittel mit den blauen Sternchen, alles war poetisch-märchenhaft wie immer. Nichts verriet mir, woher sie plötzlich diesen nüchternen Geschäftston nahm. “Ich weiß nicht, wie du grade jetzt auf die Idee kommst, mich bei diesen Federfuchsern anzumelden. Seit zwanzig Jahren fließt es reibungslos. Sind die Regale denn nicht voll genug?”
“Viel zu voll, mein Lieber! Viel zu voll! Alle diese Ordner müssen raus. Ein gutes Manuskript steht nicht im Zimmer rum.”
“Kein Manuskript im Zimmer? Trostlos. Unvorstellbar.”
“Wie fändest du zum Beispiel die Idee, wenn sich die Werke nicht in deiner Stube, sondern in Bücherläden, Bibliotheken, Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmern stapeln würden? Was nutzen dir die schönsten ,Märchen der Morgenröte’, was nutzt dir ,Naseweiߒ, der ,Preis der Lyrik’, ,Kreis der Augenblicke’, was nutzt dein ganzer ,Tick mit Mathema’ in dieser Eigensprache, die kein Mensch versteht, wenn alles wieder auf dem Schuttplatz landet wie die Kiste deines Jugendwerks?”
“Der erste Zentner damals war was anderes. Da ahnte ich noch nichts von dir, mein lieber Janni, und dass ich dich so unverhofft beim Räumen in der Rumpelkammer finden würde. Und außerdem: Was wird aus unserem Vorsatz?”
“Welchem Vorsatz?”
“Wir wollten doch den Leser glücklich machen und mit Wissen, Witz und Liebe füttern. Meinen Studienleiter aber stürzen wir ins Unglück.”
“Unglück? Er wird sich freuen, wie gelehrig du dich zeigst.”
“Wenn er aber nichts zum Korrigieren findet, kommt er in Zugzwang und wird unglücklich.”
“Verstehe: Das Genie ist unverbesserlich! – Sei unbesorgt: Der Fachmann findet was. Und wenn er auf den ersten Blick nichts sieht, dann fragt er eben seine eigene Zauberpuppe und findet was, und wenn er es erfindet.”
“Er-findet-was? Das will ich wissen, was deerfindet.”
So hat die dumme Puppe mich beschwätzt.
Sie sehen schon, mein lieber Studienleiter: Ich bin ein Ziegenbock. Ich will nichts lernen. Ich habe mich bei Ihrem Institut nur angemeldet, weil es meine Zauberpuppe will. Warum sie will, dass ich das Schreiben lerne, das – bitte – fragen Sie die Zauberpuppe selbst.”

***

Ach ja, mein Studienleiter. Wie nett und ehrlich er geantwortet hat. Das Traurige, ja Tragische war nur, dass er keine Zauberpuppe hatte. Da hatte ich den Salat: Ich durfte allmonatlich dafür bezahlen, einen netten Onkel, der vom Schreiben weniger Ahnung hatte als ich, mit brisanten Geschichten zu unterhalten.
Nicht nur meine Studienleiter und Nachbarn, auch mich selber forderten die Aufgaben immer wieder neu. Da wurden Gesprächsfetzen aus einem aufgeschnappten Telefongespräch über den letzten Urlaub vorgegeben, aus denen ich eine spannende 100-Zeilen-Geschichte machen sollte. Ich glaubte, aus den Vorgaben deutlich herauszuhören, welche Art von Geschichten das Institut erwartete, und zwar

Beidseits der Trennwand.

Den Computer  auf dem Schoß, die Bürolampe auf dem Nachttisch, saß Pierre  in seiner Zimmerecke auf der Pritsche und tippte einen Kurzkrimi für den “Klüngelsdorfer Boten” in die Tasten. Da schrillte das Telefon. Im Nebenzimmer, hinter der dünnen, behelfsmäßig aus Regips- und Dämmplatten eingezogenen Trennwand, schrillte das Telefon.
“Agentur Otto Frieߔ, hörte er die Stimme seines Zimmernachbarn. “Kurzgeschichten? Selbstverständlich. Aber rufen Sie doch bitte tagsüber ... So eilig wirds wohl nich ... Wie bitte? Sagen Sie das noch mal! Donnerwetter!! 12.000 Mark für 100 Zeilen?!”
Pierre horchte auf, griff zum Schmierblock, lehnte den Kopf an die Wand und lauschte:
“Prosawettbewerb der Gegenwart? ... Und das kurz vorm Schlafengehen! Ist ein Thema vorgegeben? ... Aus den aufgeschnappten Fetzen eines Anrufs was zusammenreimen? Das ist doch kein Thema. ... Welche Fetzen? Moment, ich schreibe mit: großer Fisch in Sicht, Vollmondnacht ... Hab ich, ja ... Nachbar total schockiert ... Ok. Kein Problem, da machen wir ‘n Reißer draus. Mit Baby, Blut und Busen!”
Typisch Otto, dachte Pierre: Immer die drei Bs! Er sah im Geist, wie Otto mit seinen wurstigen Fingern das Wort “Reißer” niederschrieb und rülpsend das Spruchband betrachtete, das vor seinem Schreibtisch an der Wand hing: EIN SCHREIBER IST, WER TEXTE SCHREIBT – EIN KÜNSTLER IST, WER SIE VERKAUFT. Symbiose nannte er das. Otto war der Künstler und Vermarkter, Pierre sein Schreiber.
Und wieder Ottos Stimme: “Kreuzfahrt um Mitternacht? Ein Hai am Boot? ... Prima. Das bringen wir mit Südseekolorit, vielleicht: Mit Hai und Hula-Hoop nach Honolulu.”
Diese Vergewaltigung der Kunst, dachte Pierre. Wie lange noch? Honolulu aus den Fingern saugen! Dabei war der Alltag viel poetischer ... Prosawettbewerb der Gegenwart!! Das war doch mal was andres als die Nullachtfünfzehn-Stories für den Klüngelsdorfer Boten. Pierre griff zum Bleistift und notierte: “Kurz vor Mitternacht. Zwei im selben Boot. Plötzlich Aufruhr. Großer Fisch in Sicht. Nachbar total schockiert.”
“Einsendeschluß: Datum des Poststempels. Klar! ... Moment mal!  Fünfzehnter März? ... Das ist doch heute! ... Sie wolln mich wohl ver...! Was? Im Preiskonzept mit eingeplant? Also ... Da bleiben uns ja kaum zwei Stunden! Und ich muss noch bis zur Bahnhofspost damit. Gut, dann Tschüss. Adresse hab ich, ja. Und danke für den Anruf.”
Pierre sah auf die Uhr: Fünf vor halb elf. In 95 Minuten wechselte der Poststempel das Datum. Jetzt hieß es handeln. Ruhig und hellwach. Er atmete tief durch, dann schrieb er auf ein frisches Blatt: “Lieber Otto, bitte nicht stören. Habe alles mitgehört. Strikte Arbeitsteilung. Bereite schon den Umschlag vor. Porto für drei Seiten Manuskript. Prüfe, ob Benzin im Tank. Lass ab zehn vor zwölf den Motor laufen. Auf den Siegerpreis! In Eile. Pierre.”
Er riss den Zettel aus dem Block, klebte ihn mit Tesa außen an die Zimmertür, drehte von innen den Schlüssel im Schloß herum, setzte sich auf die Pritsche und fing an zu tippen.
Nebenan hörte er, wie die Tür von Ottos Büro aufging. Wahrscheinlich hatte Otto jetzt sein eigenes Konzept für die Geschichte fertig. Ottos Watschelgang kam hastig näher, hielt vor seiner Zimmertür, ging zaghaft wieder ins Büro zurück. Pierres Computer und Gehirn rotierten: Schauplatz, Handlung, Spannung, Steigerung, Pointe. Nach einer halben Stunde war das Gröbste im Computer. Da ging die Nebentür zum zweitenmal. Leise wurde an die Tür gepocht.
“Pierre, hörst du? Mach doch kurz mal auf. Will dir nur schnell das Konzept erklären.”
Genau! Das hatte er befürchtet. Dann wurde eine Stunde diskutiert, und kurz vor zwölf war keine Story fertig. Pierre steckte Watte in die Ohren. Er konnte sich in allen Einzelheiten ausmalen, was in der nächsten Stunde zu erwarten war. Seine Tasten klimperten wie Kastagnetten. Immer, wenn er voll im Fluß war, klangen ihm die Tasten des Computers wie Musik.
Von der Tür kam rhythmisch die Begleitung: dumpfes Türentrommeln. Erst leise, gleichmäßig, dann kräftiger, nervöser. “Pierre, mach auf! Wir haben nur noch eine Stunde Zeit. Du weißt doch gar nicht, wie und wo sich alles abspielt.”
Pierre tippte unbeirrt. So, der Entwurf war fertig. Er stellte den Drucker an, legte Schmierpapier ein und drückte auf “PRINT”. Während der Drucker ratterte, sah Pierre noch einmal die Notizen durch. War alles eingebaut? Punkt für Punkt hakte er ab, dann landete der Zettel im Papierkorb. Inzwischen war der Probeausdruck fertig. Pierre zählte: 74 Zeilen Manuskript. Fehlten noch 26 Zeilen. Also verdeutlichen, erweitern und ergänzen.
“Pierre, mach doch bitte keine Zicken. Stell dir vor: zwölftausend Piepen! Soll uns so was durch die Lappen gehen?”
Pierre tippte, druckte wieder aus und zählte: 119 Zeilen. Also 19 Zeilen streichen. Aber welche? Die Vorarbeit des Schreibens war geleistet, jetzt begann die große Kunst des Kürzens.
Zwölf Zeilen hatte er bereits gekürzt, da kam der erste Faustschlag an die Tür. Pierre dankte seiner Ohrenwatte, angelte die Pudelmütze hinter dem Kopfkissen hervor und zog sie über die Ohren.
“Mensch Pierre, mach auf! In zweiundzwanzig Minuten muss das Ding im Kasten sein!” – Lange Pause. Dann leise, zu sich selbst: “Vermasselt uns die schönste Chance, dieser Trottel!”
Pierre musste lachen. Er hätte keine Themen ohne Otto. Aber Otto hätte keine Texte ohne ihn!
Ein Schlüssel klapperte im Schloß. Vergebens. Eine Taschenlampe leuchtete durchs Schlüsselloch. “Pierre, das ist unfair. Zieh doch wenigstens den Schlüssel raus. Wir haben nur noch siebzehneinhalb Minuten.”
Der letzte Probeausdruck: 104. Vier Zeilen kürzen. Aber welche? Nichts konnte weggelassen werden. Kein Satz, kein Wort, kein Komma, keine Silbe. Sehr gut, dachte Pierre. So muss es sein. Wir mogeln einfach mit der Zeilenlänge.
Er stellte die Zeilen einen halben Zentimeter breiter ein, so dass mehr Buchstaben auf jede Zeile passten. Der alte Trick. Der breitere Zeilenumbruch brachte ein paar Zeilen weniger. Er drückte auf “PRINT”, stand auf und ging zur Tür.
“Jetzt reicht mirs aber! Diese Schreiberlinge!”
Er hörte Otto Anlauf nehmen, drehte den Schlüssel um, trat hinter den Türrahmen und öffnete sperrangelweit die Tür.
Otto stolperte ins Leere, fing sich, sah die leere Pritsche, blickte sich entgeistert um und suchte Pierre. Dann sah er den ratterten Drucker und ging darauf zu.
Pierre trat hinter der Tür hervor, ging zum Drucker, faltete die Seiten. “Ist der Umschlag beschriftet und frankiert?”
“Ist das die Story? Aber ... Wie heißt sie denn?”
“Beidseits der Trennwand.”
“Trennwand?!” Ottos Augen wurden groß. “Bist du plemplem? Das Thema war doch völlig anders.”
“Eben: beidseits der Trennwand – völlig anders.”

***
2 Kurzgeschichten für die "Schule des Schreibens" des IFS, 1985