2000: Der Durchbruch
Der Durchbruch
Wer hat dir denn diesen Bären aufgebunden? Amtsleiter Hölzel gab
Schmuddel-Buddel den Zeitungsausschnitt zurück. Die Erde ist keine
Hohlkugel, sondern voll glühendem Lava und Eisen. Und an den Polen gibt
es keine Löcher. Bohr deine Abwässerschächte und verschone mich mit
deinem Spleen!
Das ist ja der springende Punkt: Keiner glaubts! Zu schön, um wahr
zu sein! Schmuddel Buddel nahm zwei Fotos aus seinen Unterlagen und
legte sie Hölzel auf den Schreibtisch. Hier, schau dir das an! Die Erde
ist hohl wie ein ausgeblasenes Ei, mit Löchern oben und unten, aber die
Regierungen halten das streng geheim, aus militärischen Gründen. Diese
NASA-Fotos wurden mir unter der Hand zugespielt.
NASA-Fotos! Dass ich nicht lache. Von einem Loch im Nordpol! Das sind
Polaufnahmen von Wettersatelliten. Was aussieht wie ein Loch ist der
Polarschatten im Winter.
Und was sagst du zu dem geheimen Bordbuch von Admiral Byrd? Der steht
als Polforscher in jedem Duden. Schmuddel-Buddel drückte Hölzel ein
dünnes Heft in die Hand. Als Byrd 1947 im Auftrag der Navy den Nordpol
überfliegen sollte, ist er durch die Polöffnung auf der Innenseite
gelandet. Weil sich die Erdkruste am Nordzipfel Grönlands, genau beim
83. Breitengrad, nach innen krümmt.
Das ist Science-Fiction! Seismografische Messungen von Erdbeben
beweisen eindeutig, dass die Erde kein Hohlkörper, sondern ein
Festkörper ist.
Schmuddel-Buddels Augen flackerten wild. Ich schwöre dir: Auf der
Innenseite der Erdkruste ist genau so viel Platz wie außen. Das
Nordlicht ist der Schein der Zentralsonne durch das Polarloch. Durch die
Zentralsonne herrscht auf der Innenseite ein subtropisches Klima.
Weintrauben werden dort so groß wie Orangen. Da laufen heute noch
Mammuts rum, die durchs Polarloch bis nach Sibirien geschwemmt werden.
1898 servierten Polarforscher in Moskau frisches Mammutfleisch. Das sind
alles bewiesene Fakten.
Schmuddel-Buddel, wann wirst du endlich erwachsen? Schon als Junge
wolltest du nach Schätzen graben. Ich sehe dich noch bei strömendem
Regen im Schlamm bei der Kiesgrube buddeln. Nur dein Kopf sah heraus.
Ja, damals hast du mich Schmuddel-Buddel getauft. Ich bestreite nicht,
dass buddeln meine Leidenschaft ist. Deswegen bin ich ja Unternehmer für
Tiefbau geworden.
Aber das berechtigt dich nicht, in der Wiesbadener Fußgängerzone einen
Bohrturm aufzustellen, als wolltet du in der Nordsee nach Öl bohren!
Hölzel trat ans Fenster und sah auf die Baustelle schräg gegenüber. Das
geht entschieden zu weit.
Das weiß doch keiner außer dir. Schmuddel-Buddel stellte sich neben
ihn. Sag doch selbst: Von hier oben siehts aus wie ein Silo.
Wenn die Presse Wind davon bekommt, dass du zwischen Hertie und Fink
einen Tunnel ins Innere der Erde bohren willst, wird ganz Wiesbaden
ausgelacht. Und ich selber kann einpacken. Ich habe meine Hand für dich
ins Feuer gelegt. Du bist mein Schulfreund und absolut zuverlässig, habe
ich bei der Ausschusssitzung gesagt. Du kannst den Bauauftrag nicht
eigenmächtig ändern. Das ist strafbar.
Es wäre sträflich, diese einmalige Chance ungenutzt verstreichen zu
lassen. Schmuddel-Buddel nahm Hölzel das Heft weg und raffte die Fotos
vom Schreibtisch. Ich werds euch allen beweisen. Die Menschheit wird
mir noch dankbar sein. Ich bereue nur, dass ich dich eingeweiht habe.
Ich hätte einfach heimlich ...
Kommt nicht in die Tüte. Raus jetzt! Ich habe zu tun.
Als Schmuddel-Buddel das Büro verlassen hatte, griff Hölzel zum Telefon.
Aber Tiefbauamt, Bauamt, Stadtplanungsamt, selbst das
Bundeskriminalamt, keiner fühlte sich zuständig, etwas zu tun. Der hat
Sie veräppelt, Herr Hölzel. Sie sind doch sein Schulfreund. Schauen Sie
mal aufs Datum! Beschämt, doch erleichtert bemerkte Hölzel auf dem
Kalender: Es war der erste April!
Seine Besorgnis wuchs jedoch erneut, als er geraume Zeit später von der
Wach- und Schließgesellschaft die Nachricht erhielt, in der
Fußgängerzone unter dem Silo seien nachts Bohrgeräusche zu hören, selbst
an Wochenenden. Nach mehreren schlaflosen Nächten begab sich Hölzel am
Sonntag gegen Mitternacht selbst in die Kirchgasse und legte sein Ohr an
das Silo. Tatsächlich! Leise, aber deutlich dröhnte es durch den Stahl.
Er rief den Notruf an und ließ sich mit der Hauptwache verbinden. So
leid es mir tut. Wir müssen Schmuddel-Buddel auf den Eichberg bringen.
Er ist durchgedreht.
Als die Beamten der Funkstreife in die Baustelle eindrangen und
Schmuddel-Buddel festnahmen, war dieser sofort bereit, sich freiwillig
in die Klapsmühle zu begeben. Es ist vollbracht!, lächelte er beseelt.
Ihr werdet sehen: Bald bin ich der meistgefragte Mann in allen
Talkshows! Und die Menschheit erfährt die Wahrheit über das innere
Paradies.
Die Beamten tauschten Blicke mit Hölzel und lächelten ebenfalls. Bis der Bauzaun fiel.
Am Tag der Eröffnung, pünktlich um 11 Uhr 11, rückten in der
Fußgängerzone die Medien an. ZDF, Hessenschau, Sat 1, Kurier, Tagblatt,
Reuter, FAZ, alle wollten das Spektakel miterleben. Schmuddel-Buddels
Firma hatte kräftig die Werbetrommel gerührt: Einweihung der ersten
Passage zur Inneren Erde. Wir durchschneiden das rote Band der Brücke
zwischen Außenwelt und Innenwelt. Unser Überschall-Lift bringt Sie in
wenigen Minuten zur anderen Seite des Tunnels. Magnolien- und Feigenduft
aus der Inneren Erde wird in die Wiesbadener Innenstadt geleitet, dass
es eine Lust zu atmen ist. Ausgebuddelte Goldklumpen dekorieren
Schaufensterauslagen mit Tropenfrüchten, größer als in Findhorn. Alle
landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus der Inneren Erde sind biologisch
gewachsen und garantiert frei von Gentechnik. Und der Hit: Kinder reiten
gratis auf einem lebenden Mammut.
Alle, auch die Bauzaungäste, waren sich einig: Jetzt erst machte der Einkaufsbummel richtig Spaß.
Veröffentlicht als "Bauzaunroman" im Buddelbuch der Stadt Wiesbaden, Buch Habel, Wiesbaden, 2000.
Dese Geschichte ist auch enthalten in dem Kurgeschichtenband:https://www.alfa-veda.com/9783945004067-jan-mueller-reich-ueber-nacht.html