Die Seele wiegt 21 Gramm
Die Seele wiegt 21 Gramm
Die Meldung war so wichtig, dass selbst die New York Times sie abdruckte. »Arzt glaubt, die Seele habe Gewicht«, stand in der Ausgabe vom 11. März 1907 über einem Artikel auf Seite fünf. Darin berichtete die Zeitung von den seltsamen Experimenten eines gewissen Duncan MacDougall, Arzt aus Haverhill in Massachusetts.
MacDougall beschäftigte sich schon lange mit der Natur der Seele. Falls die psychischen Funktionen nach dem Tod weiterexistierten, so seine verquere Logik, mussten sie im lebenden Körper einen gewissen Raum eingenommen haben. Und weil alles, was Raum einnimmt, nach den »neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft« auch ein gewisses Gewicht hat, müsse sich die Seele feststellen lassen, »indem man einen Menschen während des Sterbens wägt«. Also baute MacDougall eine Präzisionswaage: ein an einem Gestell aufgehängtes Bett, dessen Gewicht samt Inhalt sich auf fünf Gramm genau bestimmen ließ.
Die Empfindlichkeit der Waage schränkte allerdings die Auswahl der Versuchspersonen stark ein. »Am geeignetsten schienen mir Patienten mit einer Krankheit, die zu starker Erschöpfung führt, deren Tod mit möglichst wenig Muskelbewegungen verbunden ist, weil die Waage so perfekt im Gleichgewicht gehalten werden kann und jeder Gewichtsverlust sofort bemerkt wird«, schrieb MacDougall später in der Fachzeitschrift American Medicine. Menschen, die an Lungenentzündung starben, eigneten sich zum Beispiel nicht. Sie würden »ausreichend kämpfen, um die Waage aus dem Gleichgewicht zu bringen«.
Als die besten Probanden erwiesen sich Tuberkulosekranke, deren letzte Momente so inaktiv seien, wie man sich das nur vorstellen könne. MacDougall fand sie in der Cullis-Free-Home-Lungenheilstätte. Ob die Kranken oder ihre Angehörigen ihr Einverständnis für die Experimente gaben, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass es Leute gab, die MacDougalls Studien in biologischer Theologie skeptisch gegenüberstanden. Bei einer der sechs gewogenen Versuchspersonen, beklagt sich MacDougall, sei die Waage nicht richtig justiert gewesen, weil Leute, die mit seiner Arbeit nicht einverstanden gewesen seien, ihn gestört hätten.
Den ersten Sterbenden legte MacDougall an einem Abend um 17.30 Uhr auf seine Seelenwaage. Drei Stunden und 40 Minuten später »machte er seinen letzten Atemzug, und gleichzeitig mit dem Tod stieß der Balken der Waage mit einem hörbaren Schlag gegen die obere Blockierung«. MacDougall musste zwei Dollarmünzen auflegen, um sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Das waren 21 Gramm.
Die nächsten fünf Versuchspersonen lieferten ein verwirrendes Bild: Bei zweien war die Messung ungültig, bei einer fiel das Gewicht nach dem Tod und blieb danach stabil, bei zweien fiel das Gewicht und stieg dann wieder, und bei einer fiel das Gewicht, stieg und sank noch einmal. Zudem hatte MacDougall Schwierigkeiten, den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen.
Doch solche Kleinigkeiten brachten ihn nicht vom Glauben ab, den Beweis für die Existenz der menschlichen Seele erbracht zu haben. Er hatte ja noch ein zweites Experiment durchgeführt, das diesen Befund bestätigte: 15 Hunde (»zwischen 15 und 75 Pfund«) verendeten auf der Waage alle ohne den geringsten Gewichtsverlust. MacDougall verrät in seinem Fachartikel in American Medicine zwar nicht, wie er die Hunde davon überzeugen konnte, in seiner Waagschale zu sterben, doch man kann davon ausgehen, dass er sie vergiftete. MacDougall war nicht zufrieden mit diesem Experiment. Nicht etwa, weil er es für verwerflich hielt, 15 gesunde Hunde für den kuriosen Versuch zu töten, sondern weil sich die Resultate nicht direkt mit jenen seiner Versuchspersonen vergleichen ließen. Idealer wäre ein Test an Hunden gewesen, die auch ein schweres Leiden hatten und sich nicht mehr bewegen konnten, schrieb MacDougall. »Doch ich war nicht in der glücklichen Lage, an Hunde mit einer solchen Krankheit heranzukommen.«
Die Meinungen in der Fachwelt zu MacDougalls Seelenwägerei gingen weit auseinander. Einige seiner Kollegen hielten die Experimente für dumm, andere waren der Meinung, MacDougall habe »die wichtigste wissenschaftliche Entdeckung aller Zeiten« gemacht, und diskutierten, wie sich seine Methode verbessern ließe. Besonders der Einsatz von todkranken Versuchspersonen schien ihnen problematisch, weil die Verwesung sehr schnell einsetzen und ebenfalls zu Gewichtsveränderungen führen könne. »Wie viel befriedigender es doch wäre, wenn es sich bei den Versuchspersonen um normale, völlig gesunde Männer handelte«, wurde ein New Yorker Arzt in der Washington Post zitiert. Er schlug vor, den elektrischen Stuhl an eine Waage zu hängen und vor und nach der Hinrichtung das Gewicht zu bestimmen.
MacDougall machte weitere Versuche und erregte im Jahr 1911 noch einmal Aufmerksamkeit, als er behauptete, die Seele »ein starker Strahl reinen Lichts« beim Verlassen des Körpers beobachtet zu haben.
Das einzige Vermächtnis der Experimente ist der Gewichtsverlust der ersten Versuchsperson: Diese 21 Gramm geistern seit hundert Jahren als Gewicht der Seele durch die Populärkultur. Im Jahr 2003 schafften sie es sogar ins Kino. Unter dem Titel »21 Grams« hat der Regisseur Alejandro González Iñárritu einen Spielfilm gedreht, der die tiefere Bedeutung von Leben und Tod zum Thema hat.
(Quelle: http://www.verrueckte-experimente.de/leseproben_d.html )