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Ute Nerge, Gründerin des Kinderhospiz

Ute Nerge, Gründerin des Kinderhospiz

http://www.welt.de/print/wams/vermischtes/article13611302/Den-letzten-Weg-gemeinsam-gehen.html



Welt am Sonntag 


Autor: Eva Eusterhus|
06:36

Den letzten Weg gemeinsam gehen






Ute Nerge, die Gründerin des Kinder-Hospizes
Sternenbrücke, hat ein bewegendes Buch geschrieben. Unsere Autorin hat
sie getroffen






Wenn sie sich angesichts ihres prall gefüllten
Terminkalenders daran erinnern will, warum sie das alles mache, schaut
Ute Nerge einfach eine Weile aus dem Fenster. Da draußen, vor dem
Anwesen in Rissen, liegt der Garten der Sternenbrücke. Von dort aus hat
die Leiterin alles im Blick. Die Terrasse, die Nestschaukel, den Garten
der Erinnerung, in dem 104 Lichter leuchten - für jedes Kind, das hier
gestorben ist, eins.


 


Sie sieht auch den Strandkorb, und gleich ist
da dieses Bild: Der todkranke Junge, der darin sitzt, rechts und links
von seinen Eltern eingerahmt, mit einem Fruchtcocktail in
Regenbogenfarben, an dem Strohhalm wackelte ein Papagei aus Pappe. Auf
dem Boden des Glases leuchtete eine gelbe Flüssigkeit. Gelb wie das
Morphin gegen die Schmerzen, das der an einem Hirntumor erkrankte Junge
einnahm. "Wie im Urlaub", sagte er.


Irgendwann an diesem sonnigen Nachmittag starb
er. In den Armen seiner Eltern, im Strandkorb, seinem Lieblingsplatz.
"Wir saßen dabei, andere Kinder spielten in seiner Nähe. Das fühlte sich
richtig an", sagt die Frau, die ihm diese friedliche Art zu Sterben,
ermöglichte. Vor zwölf Jahren gründete Ute Nerge zusammen mit Peer Gent,
dem heutigen Geschäftsführer, und anderen einen Förderverein, aus dem
2003 das Kinder-Hospiz Sternenbrücke hervorging. Damals war es die
zweite Einrichtung dieser Art bundesweit, noch heute ist es das einzige
im norddeutschen Raum. Über den langen Weg, ihren Wunsch Wirklichkeit
werden zu lassen, handelt ihr Buch "Ein Regenbogen zu den Sternen", das
diese Woche erschienen ist.


Die gelernte Kinderkrankenschwester wollte einen
Ort schaffen, an dem Kinder mit unheilbaren Erkrankungen und begrenzter
Lebenserwartung und ihre Familien liebe- und würdevoll begleitet werden.
"Nicht selten kommen die schwer kranken Kinder mehrmals jährlich für
ein paar Wochen zu Besuch - mit oder ohne Eltern, bis sie an ihrem
Lebensende zu uns kommen", sagt sie. Da sich alles um das kranke Kind
drehe, seien die Eltern oft am Ende ihrer Kräfte und die Geschwister
müssen in den Hintergrund treten. 70 Prozent der Beziehungen zerbrechen
am Tod eines gemeinsamen Kindes. Finanziert wird der Aufenthalt zum Teil
von den Krankenkassen, vor allem aber durch Spenden. 1,7 Millionen Euro
müssten jährlich gesammelt werden, damit das Haus erhalten bleiben
kann. Insgesamt betreut das Hospiz über 400 Familien. Im April 2010
wurde die Einrichtung um ein Jugend-Hospiz erweitert, dieses Jahr
eröffnete die Akademie Kinder-Hospiz-Sternenbrücke, seit Juli gibt es
zudem den ambulanten Pflegedienst.


Um kranke Kinder und ihre Familien dreht sich das
Leben von Ute Nerge, seitdem sie 17 war. Sie trug ein gestärktes
Häubchen und eine hellblaue Tracht als die Oberschwester ihr, der
Schwesternschülerin im ersten Lehrjahr, ohne jede Vorbereitung ein
kleines Bündel in den Arm drückte und sagte, sie solle es in die
Klosterburg bringen. Das Bündel war ein totes Baby, die Klosterburg war
die Leichenhalle des Krankenhauses in Hamburg.
"Ich war völlig überfordert, mir rannen die Tränen über die Wangen. Ich
hielt es eng an mich gedrückt und ging wie benommen los." Der Weg
führte sie zum äußersten Gebäude des Krankenhauses, über das nie jemand
sprach. Das Knarren der Tür hat sie noch heute im Ohr, an der Wand hing
ein Kreuz. Sie öffnete eine der Klappen an der Wand und legte das Baby
auf die Metallbahre. "Das fühlte sich alles furchtbar falsch an",
erinnert sie sich. Seitdem wusste Ute Nerge, dass es eine andere Art
geben müsse, mit dem Tod umzugehen.



In Kliniken erlebte sie später, was eine
lebensbegrenzende Erkrankung mit betroffenen Kindern und Familien macht.
"Ich merkte, wie wenig ausreichend die Unterstützung war und wie viel
Hilflosigkeit es auch bei Kolleginnen gab." Als diese Kinder dann
entlassen wurden, bot sie den Eltern auch zu Hause Hilfe an. Fast 40
Kinder betreute sie neben-bei. Dass sich inmitten dieser
Hoffnungslosigkeit auch noch bürokra-tische Grenzen auftaten, das wollte
sie nicht hinnehmen.


"Ich wollte einen Ort schaffen, an dem beides
sein darf - das Leben und der Tod." Begeisterte Mitstreiter fanden sich
schnell, mit Spenden und ehrenamtlichen Helfern begann die Vision
Gestalt anzunehmen. Nach langem Suchen und noch längeren Verhandlungen
fand sich das Haus am Sandmoorweg. Seit der Gründung sind in dem Haus
104 Kinder gestorben. Bei vielen war Ute Nerge in den entscheidenden
Stunden dabei. Sie steht den Eltern bei, stützt die Familie und ist auch
diejenige, die mit den Geschwisterkindern spricht. Natürlich gehe ihr
das jedes Mal nah. "Auch ich nehme mir Zeit, um zu trauern", sagt die
53-Jährige. Die Kraft dafür nimmt sie "aus der Gewissheit, das Richtige
zu tun".


Erst als es das Haus gab, fand sie das Wort für
all das, was sie seit dem Tag in der Klosterburg vermisst hatte: Würde.
Würde bedeutet in der Sternenbrücke, dass jederzeit alles sein darf und
es keine vorgegebenen Zeiten für irgendetwas gibt. Würde bedeutet, dass
die Kinder dort sterben können, wo sie sich gerne aufhielten. Würde
bedeutet auch, jedem Kind den Wunsch nach der Lieblingsspeise zu
erfüllen, und sei es Nutella mit Mettwurst püriert über die Magensonde.


Natürlich gebe es auch Momente, in denen bei ihr
Tränen fließen. Aus Trauer, aber mindestens ebenso oft aus Dankbarkeit.
"Ich unterdrücke sie auch nicht, das muss dann eben alles raus", sagt
sie und lacht. Wie Menschen, die nicht betroffen sind, kreative Ideen
entwickeln, um Geld zu sammeln, beeindrucke sie immer wieder. Am Freitag
übergab ihr ein Auto-Tuning-Club einen Scheck über 1000 Euro. Das Geld
hatten die harten Kerle bei einem Treffen unter dem Motto "Tuning für
Sternenbrücke-Kids" gesammelt.


Bei all ihren "Sternenkindern" war es natürlich
immer eine Sorge, ihren Sohn nicht zu vergessen. Ihm ist das Buch
gewidmet. "Ich habe mich so gefreut, dass ich ihm das erste Exemplar,
das ich in den Händen hielt, zu seinem 24. Geburtstag schenken konnte."
Als habe er ihre Gedanken all die Jahre gespürt, sagte er ihr: "Mutti,
ich weiß, dass du immer Angst hattest, dass ich zu kurz komme. Bin ich
aber nicht, du warst immer für mich da, ich habe nie etwas vermisst."
Da, sagt sie, sei ihr ein Riesenstein vom Herzen gefallen - und ja, auch
da liefen Tränen.


"Ein Regenbogen zu den Sternen" von Ute Nerge, Diana Verlag, 320 Seiten. Preis: 19,99 Euro