Die Sage vom Roten Horn
"Sollte Horn soviel wie Sumpf bedeuten und das Rote Horn Rodescher Besitz gewesen sein und daher seinen Namen haben? Sicher, das ist einleuchtend, aber schöner, anheimelnder, vertrauter ist die Sage - wir möchten sagen - das Märchen von Elwine und Willfried - die Sage vom Roten Horn. Sie sagt so viel über die Menschen, die sich das Märchen vor langen Zeiten erzählten und ihre Wünsche, ihre Vorstellungen in die Geschichten verwoben.
Es ist nun wohl schon tausend Jahre her, da stand zum Schutze der Stadt in Buckau eine feste Burg. Der Befehlshaber dieser Burg hieß Willfried, ein junger, tapferer und in manchem Kampf erprobter Ritter. Er war ein leidenschaftlicher Jäger und nützte die Zeit zwischen den Kämpfen zu ausgedehnten Jagden in den dichten Wäldern, die sich an den Elbufern entlang erstreckten.
Bei einer dieser Jagden kam Willfried eines Tages an das Elbufer. Es war heiß, der Jägersmann war müde, und so legte er sich nieder und schlief auch bald ein. Nicht lange, da wachte er durch eine wundersame Musik wieder auf. Er schlug die Augen auf und sah einen Muschelkahn über die Elbe kommen. Zwei schneeweiße Schwäne zogen ihn. In der Muschel saß ein gar liebliches Mädchen mit Schilf und Wasserrosem im Haar. Ihr gewand schimmerte wie Silber, und es war mit glitzernden Perlen und Edelsteinen besetzt. Sie trug an einem Bande ein korallenrotes und hielt in den Händen eine goldene Leier.
Willfried konnte den Blick nicht von ihr wenden. Das Mädchen winkte ihm, und ohne Zögern stieg er zu Ihr in den Muschelkahn. Die Schwäne zogen sie zu einer Insel auf der anderen Seite der Elbe, und dort im Walde, an einer lichten Stelle, ließen sie sich nieder ins weiche Moos. Willfried eollte nur zu gern wissen, wer sie denn sei. Bereitwillig erzählte sie ihm, dass sie Elwine heiße und die Beherrscherin der Elbe sei. Vertrauensvoll sagte sie ihm, dass sie ihn liebgewonnen habe, und dass er an ihrer Seite glücklich werden solle. In ihrem Schloss in der Elbe wolle sie ihm Herrlichkeiten zeigen, wie sie noch kein sterblicher Mensch gesehen habe. Nur wenige Bedingungen müsste er ihr jedoch erfüllen. Er müsse ihr treu sein und dürfe niemals zu erfahren begehren, was sie heimlich triebe. Willfried versprach sich danach zu richten. Der Tag verging, es war Abend geworden. Düsternis lag über den Wiesen. Der Mond schien hell durch die Bäume, und - siehe da - die Wiese begann sich ganz geisterhaft zu beleben. Elfen stiegen aus den Blumen, Nixen kamen von der Elbe her, und all diese Spukgestalten führten in ihren langen, weißen Gewändern einen wunderschön anzusehenden Reigen auf. Willfried musste an das Abschiednehmen denken. Elwine brachte ihn bis ans Ufer, rief mit ihrem Horn die Schwäne herbei, und der Muschelkahn brachte Willfried ans jenseitige Ufer.
Willfried und Elwine kamen von nun an oftmals zusammen, sie nahm ihn mit in ihr schloss, zeigte ihm ihre Kostbarkeiten, und beide waren glücklich und zufrieden.
Gar zu gern hätte er doch um die Heimlichkeiten seiner Elwine gewußt. Sie hatte ihn eines Tages gebeten, ihr fern zu bleiben, da sie mit ihren Schwestern, den Beherrscherinnen der Unstrut, der Saale und der Elster, zu reden habe, wobei kein Sterblicher zugegen sein dürfe. Er versprach, nicht zu kommen, doch dann beschlich ihn der Zweifel. Ob Elwine ihn nicht doch belogen hatte?
Heimlich schlich er zum Treffpunkt der Schwestern. Da war alles so, wie Elwine es gesagt hatte, und beschämt wollte sich Willfried unerkannt zurückziehen. Aber es knackte ein Zweig unter seinen Füßen. Entsetzt fuhren die Wasserköniginnen empor und erblickten Willfried. Elwine schrie auf, ein greller Blitzstrahl schlug vor Willfried in die Erde, als er wieder aufsah, waren die vier Schwestern verschwunden. Willfried klagte und flehte, dich Elwine kehrte nicht zurück. So sehr er auch die Gegend absuchte, es fand sich nichts als das rote Horn, das Elwine zrückgelassen hatte.
Fröhlich ist Willfried niemals wieder geworden. Auf seiner Burg lebte er still und zurückgezogen. Nur manchmal suchte er die Stätten auf, an denen er mit Elwine geweilt hatte. Er ließ an ihrem Lieblingsplätzchen ein Häuschen bauen,über dessen Tür als Wahrzeichen ein rotes Horn angebracht wurde. Dort verbrachte er seine letzten Lebtage, dort auch wurde er beerdigt. Lange Zeit soll sein Grab von unbekannter Hand geschmückt worden sein, bis es eines Tages verschwunden war. An seiner Stelle sprudelte eine salzige Quelle hervor. Das Haus mit dem roten Horn ist ebenfalls verschwunden. Geblieben ist der Name, der der Ganzen umliegenden Gegend gegeben wurde. Von Willfried erzählt die Sage weiter, dass er ob seiner Treue bis in den Tod von Elwine noch in ihr Reich geholt worden sei."
(Quelle: Fuhlrott, O./Pötzsch R.: Magdeburger Sagen)
Ich horche und warte, kein Stein entgeht mir,
keine Kreatur unter dem Himmel;
aus den Rinden der Bäume will ich lesen,
die Steine sollen mich mit ihrer Kraft taufen,
die Wälder mich einlassen,
die Kräuter mich Wunder und heilsame Zauberei lehren.
Gustav Schenk