Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Pressemitteilung des Kanzlers Nichtamtliche Übersetzung
26/02/02 RECHTSSACHE KUTZNER GEGEN DEUTSCHLAND
099d 26.2.2002
Mit einem am 26. Februar 2002 in Straßburg verkündeten Urteili hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig entschieden, dass in der Rechtssache Kutzner gegen Deutschland (Nr. 46544/99) ein Verstoß gegen Artikel 8 (Recht auf Achtung des Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtsrechtskonvention vorliegt.
Nach Artikel 41 (gerechte Entschädigung) der Konvention hat der Gerichtshof den Beschwerdeführern eine Entschädigung von 15000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und von 8000 Euro (abzüglich 350,63 Euro) für die ihnen entstandenen Kosten und Auslagen zugesprochen. (Das Urteil liegt nur auf Französisch vor.)
1. Sachverhalt
Die Beschwerdeführer, Ingo und Annette Kutzner, sind deutsche Staatsangehörige, geboren 1966 bzw. 1968 und wohnhaft in Badbergen (Deutschland). Sie sind verheiratet und Eltern von zwei Töchtern, nämlich Corinna, geboren am 11. September 1991, und Nicola, geboren am 27. Februar 1993.
Die Beschwerdeführer und ihre beiden Kinder lebten seit der Geburt der Kinder zusammen mit den Eltern von Herrn Kutzner und einem nicht verheirateten Bruder in einem alten Bauernhaus. Die Beschwerdeführer hatten eine Sonderschule für Lernbehinderte besucht. Aufgrund eines Rückstands in ihrer physischen und vor allem intellektuellen Entwicklung wurden die beiden Kinder mehrfach ärztlich untersucht; auf den Rat eines der Ärzte hin wurden die beiden Mädchen auf Initiative der Beschwerdeführer bereits in frühester Kindheit pädagogisch unterstützt und gefördert.
Mit Urteil vom 27. Mai 1997 hat das Vormundschaftsgericht Bersenbrück den Beschwerdeführern die elterliche Sorge über ihre beiden Töchter entzogen und deren Unterbringung in Pflegefamilien angeordnet, insbesondere weil die Beschwerdeführer nicht die erforderlichen intellektuellen Fähigkeiten hätten, um ihre Kinder zu erziehen. Das Vormundschaftsgericht machte auch die erheblichen körperlichen und seelischen Entwicklungsverzögerungen der Kinder sowie die mangelnde Zusammenarbeit der Beschwerdeführer mit den Sozialdiensten geltend.
Mit Urteil vom 29. Januar 1998 bestätigte das Landgericht Osnabrück die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts, die Unterbringung der Kinder in Pflegefamilien anzuordnen. Das Landgericht stützte sich dabei auf zwei Sachverständigengutachten; im ersten dieser Gutachen wurde der Akzent auf das intellektuelle Defizit der Eltern gelegt, während das zweite auf ihre emotionalen Defizite abstellte.
Die Kinder wurden in getrennten Familien in Inkognitopflege untergebracht, und den Beschwerdeführern wurde nur ein beschränktes Besuchsrecht gewährt. So konnten die Beschwerdeführer ihre Kinder in den ersten sechs Monaten überhaupt nicht sehen, anschließend wurde ihnen das Recht auf einen Besuch von einer Stunde pro Monat in Anwesenheit Dritter eingeräumt; später wurde das Besuchsrecht auf zwei Stunden monatlich ausgedehnt.
2. Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs
Die Beschwerde wurde am 5. Juli 1998 bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte eingereicht und am 1. November 1998 an den Gerichtshof weitergeleitet. Sie wurde am 10. Juli 2001 für zulässig befunden.
Das Urteil wurde von einer Kammer verkündet, die sich aus folgenden sieben Richtern zusammensetzte:
Antonio Pastor Ridruejo (Spanien), Präsident, Georg Ress (Deutschland), Lucius Caflisch (Schweiz), Jerzy Makarczyk (Polen), Ireneu Cabral Barreto (Portugal), Nina Vajić (Kroatien), Matti Pellonpää (Finnland), Richter
und Vincent Berger, Sektionskanzler.
3. Zusammenfassung des Urteils
Beschwerdepunkte
Die Beschwerdeführer machten geltend, dass durch den Entzug der elterlichen Sorge über ihre Töchter und durch deren Unterbringung in Pflegefamilien das in Artikel 8 verankerte Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt worden sei.
Entscheidung des Gerichtshofs
Artikel 8
Der Gerichtshof gesteht zu, dass die Behörden zu Recht Befürchtungen wegen der bei den Kindern von den verschiedenen Sozialdiensten und den psychologischen Sachverständigen festgestellten Entwicklungsverzögerungen hegten; er ist allerdings der Auffassung, dass die Unterbringungsmaßnahme als solche und vor allem deren Durchführung nicht angemessen gewesen sind.
Die Kinder haben nämlich offensichtlich seit ihrer frühesten Kindheit, im Übrigen auf Bitte der Beschwerdeführer hin, pädagogische Fördermaßnahmen erfahren, und die Situation scheint sich insbesondere wegen des konfliktgeladenen Verhältnisses zwischen den Beschwerdeführern und einer Sozialarbeiterin, die dem Jugendamt Osnabrück einen sehr negativen Bericht erstattet hat, verschlimmert zu haben.
Außerdem widersprachen sich die in verschiedenen Stadien des Verfahrens von den innerstaatlichen Gerichten eingeholten psychologischen Sachverständigengutachten, wenn nicht in ihren Schlussfolgerungen, so doch zumindest in den angeführten Gründen (nach dem einen Gutachten: mangelnde intellektuelle Fähigkeit der Eltern; nach dem anderen: emotionales Defizit, das zur Unfähigkeit führt, zur Entwicklung der Persönlichkeit der Kinder beizutragen). Ferner befürworteten andere psychologische Sachverständige, die vom Deutschen Kinderschutzbund oder der Aktion Rechte für Kinder e.V. bestellt worden waren, sowie die Ärzte der Familie die Rückkehr der Kinder in ihre Herkunftsfamilie. Diese Sachverständigen stellten insbesondere heraus, dass das Wohl der Kinder nicht gefährdet sei und die Beschwerdeführer durchaus in der Lage seien, ihre Kinder sowohl in emotionaler als auch intellektueller Hinsicht zu erziehen, und sprachen sich für ergänzende pädagogische Fördermaßnahmen für die Kinder aus. Die fraglichen Schlussfolgerungen können nicht einfach außer Acht gelassen werden, weil sich diese Sachverständigen privat geäußert haben. Außerdem ist zu keinem Zeitpunkt vorgebracht worden, dass es den Kindern an Pflege seitens der Beschwerdeführer gefehlt habe oder sie von ihnen misshandelt worden seien. Selbst wenn sich folglich die zu Beginn ergriffenen pädagogischen Fördermaßnahmen anschließend als unzureichend erwiesen haben, erhebt sich unter Umständen die Frage, ob die nationalen Behörden und Gerichte die Ergreifung ergänzender und alternativer Fördermaßnahmen zu der bei weitem radikalsten Maßnahme der Trennung der Kinder von ihren Eltern hinlänglich genug erwogen haben.
Der Gerichtshof macht anschließend darauf aufmerksam, dass eine Entscheidung zur Übernahme der Betreuung eines Kindes grundsätzlich als eine vorübergehende Maßnahme anzusehen ist, die aufzuheben ist, sobald die Umstände dies erlauben, und dass jede Durchführungshandlung ein letztes Ziel anstreben muss, nämlich die leiblichen Eltern und das Kind erneut zu vereinen. Die positive Verpflichtung, Maßnahmen zu ergreifen, um die Zusammenführung der Familie zu erleichtern, sobald dies wirklich möglich ist, besteht für die zuständigen Behörden schon zu Beginn des Zeitraums der Betreuungsübernahme und gewinnt immer mehr an Gewicht, muss jedoch stets gegenüber der Verpflichtung, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen, abgewogen werden.
Im vorliegenden Fall sind nun aber nicht nur die Kinder aus ihrer Herkunftsfamilie herausgenommen worden, sondern auch in getrennten Familien in Inkognitopflege untergebracht worden, wobei jeglicher Kontakt zu ihren Eltern im ersten halben Jahr unterbrochen worden war. Die Kinder selbst sind im Übrigen nie von den Richtern angehört worden.
Aus den Verfahrensunterlagen geht überdies hervor, dass den Beschwerdeführern erst nach einer von ihnen eingereichten gerichtlichen Klage ein Besuchsrecht gewährt wurde und dass dieses Recht in der Praxis systematisch durch das Jugendamt Osnabrück behindert wurde, sich zunächst auf eine Stunde pro Monat beschränkte und in Anwesenheit von acht nicht zur Familie gehörenden Personen stattfand, bevor es durch Entscheidung des Vormundschaftsgerichts Osnabrück vom 9. Oktober 2000 auf zwei Stunden pro Monat ausgeweitet wurde, wobei den Großeltern gestattet wurde, ein Mal alle zwei Monate daran teilzunehmen.
Angesichts des sehr jungen Alters der Kinder mussten solche Kontaktunterbrechungen, dann solche Einschränkungen des Umgangsrechts nach Meinung des Gerichtshofs zwangsläufig zu einer wachsenden Entfremdung der Kinder in Bezug auf ihre Eltern, aber auch der Kinder untereinander führen. Ebenso kann die diesbezügliche Streitigkeit nicht als erledigt angesehen werden, denn die Beschwerdeführer haben stets nicht nur die Unterbringung ihrer Kinder in Pflegefamilien, sondern auch die Einschränkungen ihres Umgangsrechts beanstandet, und es kann ihnen wirklich nicht zum Vorwurf gemacht werden, von den von den innerstaatlichen Gerichten vorgeschlagenen Modalitäten Gebrauch gemacht zu haben, um ihre Kinder zumindest sehen zu können.
Angesichts all dieser Aspekte ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die von den nationalen Behörden und Gerichten geltend gemachten Gründe zwar stichhaltig waren, jedoch nicht ausreichten, um diesen schweren Eingriff in das Familienleben der Beschwerdeführer zu rechtfertigen. Trotz des Ermessensspielraums der nationalen Behörden stand der Eingriff folglich im Hinblick auf die verfolgten legitimen Ziele außer Verhältnis. Artikel 8 der Konvention ist daher verletzt worden.
Die Urteile des Gerichtshofs sind auf dessen Website (http://www.echr.coe.int) zu finden.
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Kanzler des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte F - 67075 Strasbourg Cedex Kontakt: Roderick Liddell (Telefon : +33 (0)3 88 41 24 92) oder Emma Hellyer (Telefon: +33 (0)3 90 21 42 15) Fax : +33 (0)3 88 41 27 91
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde 1959 in Straßburg gegründet, um über Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 zu urteilen. Am 1. November 1998 wurde er zu einer ständigen Einrichtung. Er trat an die Stelle der zwei ursprünglichen Organe, der Kommission und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die die Fälle nacheinander untersuchten.
In Sachen Kaminski: Dieser Film bewegt
Wiederholung Donnerstag, 20. April 2006 10.30-12.00 ARD
In Sachen Kaminski Justizdrama, Deutschland, 2004, 90 min
"Das Problem war: Dieser Film bewegt"
Warum die ARD "In Sachen Kaminski" erst jetzt zeigt: Gespräch mit Regisseur Stephan Wagner und Darsteller Matthias Brandt
Kontroverser Fernsehfilm: "In Sachen Kaminski" - Foto: SWR
Berlin - Quote gegen Qualität, dieses Duell geht auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen immer häufiger zugunsten der Quote aus. Der Ausstrahlung des Films "In Sachen Kaminski", den die ARD morgen um 20.15 Uhr zeigt, ging eine Kontroverse darüber voraus, ob man dem Zuschauer den Film zumuten könne. Der Film erzählt die Geschichte minderbegabter Eltern, denen vom Jugendamt das Sorgerecht für ihre fünfjährige Tochter entzogen wird, weil das Kind zu Hause nicht ausreichend gefördert werde. Über den Film und die Kontroverse sprach Antje Hildebrandt mit Regisseur Stephan Wagner und Hauptdarsteller Matthias Brandt.
DIE WELT: Herr Wagner, Ihr Film behandelt ein Thema, für das Behörden den Begriff "Beelterung" erfunden haben. Was genau heißt das?
Stephan Wagner: Also, einem Kind würde ich sagen, wenn nicht mehr deine Eltern darüber entscheiden, was mit dir passiert, sondern das Jugendamt.
WELT: Ein fürchterliches Wort. Ist es der Schlüssel zu einem Plädoyer gegen Behördenwillkür?
Wagner: Kann man so sagen. Beelterung suggeriert, daß irgend jemand anders die Verantwortung übernehmen kann als die Eltern selbst. Und das ist ein Keil, der in die Seele eines Kindes getrieben wird. Unser Film erzählt die Geschichte einer Familie, die selbst um Hilfe nachgesucht hat. Doch weil die Beteiligten zwar das Beste wollen, aber schematisch agieren, lösen sie eine Tragödie aus.
WELT: Die ARD hat sich damit schwergetan, für diesen Film einen passenden Sendeplatz zu finden. Ist für gesellschaftlich relevante Stoffe im öffentlich-rechtlichen Abendprogramm kein Platz?
Wagner: Ich glaube, deutsches Fernsehen bewegt sich zwischen zwei Polen. Der eine ist die Gefälligkeit, einfach unterhaltsame Geschichten zu erzählen. Solche Filme haben ihre volle Daseinsberechtigung. Der andere Pol ist die Nachhaltigkeit. Das heißt, ein Film beschäftigt den Zuschauer weit über die 90 Minuten hinaus. Das Medium hat das Potential, mit einem Spielfilm Millionen von Zuschauern mit einem Thema zu erreichen. Und zwar möglichst nicht didaktisch, sondern so, daß sie darin eintauchen und sich eine eigene Meinung dazu bilden.
WELT: Warum, glauben Sie, hat die ARD mit der Ausstrahlung Ihres Films gezögert?
Wagner: Ich glaube, das Problem war: Dieser Film bewegt. Er löst vieles an Gefühlen aus. Er könnte verstören. Ich habe selber drei Kinder, und ich glaube, der Verlust eines Kindes rührt an eine Urangst, die wir alle mit uns herumtragen. Man hat sich bei der ARD die Frage gestellt, ob der Zuschauer um 20.15 Uhr heute noch bereit ist, sich einer solch emotionalen Reise auszusetzen. So ein Film muß natürlich auch gegen andere Filme konkurrieren.
WELT: Jetzt läuft der Film doch im Abendprogramm. Wie kam es bei der ARD zu diesem Sinneswandel?
Wagner: Vor einem Jahr ist der Film auf Arte gelaufen. Ich glaube, daß die Reaktionen auf die Ausstrahlung und die Auszeichnungen beim Filmfest in München und bei den Fernsehtagen in Baden-Baden die Verantwortlichen ermutigt haben.
WELT: Es werden immer weniger TV-Filme gedreht.
Wagner: Richtig, folglich wird auch der Anteil der außergewöhnlichen Geschichten kleiner. Und der Erfolgsdruck steigt. Und der bemißt sich entweder nach der Quote oder nach Auszeichnungen. Oder nach beidem.
WELT: Herr Brandt, Sie spielen Martin Kaminski, den minderbegabten Vater einer Fünfjährigen. Was hat Sie an der Rolle eines Mannes gereizt, der einen IQ hat, der halb so groß ist wie Ihr eigener?
Matthias Brandt: Mich hat die Welt interessiert, in der sich diese Figur bewegt. Ich mochte den Mann einfach unheimlich gern. Er hat mir gefallen in seiner Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit. Ich finde, daß er im Rahmen seiner Möglichkeiten Unglaubliches leistet.
WELT: Wie haben Sie sich der Figur genähert?
Brandt: Die Frage ist ja immer: Wo docke ich persönlich bei einer Rolle an? Also, ich habe zu Martin Kaminski sofort einen emotionalen Zugang gefunden. Vielleicht liegt das an meinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das ist ja auch der innerste Kern dieser Figur. Martin Kaminski ist nicht bereit, diese Ungerechtigkeit hinzunehmen. Daß er eine andere Konstitution hat als ich, psychisch oder intellektuell, spielt dabei gar nicht so eine große Rolle.
WELT: Aber persönlich hatten Sie keinen Kontakt zu Menschen wie den Kaminskis?
Brandt: Nein, das haben wir vermieden. Solche Begegnungen bergen immer die Gefahr, daß sie einen befangen machen. Außerdem wäre es eine Grenzüberschreitung, sich zu solchen Leuten ins Wohnzimmer zu setzen. Juliane Köhler und ich, wir haben aber in Berlin ein Café besucht, das von Menschen mit einem intellektuellen Defizit betrieben wird. Wir haben da einfach geguckt, wie die miteinander umgehen. Das war toll. So unaggressiv und emotional. Da ist eine große Wärme.
WELT: In der Anfangsszene schlägt Kaminski in einem Lexikon nach, um eine Antwort auf die Frage seiner Tochter zu finden, wer Brockhaus ist. Beim Zuschauer erweckt diese Szene den Eindruck, Sie lieferten die Figur dem Spott aus.
Brandt: Ich mochte diese Szene sehr gerne. Sie zeigt gleich: In was für eine Welt begibt man sich da? Daß so etwas auch eine Komik haben kann, dagegen habe ich überhaupt nichts. Warum darf man darüber nicht lachen? Die Leute lachen ja auch über sich selber.
Artikel erschienen am Di, 18. April 2006
http://www.welt.de/data/2006/04/18/875047.html
Re: Jugendamt Osnabrück: Fall Kutzner vor dem EGMR
Welt am Sonntag
10. Dezember 2006
Zu dumm für Kinder?; ARD-Film "In Sachen Kaminski"
AUTOR: Freia Peters
POLITIK; S.14 Heft 50/2006
HIGHLIGHT: Am Donnerstag wird der ARD-Film "In Sachen Kaminski" mit dem Medienpreis Bobby ausgezeichnet. Er erzählt eine wahre Geschichte: Die der lernbehinderten Eltern Annette und Ingo Kutzner, denen das Jugendamt das Sorgerecht für ihre Töchter entzog. Bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieben Jahre später entschied: Den Kutzners ist ein Unrecht geschehen
Das rote haus der Kutzners steht direkt an einer Kreisstraße im Artland, einer feuchten Ebene in Niedersachsen. Drinnen lodert ein Feuer im Kaminofen. Opa Kurt Kutzner, mit 67 Jahren wegen seiner Zuckerkrankheit erblindet, sitzt im Jogginganzug auf einem braunen Cordsofa. Opa und Oma Kutzner leben hier gemeinsam mit ihrem Sohn Ingo und seiner Frau Annette. Die schneidet gerade Brötchen auf und belegt sie mit Mortadella, dann versammelt sich die Familie um den Wohnzimmertisch.
Wann immer die Sprache auf einen Gerichtsbeschluss, ein Dokument oder ein Gutachten kommt, springt Oma Anna Kutzner auf, sucht und zerrt kurze Zeit später das entsprechende Schreiben hervor, das den Kampf um ihre Enkeltöchter belegt. Sie hat alle Zettel ordentlich abgelegt und die Ordner in fünf schwarzen Koffern aus Lederimitat gesammelt. "Oma, hol doch mal das Papier von dem Menschengericht", sagt Opa Kutzner.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass den Kutzners ein Unrecht geschehen ist. Nach einem fünf Jahre währenden Prozessmarathon urteilten schließlich sieben Richter in Straßburg in der "Affäre Kutzner gegen Deutschland", dass die Kutzners "unverschuldet als nicht erziehungsfähig" eingestuft worden seien. Das war am 26. Februar 2002: "Das Gericht erinnert daran, dass allein die Tatsache, dass ein Kind in einem Rahmen aufwachsen könnte, der seiner Entwicklung förderlicher wäre, keine Rechtfertigung dafür ist, es mit Gewalt von seinen biologischen Eltern zu trennen."
"Das war ein glücklicher Tag", sagt Ingo Kutzner. Er macht den Moment nach, als er seine Tochter Nicola, damals zehn Jahre alt, am 1. Dezember 2003 aus dem Haus ihrer Pflegefamilie abholte, streckt seine Arme in die Höhe und ruft: "Papa, ich bin hier! Nimmst du mich mit?" Nicola und ihre ältere Schwester Corinna kehrten nach sieben Jahren wieder zu ihren Eltern zurück. Die Familie war getrennt worden, weil die Eltern Kutzner als lernbehindert gelten.
Angefangen hatte alles ganz harmlos. Ein Hausarzt empfahl der Familie, sich bei der Erziehung der Kinder vom Amt unterstützen zu lassen. Das war 1993, Corinna war drei Jahre alt, Nicola ein Jahr. Die Frühförderung informierte das Jugendamt, eine Familienhelferin kam und lieferte einen Bericht. Darin stellte sie fest, dass die Versorgung der Kinder mit Nahrung und Kleidung gewährleistet sei, die Kinder offensichtlich der Mittelpunkt der Familie seien und dass sie geliebt würden. Aber sie schrieb auch, dass die Kutzners sich verhielten, als seien sie selbst noch Kinder. Sie kam zu dem Schluss, dass es nur schwer vorstellbar sei, dass die Kindeseltern aufgrund eigener Defizite ihren Kindern eine gesunde Entwicklung ermöglichen können.
Das Jugendamt wandte sich an den Verein für Familienorientierte Sozialpädagogik, der Pflegefamilien vermittelt. Auch die Pädagogen befanden, dass die Kinder nicht bei ihren Eltern aufwachsen sollten: "Ein Verflachung des Intelligenzquotienten ist vorprogrammiert. Eine Chance haben die Kinder durch eine neue Beelterung." Das Amtsgericht Bersenbrück entzog den Kutzners das Sorgerecht.
Ingo Kutzner arbeitet als Hausmeistergehilfe an einer Schule und säubert die Grünflächen. Annette Kutzner sortiert Hosen und Blusen in einem Altkleiderbetrieb, stopft sie in Säcke und beschriftet diese. Die Kollegen sagen, sie sei besonders zuverlässig. Annette und Ingo Kutzner können rechnen und schreiben, sie lesen jeden Morgen die "Bild"-Zeitung. Kennengelernt haben sie sich auf der Sonderschule. Einen Intelligenztest haben sie nie gemacht, sie kennen ihren IQ nicht. Der Durchschnitt liegt bei 100. Wer einen IQ von 120 hat, gilt als hochbegabt. Wer die 70 unterschreitet, als geistig behindert.
"Wir sind nicht blöd im Kopf", sagt Annette Kutzner. "Wir können ziemlich gut nachdenken." Ihre Töchter jedenfalls kennt sie genau. Corinna wird laut, wenn ihr etwas nicht passt. "Die schreit alles aus sich raus." Und Nicola, die Kleine, ist eher still, so wie sie selbst. "Meine Frau hat damals alles in sich reingefressen", sagt Ingo Kutzner.
Am 14. Februar 1997 mussten die Kutzners ihre Kinder im Verein für Familienorientierte Sozialpädagogik abgeben. "Wir wollten sie schonen und haben gesagt, dass sie Urlaub machen, und da haben sie sich dann auch gefreut."
Das erste Mal wiedergesehen haben die Kutzners ihre Kinder zehn Monate später. Die Mitarbeiter des Vereins machten sie darauf aufmerksam, dass sie ihre Töchter nicht umarmen dürften. In den folgenden sechs Jahren haben Annette und Ingo Kutzner ihre Kinder ein Mal im Monat für eine Stunde in den Vereinsräumen getroffen.
Dieser bekam ein extra Honorar vom Jugendamt für die Vermittlung einer "Profifamilie" - ein Begriff, den sich die Pädagogen aus Meppen patentieren ließen. "Lehrers, Leute, wo im Büro sitzen, und Akademiker" bekämen diesen Titel, erklärt Ingo Kutzner. Seine Töchter kamen in unterschiedliche Familien, weil laut Bericht die Gefahr bestand, die ältere Schwester würde die jüngere dominieren. Dort steht auch, dass Nicola nicht aufhörte zu fragen: "Wo ist meine Schwester?"
Annette und Ingo Kutzner kannten die Familien nicht, bei denen ihre Kinder lebten. Aber sie mussten für die Unterbringung zahlen, monatlich 200 Mark. Das Jugendamt unterstützte die Pflegefamilien jeden Monat mit 7300 Mark. Damit hätten die Kutzners einen Privatlehrer rund um die Uhr bezahlen können. Eigentlich sollte ja die drohende geistige "Verflachung" der Mädchen verhindert werden.
Diverse Gegengutachten von Ärzten und Professoren, in Auftrag gegeben vom Verein Aktion Rechte für Kinder, empfahlen, Corinna und Nicola ihren Eltern zurückzugeben und begleitend zu unterstützen. Doch weder das Vormundschafts- noch das Amtsgericht revidierten das einmal gefällte Urteil. "Dass das Jugendamt so etwas macht, das versteht man einfach nicht", sagt Opa Kutzner.
Constanze Lohse arbeitet für die Lebenshilfe Braunschweig, die behinderte Eltern betreut. Sie erlebt, dass manche Mitarbeiter des Jugendamtes von vornherein ausschließen, dass Kinder mit lernbehinderten Eltern gut aufwachsen. Gerade jetzt. "Ich kann mir vorstellen, dass es ein Trauma jedes Jugendamtsmitarbeiters ist, für so etwas Schreckliches verantwortlich zu sein wie für den Tod des kleinen Kevin in Bremen", sagt Lohse.
In vielen Familien mit geistig Behinderten klappe das Zusammenleben jedoch prima. "Mangelnde Bildung kann man aufheben mit Krippenplätzen und integrativen Maßnahmen." Geistige Einschränkungen der Eltern seien nicht so schlimm wie emotionale. "Viele gehen besonders liebevoll mit ihren Kindern um. Sie sind oft nur unsicher, einen Erziehungsstil zu finden. Dabei muss man ihnen helfen", sagt Lohse. "Lernbehinderte oder geistig behinderte Frauen werden Kinder bekommen, das wird immer so sein. Wir müssen lernen, damit umzugehen."
Corinna Kutzner ist heute 15 Jahre alt, ihre Schwester Nicola 13 Jahre. Auf Wunsch der Eltern besuchen sie ein Internat, an den Wochenenden kommen sie nach Hause. "Im Internat können die besser bei den Hausaufgaben helfen", sagt Annette Kutzner. "Wir können ja auch gar kein Englisch." Doch die Mädchen haben Schwierigkeiten in der Schule, besonders Nicolas Zensuren werden schlechter. Ihr Pflegevater ist gestorben, kurz nachdem sie die Familie verließ. Nicola denkt, es sei ihre Schuld.
Ein Wochenende im Monat verbringen die Mädchen bei ihren Pflegefamilien. Während Nicola meist lieber zu Hause bleiben möchte, fiebert Corinna den Besuchen entgegen. Vor ein paar Monaten ist sie mit ihrer Pflegefamilie nach Hamburg gefahren und hat ein Musical besucht. Bezahlt hat das Jugendamt. "So was können wir uns nicht leisten", sagt Ingo Kutzner.
"Sie haben uns immer wieder vorgeworfen, wir könnten den Kindern nichts bieten." Das wollten die Kutzners nicht auf sich sitzen lassen, sie haben gespart und einen Esel gekauft, dem die Kinder den Namen Rasputin gegeben haben. Rasputin grast draußen auf der Weide in der Dämmerung. Ingo Kutzner legt einen Holzscheit nach, seine Frau macht sich daran, einen Kuchen zu backen. Morgen kommen die Kinder aus dem Internat.
Familie Kutzner versammelt sich am Küchentisch: Nicola, 13, Mutter Annette, Vater Ingo und Corinna, 15 (v.l.)
Nils-Hendrik Müller
Re: Jugendamt Osnabrück: Fall Kutzner vor dem EGMR
Sehr geehrter Herr Uhl, das Unrecht, das man dieser Familie angetan hat, verfolgt mich noch heute. Habe es vor Jahren im Fernsehen gesehen und jetzt wieder im Internet gesucht in der Hoffnung auf ein gutes Ende, allerdings ohne den Familiennamen zu kennen, dafür aber umso hartnäckiger. Herzlichen Dank für Ihren Bericht, es gibt also Mitfühlende! Was mich zusätzlich erbost ist die Vermutung, dass die verantwortlichen "Verbrecher" im Kindergarten, im Jugendamt und am Gericht ungestraft ihre Posten behielten. Dass auch ich vor vielen Jahren durch eine richterliche Fehlentscheidung von meinen Geschwistern getrennt wurde - ich war groß genug, um bald wieder nach Hause fliehen zu können - trägt wohl zu meiner Betroffenheit bei, was ich jetzt erst merke. Mit Dank und Gruß Waltraud K.-B.