Kreisjugendamt Donau-Ries: Marcel
Jugendamt und Kindesentzug "Die haben mir mein Kind weggenommen"
01.11.2010, 14:50 2010-11-01 14:50:23
* Lesezeichen hinzufügen
* Drucken
* Versenden
Von Charlotte Frank
Falsche Vorsicht: Weil eine Gutachterin sie für krank und gefährlich hielt, musste der Sohn von Bettina S. ins Heim. Eine tragische Geschichte. Und eine, die erst nach dem Tod von Kevin möglich wurde.
Der Tag, an dem Marcel verschwand, war ein Donnerstag im März, statt der Schultasche lag mittags ein Brief im Flur. In dem Moment, als Bettina S. den Umschlag öffnete, wurde die Stille im Haus ohrenbetäubend, sie hatte nur noch einen entsetzten Gedanken im Kopf: "Die haben mir mein Kind genommen."
Ein Kind muss ins Heim - obwohl es nicht müsste (Symbolbild) (© dpa)
Sieben Monate später sitzt Bettina S., 35, in ihrer Küche in der Nähe der bayerischen Stadt Nördlingen, die Anstrengung der vergangenen Wochen hat dunkle Ringen unter ihre Augen gemalt. Trotzdem wirkt sie gelöst, blickt immer wieder hinüber zu Marcel, der mit dem Appetit eines Achtjährigen Quarktorte in sich hineinstopft. Drei Tage ist es her, dass er aus dem Heim entlassen wurde. Drei Tage, dass ein Fall endete, über den Bettina S.' Anwalt sagt, er habe ihn "selbst nach 20 Jahren familienrechtlicher Praxis für unmöglich gehalten". Marcels Therapeut sagt, er hätte sich "nicht träumen lassen, dass ein Amt das Kindeswohl so missachtet", und selbst der örtliche Landrat Stefan Rößle räumt ein, einiges an der Geschichte sei "überraschend". Aber man sei eben vorsichtig geworden.
Alle sind vorsichtig geworden, in ganz Deutschland: 2009 wurden 33710 Kinder aus ihrer Familie genommen, so viele wie noch nie. Seit 2005 ist die Zahl um 31 Prozent gestiegen. 2005 war das Jahr mit den wenigsten Inobhutnahmen, 2006 war das Jahr, in dem in Bremen der kleine Kevin starb. Seither schauen die Jugendämter noch genauer hin, erst recht in einem Landkreis wie Donau-Ries, zu dem Nördlingen gehört: 2007 wurde dort die einjährige Leonie vom Freund ihrer Mutter getötet. In der Region werden Entscheidungen nun offenbar besonders schnell getroffen, als schlage das Pendel in die andere Richtung aus.
Eine Einfamilienhaussiedlung am Rande eines bayerischen Dorfs. Die Garagen sind bunt bemalt, auf der Straße verwischen Kreidebilder, aus Baumhäusern schauen Kinder wie Vögel aus dem Nest. Hier lebt Bettina S. mit ihrem zweiten Mann, hier sollte Marcel zur Ruhe kommen nach all dem Streit der Eltern.
http://www.sueddeutsche.de/leben/jugendamt-und-kindesentzug-die-haben-mir-mein-kind-weggenommen-1.1018249
Jugendamt und Kindesentzug Grobe Fouls
01.11.2010, 14:50 2010-11-01 14:50:23
* Lesezeichen hinzufügen
* Drucken
* Versenden
Seit der Scheidung im Jahr 2004 sah er seinen Vater selten, doch selbst das ging nicht lange gut. Bettina S. stellt einen Laptop neben die Quarktorte und klickt Fotos an. Sie zeigen kurze Jungsbeine voll blauer Flecke - Bilder, die Marcel nach Tagen beim Vater zeigen, die auch nach jedem Fußballspiel entstanden sein könnten. Dann öffnet Frau S. Bilder von Blutergüssen auf Marcels Rippen, von Striemen im Gesicht. Das sieht schon nach sehr groben Fouls beim Fußball aus. Marcel erzählte, er sei vom Vater geschlagen und eingesperrt worden.
In Marcels Geschichte geht es auch um den hohen Preis, den Kinder zahlen müssen, wenn ihre Mütter und Väter sie im Streit als Pfund einsetzen. Die Gerichte achten seit Jahren immer mehr darauf, dass beide geschiedenen Eltern ihr Recht auf Umgang wahrnehmen können. Das ist gut - aber nur so lange, wie dadurch Elternrecht nicht über das Kindeswohl gestellt wird. So war es bei Marcel.
Es begann mit blauen Flecken, hinter denen Marcels Arzt Gewalt von außen vermutete. So hörte das Jugendamt Donau-Ries im Januar 2008, kurz nach dem Tod der kleinen Leonie, wieder von einem mutmaßlich misshandelten Kind.
ANZEIGE
Diesmal empfahl es sofort die Aussetzung des Umgangs, das Amtsgericht kam dem nach. Für ein Gespräch zwischen allen Beteiligten war offenbar keine Zeit mehr. Vielleicht hätte sich geklärt, was passiert war. Vielleicht hätte man erfahren, ob Marcel wirklich geschlagen worden war - oder ob ein Junge sich womöglich mit seiner Mutter solidarisieren wollte. Seinen Vater nannte er ja nicht einmal "Papa". Nur "den Anderen".
Das fiel auch der Gutachterin negativ auf, die das Gericht ein Jahr später einschaltete. Bettina S.' Gesicht wird hart, sobald die Rede auf die Augsburger Psychologin kommt, die zwei Mal in ihr Haus kam und sich zwei Stunden lang mit Marcel unterhielt - für Bettina S. nahm sie sich nur 45 Minuten Zeit. Marcels Mutter zieht aus einem grauen Ordner das Ergebnis dieser Gespräche heraus: 37 Seiten Papier, die ihre Familie auseinanderrissen.
Die Treffen zwischen Marcel und seinem Vater hatten einfach nicht funktioniert. Selbst als eine Verfahrenspflegerin mitkam, wollte der Junge nicht aus dem Auto steigen. Zuletzt gab das Gericht das Gutachten in Auftrag. "Die massive Ablehnung des Vaters lässt Zweifel, inwiefern Frau S. in der Lage ist, Marcel bedingungslos zu akzeptieren", liest Frau S. über sich selbst vor. Dann wird sie lauter: "Ihn doch zu akzeptieren, ist unter so extremen Bedingungen nur im Rahmen einer Spaltung möglich."
Sie hat weitere Passagen angestrichen, über Neurosen und Persönlichkeitsstörungen, die unter anderem mit ihrem Wunsch nach Annullierung der ersten Ehe belegt werden. Wütend schlägt Bettina S. die Akte zu, in der die sie als krank und gefährlich beschrieben wird. "Und das nach 45 Minuten Gespräch", ruft sie, fassungslos.
http://www.sueddeutsche.de/leben/jugendamt-und-kindesentzug-die-haben-mir-mein-kind-weggenommen-1.1018249-2
Jugendamt und Kindesentzug Entscheidung ohne zweite Meinung
01.11.2010, 14:50 2010-11-01 14:50:23
* Lesezeichen hinzufügen
* Drucken
* Versenden
Das Jugendamt und das Gericht hingegen akzeptierten den Inhalt, ohne Bettina S. getroffen oder eine zweite Meinung eingeholt zu haben. "Was ist denn, wenn wir prüfen, und zwischendurch passiert was?" fragt Josef Heckel, Leiter der Sozialabteilung im Landratsamt.
Er antwortet sich selbst: "Dann heißt es: Muss es erst ein Unglück geben, bevor das Jugendamt handelt?" Also handelte das Amt: Es schickte am 18. März Sozialarbeiter und Polizisten, die den schreienden Marcel aus der Schule fortnahmen. Bettina S. wurde nur durch den Brief im Flur informiert. Wo ihr Sohn war, verriet ihr keiner. Zwei Monate lang nicht. "Ich galt ja als verrückt", sagt sie.
Bettina S.' Stimme zittert, als sie erzählt, wie plötzlich alles, was sie tat, als Zeichen ihrer Spaltung gewertet wurde. Wie sie bei Besuchen im Heim wirklich glaubte, verrückt zu werden vor Traurigkeit, wenn ihr Sohn sich an sie klammerte und flehte, ihn mitzunehmen.
ANZEIGE
Vom ersten Tag an kämpfte sie für die Rückkkehr ihres Kindes, aber sie hatte zu viele Gegner: das Gericht, das Jugendamt, Marcels Vater. Er möchte sich nicht äußern, betont nur, wie wichtig es ihm sei, seinen Sohn zu sehen. Vor diesem Hintergrund galt die Maßnahme als Erfolg: Seit Marcel im Heim war, sperrte er sich nicht mehr gegen Treffen mit seinem Vater. "Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern", zitiert Abteilungsleiter Heckel das Grundgesetz. Er sei übrigens Jurist, sagt er, kein Psychologe, darum könne er nur beurteilen, dass die Heim-Unterbringung aus Sicht des Gesetzes richtig gewesen sei. Und aus Sicht des Kindeswohls? "Das Gutachten war schlüssig", sagt er.
Zwei Gegengutachten, die Bettina S. einholte, belegten jedoch das Gegenteil. Und auf unerklärliche Weise - auch auf Nachfrage der Süddeutschen Zeitung mag sie es nicht erklären - änderte die Psychologin vor dem Oberlandesgericht plötzlich ihre Meinung: "Ich möchte allerdings erwähnen, dass er bei der Mutter sozial gut eingebunden ist", sagte sie laut Protokoll über Marcel und seine Mutter, vor der sie so eindringlich gewarnt hatte. Nun plädierte sie mit einem neuen Argument gegen Marcels Rückkehr in die Familie: "Er würde nämlich nicht verstehen, warum er die ganze Zeit im Heim war." Doch da folgte ihr das Gericht nicht mehr. Am 15. Oktober durfte Marcel nach Hause. Von Gefährlichkeit seiner Mutter sprach plötzlich keiner mehr.
Zum ersten Mal an diesem Tag lächelt Bettina S. und blickt versonnen in den Garten. Draußen füttert Marcel mit seiner Schwester gerade die Hasen, das Lachen der Geschwister ist bis ins Haus zu hören. Seit Marcel zurück ist, lehnt er Türen nur noch an. Damit er immer zurück nach Hause kann.
http://www.sueddeutsche.de/leben/jugendamt-und-kindesentzug-die-haben-mir-mein-kind-weggenommen-1.1018249-3