Sexueller Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen als staatliche Aufgabe?
Von: Jürgen Roth [ Profil: hpd.de/autor/juergen-roth ]
12. OKT 2018
Schlagworte: Säkulare Grüne, Missbrauch, Katholische Kirche
[ FOTO: Symbolfoto Foto: Pexels.com Public Domain verändert ]
Die unter dem Druck der Öffentlichkeit von der Katholischen Bischofskonferenz in Auftrag gegebene Studie über sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen ist ein erschütterndes Dokument über Missbrauch und Gewalt. Sie zeigt, was passiert, wenn in einer abgeschotteten Parallelwelt ungezügelte Willkür herrscht.
Die Untersuchung selbst liefert leider nur einen ersten Einblick in eine über Generationen dauernde Ausnutzung von Abhängigkeit. Sie ist unvollständig, weil die Kirchenoberen bei der Untersuchung das Heft nie aus der Hand gegeben haben. So wurde den ForscherInnen kein unmittelbarer Zugriff auf die Akten der Diözesen eingeräumt. Die von Mitarbeitern der Kirche durchgesehenen Unterlagen wurden zudem sämtlich anonymisiert. Angesichts dieser massiven Behinderungen konnte nur ein Bruchteil der Fälle offengelegt werden.
Trotz all dieser gezielten Blockaden enthüllt die Studie, dass in kirchlichen Archiven Akten zu mindestens 1670 Tatverdächtigen und 3677 Betroffenen lagern. Die Katholische Kirche hat bisher lediglich bei 122 von 1670 aktenkundigen Tatverdächtigen eine Strafanzeige erstattet; das sind nur sieben Prozent. In den Kirchenakten finden sich 96 Opfer, die mehr als hundertmal von Klerikern missbraucht wurden. Wir haben es offensichtlich mit einem harten Kern von Intensivtätern zu tun.
Angesichts dieser Bilanz des Schreckens muss es auch wohlmeinende Kirchenmitglieder fassungslos machen, dass bislang gegen keinen deutschen Bischof oder einen anderen Amtsträger wegen Strafvereitelung oder Beihilfe durch Unterlassen ermittelt wurde oder gar eine Anklage erfolgt ist. Hier zeigt sich neben allen rechtlichen Problemen auch ein Abgrund von Unwillen, sich mit Kirchen "anzulegen".
Studie zum sexuellen Missbrauch gezielt geschönt
Die Katholische Kirche hat maßgeblich Einfluss genommen auf Fragestellung, Dokumente und Methoden der Untersuchung. Die Forscher haben das mit sich machen lassen. Anders als der ursprünglich vorgesehene Gutachter, der angesehene Kriminologe Prof. Pfeiffer, haben sie es hingenommen, dass ihnen die Einsicht in die Originalunterlagen verweigert wurde. Sie begnügten sich mit "bearbeitetem" Aktenmaterial. Zudem waren nicht einmal alle Bistümer bereit, sich an der Untersuchung zu beteiligen. Von einer unabhängigen Untersuchung kann also nicht die Rede sein.
Angesichts dieser misslichen Rahmenbedingungen sind die gelieferten Ergebnisse alles andere als ein Zeugnis der Aufrichtigkeit und Transparenz seitens der Bischöfe. Sie belegen vielmehr einen eklatanten Mangel an Ehrlichkeit beim Umgang mit eigenem Fehlverhalten.
Kirchen sind kein Staat im Staate
Dieser sattsam bekannten kirchlichen Geheimniskrämerei begegnen Politik und Öffentlichkeit leider noch immer mit Nachsicht. Sogar vielfach dokumentierter sexueller Missbrauch gilt als kircheninterne Angelegenheit, die allenfalls den Vatikan etwas angeht.
Die hartnäckige Mär von der rechtlichen Unangreifbarkeit der Kirchen treibt noch immer merkwürdige Blüten. Sie entstammt nicht zuletzt der frommen Legende, wonach es eine "Selbstbestimmungsgarantie" gebe, die sich aus Grundgesetz und Weimarer Verfassung ableite. Richtig ist vielmehr, dass Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV eine "Selbstverwaltung" zugestanden wird. Das ist etwas substantiell anderes als eine "Selbstbestimmung". Nicht einmal der Bundesjustizministerin ist offensichtlich dieser Unterschied geläufig. [ Siehe @ www.zeit.de/2018/41/katarina-barley-bundesjustizministerin-spd-interview/komplettansicht ]
Keine der großen Kirchen und keine der vielen kleineren Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft stehen über dem staatlichen Recht. Dieser Grundsatz gewinnt umso mehr an Bedeutung, je ausdifferenzierter sich Religion in Deutschland darstellt. Die Zahl der Mitglieder der Großkirchen ist von rund 95 Prozent in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich zurückgegangen. In wenigen Jahren rutscht die Zahl von 54 Prozent im Jahre 2017 unter die 50-Prozent-Marke. In den größeren Städten und den neuen Bundesländern ist dieser Erosionsprozess bereits wesentlich weiter fortgeschritten als in den ländlichen Regionen. Die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppen sind Muslime in allen Schattierungen sowie die Konfessionsfreien mit rund 40 Prozent.
Konfessionsfreie müssen in der Missbrauchsdebatte den Eindruck gewinnen, sexueller Missbrauch in katholischen Einrichtungen sei eine Art Privatangelegenheit der Bischöfe, die allenfalls dem Papst, nicht aber weltlichen deutschen Gerichten Rechenschaft schuldeten. Eine solche Einstellung ist mit dem Rechtsstaat des Grundgesetzes unvereinbar. Sexueller Missbrauch ist ein gesamtstaatlicher Skandal, der von den staatlichen Ermittlungsbehörden zu bekämpfen ist. Kirchliche Stellen haben hier lediglich eine Pflicht zur Unterstützung. Der Staat hat ein Gewaltmonopol auch gegenüber den Kirchen, die kein Recht auf rechtsfreie Räume haben.
Es gilt der Grundsatz der staatlichen Neutralität
Eine wirksame Strafverfolgung krimineller Kleriker darf nicht von der staatlichen Neutralität in Religionsfragen ausgebremst werden. Staatliches Recht bricht Kirchenrecht! Umgekehrt darf aber auch die Forderung nach mehr Transparenz der Kirchen nicht zu dem Fehlschluss verführen, der Staat möge die Kirchen an die "Kandare" nehmen. Wie sich eine Glaubensgemeinschaft organisiert, ist im Rahmen bestimmter grundgesetzlicher Vorgaben wie dem Schutz der Menschenrechte deren eigene Angelegenheit. Das Verbot der Staatskirche und der Grundsatz der staatlichen Neutralität in Fragen des Glaubens und der Weltanschauung setzt staatlicher Einflussnahme auf die interne Organisation dieser Einrichtungen Grenzen. Das ergibt auch heute noch Sinn, ist aber eben keine Bremse für das staatliche Gewaltmonopol bei der Durchsetzung des geltenden Rechts.
Auf einem anderen Blatt steht indes die gesellschaftliche Diskussion darüber, ob ein hierarchischer Organisationsaufbau ohne wirksame Transparenz- und Kontrollinstanzen nicht mit dazu geführt haben, ein Klima zu schaffen, in dem sexualisierte Gewalt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen gedeiht und über viele Jahre vertuscht werden kann. So ist auffällig, dass die Studie der Deutschen Bischofskonferenz selbst zu der Erkenntnis kommt, dass zölibatär lebende Priester wesentlich häufiger in Missbrauchsfälle verwickelt sind als verheiratete Diakone.
Um längst erkannte Missstände zu überwinden, sind insbesondere die Reformkräfte innerhalb der Katholischen Kirche gefordert, überfällige strukturelle Veränderungen nicht nur beständig einzufordern sondern auch einmal durchzusetzen. Diese Aufgabe kann und darf ihnen der Staat nicht abnehmen.
Katholische Kirche als oberste moralische Instanz?
Nicht erst heute stellt sich die Frage, ob eine Institution wie die Katholische Kirche ihren Anspruch als staatlich privilegierte "moralische Instanz" aufrechterhalten kann. Eine derartige Sonderstellung wird ihr allzu oft klaglos zugestanden. So beteiligen staatliche bzw. öffentlich-rechtliche Stellen wie z. B. die öffentlich-rechtlichen Medien die Kirchen an Entscheidungen mit ethischen Fragestellungen, so auch beim Jugendschutz. Wobei im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch die Frage der besonderen Sachkunde von Klerikern in einem ganz neuem Licht erscheint.
Fragen an die eigene moralische Glaubhaftigkeit muss sich auch der Stellvertreter des Herrn auf Erden gefallen lassen, wenn er lauthals Schwangerschaftsabbruch mit Auftragsmord gleichsetzt. Eine solche Aussage drückt womöglich die Besorgnis aus, dass jeder Schwangerschaftsabbruch das Angebot für Kleriker verringert.
Die nunmehr fast hundertjährige Sonderstellung der Kirchen als Staat im Staate führt zu zahlreichen unhaltbaren Wertungswidersprüchen. Diese treten nicht zuletzt bei der Behandlung der 1,4 Millionen Beschäftigten kirchlicher Organisationen immer offener zutage. Glücklicherweise hat hier der Europäische Gerichtshof den Anstoß gegeben, verfilzte alte Zöpfe mit der Heckenschere zu Leibe zu rücken. An die Stelle der bestehenden kirchlichen Paralleljustiz haben die staatlichen Arbeitsgerichte zu treten. Gewerkschaften müssen uneingeschränkten Zugang zu den Einrichtungen bekommen und die Einflussnahme kirchlicher Arbeitgeber auf das Privatleben der Beschäftigten ist abzustellen.
Grundlegend zu hinterfragen ist das kirchliche Gerichtswesen in seiner Gesamtheit. Die Anwendung des kanonischen Rechts darf kein Vorwand sein, auch bei Fällen des sexuellen Missbrauchs das Primat staatlicher Gerichtsbarkeit zu unterlaufen. Es ist vielmehr zu untersuchen, ob solche kircheneigenen Institutionen dazu beigetragen haben, sexuellen Missbrauch zu vertuschen und eine Bestrafung der Täter nach staatlichen Normen zu verhindern. Es reicht keineswegs aus, wenn katholische Gerichte selbst keinen Vorrang vor staatlichen Gerichten beanspruchen. Die Existenz jedweder Form von Paralleljustiz schadet der Rechtsstaatlichkeit, die vom Vertrauen in staatliche Institutionen und die Unabhängigkeit der Justiz lebt.
Es ist an der Zeit, die Debatte über Paralleljustiz nicht länger ausschließlich auf die Umtriebe islamischer "Friedensrichter" zu verengen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne berät in ihrer Sitzung am 19./20. Oktober [2018] eingehend über die Konsequenzen, die der säkulare Staat aus dem massenhaften sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche zu ziehen hat. Hier stehen u. a. folgende Forderungen zur Diskussion:
Es ist eine unabhängige Aufarbeitungskommission einzurichten. Dieser sind sämtliche Akten und Archive zugänglich zu machen, die sich in ihrem Besitz befinden und zur Aufarbeitung der Vorwürfe von Bedeutung sind. Die Regierungen des Bundes und der Länder müssen Druck auf die Bischöfe ausüben, mit der Kommission umfassend zu kooperieren.
Es ist ein Verzeichnis der Akten anzufertigen, die vernichtet oder manipuliert wurden.
Die unabhängige Kommission, ggf auch die Ermittlungsbehörden müssen dem Vorwurf nachgehen, dass Akten manipuliert wurden, um auf diese Weise Personen im Dienst der Katholischen Kirche vor der Strafverfolgung zu schützen. Hier steht der Verdacht Strafvereitelung mit einem Strafrahmen von bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe im Raum.
Wo der Verdacht auf mögliche Straftaten besteht, sind die erforderlichen Akten von den Ermittlungsbehörden zu beschlagnahm. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass Bistumsarchive über Aktenbestände verfügen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar Straftaten dokumentieren, die noch nicht verjährt sind.
Staatsanwaltschaften sollen sich nicht länger darauf berufen müssen, sie bräuchten einen Leak, um einen Anfangsverdacht zu haben und so ermitteln zu können. Aufklärung kann aber nicht so lange warten, bis jemand aus dem Archiv Fälle kopiert und an Behörden oder Medien weitergibt.
Die Position von Whistleblowern ist zu stärken: Wer sich offenbart und über Missstände berichtet, soll deswegen keine beruflichen Nachteile erleiden dürfen.
Es soll ein unabhängig arbeitender Entschädigungsfonds eingerichtet werden, der aus kirchlichen Mitteln finanziert wird. Der Fond hat sicher zu stellen, dass die Opfer sexuellen Missbrauchs ohne bürokratische und demütigende Überprüfung ihrer Ansprüche eine Entschädigung erhalten. Zu tragen sind die Heil- und Krankenbehandlungen (auch Psychotherapie bei psychischen Schäden), Rentenleistungen, Fürsorgeleistungen und bei Bedarf besondere Hilfen im Einzelfall. Das betrifft Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben, zur Pflege, zur Weiterführung des Haushalts sowie ergänzend zum Lebensunterhalt. Auch Rehabilitationsmaßnahmen wie beispielsweise Kuraufenthalte bzw. Reha-Maßnahmen sollen vom Fonds übernommen werden.
Auf der Sitzung der Bundesarbeitsgemeinschaft ist eine vertiefte Debatte über einer weitere Verlängerung der Verjährungsfristen zu erwarten. Hier gilt es darum, die berechtigen Ansprüche der Opfer mit grundsätzlichen rechtsstaatlichen Wertentscheidungen in Einklang zu bringen. Bereits seit dem Jahre 2016 beginnt im Strafrecht die Verjährungsfrist erst mit Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers. Die Frist läuft dann noch einmal 20 Jahre. Eine erneute Verlängerung der Verjährungsfristen könnte letztendlich sogar den Druck auf eine zügige Strafverfolgung vermindern und so die Aufklärung der Straftaten noch weiter auf die lange Bank schieben. Das liefe aber den Interessen der Betroffenen an einer zügigen Aufklärungsarbeit und einer beschleunigten Strafverfolgung zuwider.
ÜBER DEN AUTOR:
Jürgen Roth Jürgen Roth ist grüner Politiker. Er ist Mitglied im Beirat der Humanistischen Union (HU); von 1984 bis 1996 war er Mitglied des Vorstandes der HU. Er ist zudem Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne. .
WIKIPEDIA @ de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Roth : Jürgen Roth (Politikwissenschaftler) (* 1956), deutscher Politikwissenschaftler und Politiker (Bündnis 90/Die Grünen)
»Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in Deutschland« : Wissenschaftliche Dienste @ www.bundestag.de/blob/412488/6c8695864984ca961c80e56680c5d75a/wd-6-186-11-pdf-data.pdf (insgesamt 20 Seiten) (Stand: 24.01.2012)
»Kirchliches Selbstbestimmungsrecht« in WIKIPEDIA de.wikipedia.org/wiki/Kirchliches_Selbstbestimmungsrecht (Stand: 24.03.2018)
Es ist der gängige Vorwurf: Die katholische Kirche deckt sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen, versetzt den Täter geräuschlos auf eine andere Stelle, unterstützt die Opfer nicht oder kaum. Spätestens seit dem Missbrauchsskandal 2010 sollte sich das hierzulande geändert haben: Die Kirche versprach damals Offenheit und Wiedergutmachung.
Dieser Film zeigt, wie es zwei befreundeten Priestern über fünf Jahrzehnte gelingt, unbehelligt davon zu kommen. Ihre Opfer warten bis heute auf Unterstützung. Weil die Kirchenoberen ihren Fall nur unzureichend aufklären, macht sich einer der Betroffenen selbst auf die Suche.
Ein Film von Eva Müller .
DasErste informiert auch ( weiter unten auf der dortigen Webseite in Antwort auf einen Leserkommentar ) mit folgendem Hinweis :
Bezüglich dieser Filmdokumentation: »Meine Täter, die Priester« :
Zitat: . Neben folgenden Wiederholungen finden Sie den Beitrag ab Ausstrahlung auch zu jeder Uhrzeit in unseren Mediatheken.
DasErste, 15./16. Oktober 2018, 03:40 Uhr
tagesschau24, Freitag, 19. Oktober 2018, 21:17 Uhr (VPS 21.16) tagesschau24, Samstag, 20. Oktober 2018, 13:15 Uhr (VPS 13.14) tagesschau24, Donnerstag, 25. Oktober 2018, 19:15 Uhr (VPS 19.14) tagesschau24, Sonntag, 28. Oktober 2018, 09:15 Uhr (VPS 09.14) . .
STUDIE: Verbrechen der Katholischen Kirche in Deutschland
. Die Sendung »Die Story im Ersten: Meine Täter, die Priester« begann am Spätabend Montag, 16. Oktober 2018, um 11:45 Uhr (15 Minuten später als zuvor angesagt) !!
Auf der ARD / DasErste-Webseite @ www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/meine-taeter-die-priester-100.html ist jetzt zu lesen :
Zitat: . "Allzu lange ist in der Kirche Missbrauch geleugnet, weggeschaut und vertuscht worden. Die Opfer haben Anspruch auf Gerechtigkeit." Es ist erst vier Wochen her, dass Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, diese Sätze gesagt und alle Opfer von Missbrauch durch katholische Amtsträger in Deutschland um Entschuldigung gebeten hat.
Dass der Umgang der Kirche mit Missbrauch auch aktuell noch problematisch ist, zeigt nun einer der prominentesten Opfervertreter in Deutschland Matthias Katsch in einer exklusiven ARD/WDR Recherche auf. Der ehemalige Canisius-Schüler und Sprecher der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" hat 2010 den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Deutschland ausgelöst. Über dreißig Jahre blieben die Verbrechen seiner Täter, der Jesuitenpriester Peter R. und Wolfgang S. im Verborgenen. Erst 2010 werden ihre Taten am Canisius-Kolleg durch Matthias Katsch und seine Mitschüler öffentlich. Und dann? Nur so viel ist bislang bekannt: Beide Täter wurden nach 2010 in Chile gesehen.
Der Missbrauch geht weiter
Weil die Aufklärung nicht voran geht, hat Matthias Katsch die Dinge nun selbst in die Hand genommen. Er ist nach Chile gereist und hat dort nach den Spuren seiner Täter und weiteren Opfern gesucht und sie gefunden. Story-Autorin Eva Müller hat ihn dabei mit der Kamera begleitet. Die Recherche zeigt: Der zweite Haupttäter am Canisius-Kolleg, Wolfgang S., wohnt bis heute in Chile und hat dort einen Sportverein für Jugendliche gegründet. Er hat seinem ehemaligen Kollegen Peter R. von dort aus Jugendliche zum "Stipendium" nach Deutschland vermittelt. Während dieser Aufenthalte werden die Jugendlichen von Peter R. missbraucht.
Eine Rolle spielt auch das größte Sozialwerk Südamerikas: Christo Vive. Auch von hier aus brachen Jugendliche zu Priester Peter R. nach Deutschland auf, um bis zu einem Jahr bei ihm zu leben. Die Betroffenen sprechen in der ARD zum ersten Mal über Ihren Missbrauch durch Peter R. in Hildesheim, Berlin und Hannover.
Ein Film von Eva Müller . .
STUDIE: Verbrechen der Katholischen Kirche in Deutschland
Von Jan Sellner und Martin Haar - 14. Oktober 2018 - 16:36 Uhr
Angesichts der Studie über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche sind viele Gläubige erschüttert. Die Kirche muss sich deshalb ändern, fordert der katholische Stadtdekan Christian Hermes und nimmt im Interview kein Blatt vor den Mund.
[ FOTO: Ein Kirchenmann der klaren Worte: der katholische Stadtdekan Christian Hermes. - Foto: Lichtgut/Leif Piechowski ]
Stuttgart - Im System katholische Kirche stimmt etwas nicht was den Umgang mit Sexualität und Machtstrukturen betrifft. Diese Ansicht vertritt Stadtdekan Christian Hermes, der sich in dieser Woche mit heftiger Kritik zu Wort gemeldet hat. Das löst Nachfragen aus.
Herr Hermes, was hat Sie veranlasst, jetzt mit Ihrer Kirchen-Kritik an die Öffentlichkeit zu gehen?
Die Tatsache, dass uns blankes Misstrauen entgegenschlägt und auch sehr viele treue und gutwillige Kirchenmitglieder zutiefst verunsichert und enttäuscht sind. Und dass wir feststellen müssen, dass wir es nicht mit Einzelfällen, sondern mit systemischen Fehlern und institutionellem Versagen zu tun haben.
Was meinen Sie?
Es geht um theologisch hoch aufgeladene Kirchenstrukturen, bei denen sich zeigt, das sie sexuellen Missbrauch nicht verhindert haben, und mehr noch: teilweise sogar begünstigt haben. Es gibt hier ein Versagen im System, aber, wie mir scheint, auch ein Versagen des Systems.
Können Sie das erläutern?
Im Kirchenrecht gibt es die Kategorie des göttlichen Rechts. Damit wird auch die hierarchische und monarchische Struktur der Kirche begründet. Wenn diese Strukturen Transparenz und Kontrolle verhindern und klerikalen Machtmissbrauch begünstigen, kann das jedoch unmöglich göttlicher Wille sein. Wie sieht es denn aus, wenn wir nicht einmal die weltlichen Standards guter Führung einhalten? Die Kirche täte gut daran, Errungenschaften der politischen Geschichte wie Gewaltenteilung, Amtszeitbegrenzungen, Mitbestimmung, Checks and Balances, unabhängige Gerichtsbarkeit und so weiter zu beherzigen.
Bei Ihnen hat sich einiges angestaut.
Es ist unsere Kirche, in der sich einiges angestaut hat. Das hat sich durch die Veröffentlichung der Missbrauchs-Studie in Deutschland, aber auch die Befunde aus den USA, aus Irland, Chile, Australien und anderen Ländern entladen. Menschen, die sich mit dieser Kirche verbunden fühlen, sind im Mark erschüttert.
Sie auch?
Für mich ist der Punkt erreicht, wo ich mich frage, was ich mittragen und damit mitverantworten kann. Es gibt ja auch die Sünde durch Unterlassung und Schweigen. Vergangenen Sonntag sind in St. Eberhard erstmals zwei neue Glocken erklungen. Auf der einen steht ein Satz des aus Stuttgart stammenden Paters Rupert Mayer: Ich müsste noch viel mehr leiden, wenn ich schweigen müsste. Ein Satz, den wir bewusst an die große Glocke hängen. Wir wollen doch für Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit stehen. Das Vertuschen und Verschweigen muss ein Ende haben. Überall und auch in der Kirche.
Wer hat sich schuldig gemacht? Die Kirche insgesamt?
Es ist nachvollziehbar, wenn Außenstehende die Kirche insgesamt in Haftung nehmen. Ich verstehe allerdings nicht, wenn kirchliche Amtsträger Schuld kollektivieren, in dem sie sagen: wir seien schuldig geworden. Wer ist denn wir? Es muss klar benannt werden, welcher Bischof sich nicht ordentlich an der Missbrauchs-Studie beteiligt hat, wo Institutionen versagt haben. Warum wird das nicht klar gesagt? Warum ist der Vorschlag, einen innerkirchlichen Strafgerichtshof für solche Fälle einzusetzen, wieder in der Schublade verschwunden? Darauf möchte ich Antworten haben.
Wie ist die Situation in Stuttgart? Gab es hier auch Missbrauchsfälle?
In meiner Zeit als Dekan, also seit 2011, ist mir kein Fall bekannt, bei dem die Kommission Sexueller Missbrauch oder die Staatsanwaltschaft Straftaten ermittelt hätte. Ob die Kommission mit Fällen aus der Vergangenheit befasst war oder mit Vorwürfen, die nicht zu Verfahren geführt haben, weiß ich nicht, weil die Kommission streng vertraulich arbeitet. Klar ist für mich: Jemand, der sich daneben benimmt, hat in der Pastoral nichts verloren.
Haben Sie Verständnis für Menschen, die sich von der katholischen Kirche abwenden?
Ich verstehe, wenn Menschen sich abwenden und sagen, ich kann mich damit nicht mehr identifizieren. Wir können nur ganz demütig darlegen, was wir tun in der Aufarbeitung und Prävention. Ich gehe trotzdem davon aus, dass wir in hoher Zahl Austritte haben werden.
Waren Sie selbst schon an dem Punkt, an dem Sie sich abwenden wollten?
Nein. Ich bin Priester dieser Kirche und bin entschlossen, für meine Überzeugungen einzustehen. Ich übe Kritik nicht an der Kirche, sondern in meiner Kirche, weil ich sie liebe.
Was muss jetzt konkret passieren?
In unserer Diözese haben wir bereits sehr gute und weitgehende Regelungen zur Prävention und für den Schutz des Kindswohls getroffen. Das ist besonders ein Verdienst von Bischof Fürst, der hier seit Jahren entschlossen vorangeht. Ganz wichtig sind nun die Nachhaltigkeit, regelmäßige Kontrolle und eine dauerhafte Kultur der Aufmerksamkeit.
Und Sie wollen den Zölibat öffnen?
Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Zölibat und Pädophilie. Klar ist aber, dass wir vor allem in der Vergangenheit in unserer Kirche eine Sexualmoral erlebt haben, die Menschen nicht geholfen hat, ein gesundes Verhältnis zu ihrer Sexualität zu entwickeln, sondern eher auf Unterdrückung ausgerichtet war. Der Zölibat wird gefährlich, wo Männer, die ein Problem damit haben, in der Verdrängung die Lösung suchen. Ich bin für die Öffnung des Zölibats, nicht für die Abschaffung. Die Möglichkeit der Befreiung vom Zölibat sollte mehr genutzt werden, wie dies ja zum Beispiel bei konvertierenden anglikanischen Pfarrern schon geschehen ist. Ich persönlich empfinde den Zölibat als sinnvolle Lebensform. Wichtig ist es aber, Priester darin besser zu begleiten.
Was erwarten sie vom Papst?
Ich erhoffe mit vielen Gläubigen, dass der Heilige Vater sehr genau seine Verantwortung wahrnimmt, in dem, was er tut und sagt. Wir haben nun eine Äußerung von ihm gehört, die mich und viele umgehauen hat. Papst Franziskus hat Abtreibung mit einem Auftragsmord verglichen. Er weiß selbst, dass das nicht der kirchlichen Lehre entspricht, die immer die moralische Schuld auch nach den Umständen bemisst. Da müssen wir auch die Gewissensnöte der Frauen sehen und die konkreten Situationen.
Wie reformfreudig ist der Papst?
Papst Franziskus hat viel Gutes angestoßen und in Bewegung gesetzt. Grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass es aber bei allen Themen um Sexualität und Beziehung viele Spannungen und Verknotungen gibt und wir so nicht weiterkommen. Die Kirche sollte sich, gerade nach diesen Vorfällen, in Fragen der Sexualethik einfach mal ein paar Jahre eine Art Bußschweigen auferlegen. Einfach mal den Menschen zuhören und nachdenken, statt ständig irgendwelche Beurteilungen und Bewertungen über das Leben und die Sexualität der Menschen rauszuhauen.
Sie äußern sich unerschrocken. Was heißt das für Ihre Karriere in der Kirche?
Ich bin sicher nicht Priester geworden, um Karriere zu machen. Ich bin mit mir im Reinen und sage in großer Klarheit: Sollte das, was ich jetzt sage und tue für andere ein Zeichen dafür sein, dass ich ein schlechter Priester bin, dann möchte ich in einer Institution, die so denkt, keine Karriere machen. Aus ethischen Gründen verbietet es sich dann sogar. .
Und siehe auch:
Zitat: . Missbrauch in der katholischen Kirche
Stadtdekan bekommt Rückendeckung
Von Martin Haar und Lena Hummel - 10. Oktober 2018 - 19:29 Uhr
Beim katholischen Stadtdekan Christian Hermes steht das Telefon nicht mehr still. Kein Wunder. Seine Kritik an der eigenen Kirche im Zusammenhang mit dem Thema Missbrauch am Vortag war heftig ausgefallen. Alleine ist er mit seiner Meinung nicht. . QUELLE: StZ - STUTTGARTER-ZEITUNG.DE (10.10.2018) @ www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.missbrauch-in-der-katholischen-kirche-stadtdekan-bekommt-rueckendeckung.47873d58-3685-4dd5-84d9-5f14047f8a10.html
Und siehe auch:
Zitat: . Missbrauchfälle in der katholischen Kirche
Stadtdekan Hermes fordert Öffnung des Zölibats
Von Martin Haar - 09. Oktober 2018 - 17:32 Uhr
Erschüttert von den Missbrauchsfällen und der laschen Aufarbeitung in der katholischen Kirche rechnet Stadtdekan Hermes schonungslos ab und kritisiert sogar den Papst. . QUELLE: StZ - STUTTGARTER-ZEITUNG.DE (09.10.2018) @ www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.missbrauchfaelle-in-der-katholischen-kirche-stadtdekan-hermes-fordert-abschaffung-des-zoelibats.7c6ac325-97ad-4212-8c2b-2c5cc422eaf0.html .
STUDIE: Verbrechen der Katholischen Kirche in Deutschland
. Sputnik Deutschland (kurze Zusammenfassung): IMPRESSUM @ de.sputniknews.com/docs/about/impressum.html Verantwortlicher Diensteanbieter gemäß § 5 TMG Internationale Nachrichtenagentur Rossiya Segodnya (Federal State Unitary Enterprise) vertreten durch den Generaldirektor Dmitry Kiselev Zubovsky Boulevard 4 119021 Moskau Russland
Und siehe auch ÜBER UNS: de.sputniknews.com/docs/about/ueber_uns.html
HÖCHST AUFSCHLUßREICHER GANZ, GANZ LANGER ARTIKEL !!
Sputnik Deutschland @ de.sputniknews.com/religion/20180928322464690-sexuelle-missbraeuche-katholische-kirche/?fbclid=IwAR0l4OM2ARf3g8kmfs3hKPCgZ3MmLmPFW2S5409MhTqD2u8kyrVy72KSgi0 ( a Russian media-internetplatform of the highest international calibre ! ) :
Martin MITCHELL: Einer der besten und objektivsten Artikel zu diesem Thema !! :
Heidi DETTINGER, 1. Vorsitzende im »Verein ehemaliger Heimkinder e.V.« (»VEH e.V.«): Unbedingt lesenswert! Der wohl gründlichste und deutlichste Artikel zur Studie "Missbrauch" !! :
Zitat: . Täterschutz mit System Sexueller Missbrauch in Katholischer Kirche Deutschland
Kurzlink für diesen Artikel: https://sptnkne.ws/jDcU
Andreas Peter [ Profil: https://de.sputniknews.com/authors/andreas_peter/ ]
Die Römisch-Katholische Kirche in Deutschland befindet sich in der wohl größten Krise ihrer Geschichte. Die Deutsche Bischofskonferenz hat in Fulda eine Studie vorgelegt, die jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch durch tausende kirchliche Würdenträger sowie systematische Vertuschung und weitgehende strafrechtliche Nichtverfolgung belegt.
Studien und Gutachten sind immer ein zweischneidiges Schwert. Einerseits sind sie eine komprimierte Informationsquelle für ein ganz bestimmtes, oft komplexes Thema. Andererseits ist entscheidend, wer den Auftrag für eine Studie erteilt, welche Zielstellung er damit verfolgt und welche Datenbasis dafür zur Verfügung steht. Spätestens hier muss auf den wesentlichen Makel der nun vorgelegten Studie der Deutschen Bischofskonferenz hingewiesen werden [ Siehe @ www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf (Umfang: 3.9 MB; insgesamt 366 Seiten) ].
Die Gutachter hatten keinen freien Zugang zu den Archiven der 27 deutschen Bistümer. Sie mussten Fragebögen an die Archivare senden. Dort durchforsteten Rechercheteams die Akten, anonymisierten sie und füllten dann die Fragebögen aus. Aus diesen Daten lässt sich nicht nachvollziehen, welcher Kirchenmitarbeiter in welchem Bistum wann welchen sexuellen Missbrauch an welchen Betroffenen begangen hat und wie die Kirche darauf reagiert hat.
Basisdaten-Probleme
Die Probleme gingen bereits mit den Basisdaten los. Der Auftrag lautete, alle Missbrauchsfälle in der Römisch-Katholischen Kirche Deutschlands zwischen 1946 und 2014 einschließlich Beschuldigten, Betroffenen, Reaktionen und Konsequenzen der Kirche zu ermitteln, zusammenzufassen und zu bewerten. Darüber hinaus sollten Handlungsempfehlungen an die Deutsche Bischofskonferenz gegeben werden.
Selbst Laien wird schnell klar, welche Herkulesaufgabe das gewesen ist. Man kann sich vorstellen, dass die Zahl der kirchlichen Mitarbeiter in diesem langen Zeitraum immerhin 68 Jahre beträchtlich gewesen sein muss. Die Römisch-Katholische Kirche meldete [ Die Römisch-Katholische Kirche meldete Siehe @ www.dbk.de/fileadmin/redaktion/Zahlen%20und%20Fakten/Kirchliche%20Statistik/Eckdaten%20des%20Kirchlichen%20Lebens%20in%20den%20Bistuemern%20Deutschlands/2017-Flyer-Eckdaten-Bistuemer.pdf ] für das Jahr 2017, trotz anhaltend großer Austrittszahlen, immer noch einen Mitgliederbestand von 23,3 Millionen Menschen. Das sind rund 28 Prozent der deutschen Wohnbevölkerung. Sie werden nach Angaben der Bischofskonferenz in 10.191 Pfarreien und anderen Seelsorgestellen betreut. Die Katholische Weltkirche gilt dabei gemeinhin als beeindruckend gut organisiert und verwaltet.
Fragwürdige Aktenhandhabung
Umso fassungsloser waren die Forscher aus Mannheim, Heidelberg und Gießen, als sie feststellen mussten, dass von einer wirklich vorbildlichen und einheitlichen Archivierung in den 27 Bistümern Deutschlands keine Rede sein kann. In den Archiven fanden sich 38.156 Personalakten. Doch die Bistümer mussten einräumen, dass diese Akten nicht einmal den lebenden Personalbestand korrekt abbilden. Insbesondere erlebten die Wissenschaftler immer wieder, dass gerade Akten, die Beschuldigte betreffen, in geheimen und gesondert archivierten Handakten ablegt wurden und werden. Es gab keine einheitlichen Archivierungsfristen. Viele Akten erwiesen sich als vernichtet, unvollständig oder sogar manipuliert.
Die Erhebung der Basisdaten Statistiker nennen das Grundgesamtheit wurde auch dadurch beeinträchtigt, dass die Mehrheit der Mitarbeiter der zahlreichen katholischen Orden nicht einbezogen werden konnte, weil sie nicht Teil des Verbandes der Diözesen Deutschlands (VDD) sind.
Diözese ist ein anderes Wort für Bistum. Der VDD ist der Rechtsträger der Deutschen Bischofskonferenz, die den Auftrag für die Studie erteilt hat. In die Studie fanden lediglich solche Ordensangehörige Eingang, die sich in einem sogenannten Gestellungsauftrag mit einem deutschen Bistum befanden und befinden und von denen eine Personalakte oder eine andere relevante Unterlage in den Archiven der Bistümer existiert.
Viele Archive nur ab 2000 geöffnet
Als sei das alles nicht schon hinderlich und ärgerlich genug, mussten die Forscher auch noch damit leben, dass nur zehn der 27 Bistümer ihre Archive für den gesamten Untersuchungszeitraum öffneten, obwohl sich alle Bistümer zur Mitarbeit an der Studie verpflichtet hatten. Die 17 anderen Bistümer lieferten dennoch nur Informationen ab dem Jahr 2000. Das Forscherteam notiert deshalb auch lakonisch:
Vollständigkeit des Aktenbestandes nicht gewährleistet, Kriterien der Durchsicht standardisiert, Aktendurchsicht und Dokumentation von Diözesanpersonal und nicht vom Forschungsprojekt vorgenommen, Grad der Vereinheitlichung über Diözesen hinweg fraglich, Variation der Selektion von Fällen, Beschuldigten und Betroffenen über Diözesen hinweg nicht ausschließbar.
(MHG-Studie, Seite 26, Teilprojekt 6, Auswahlkriterien und Selektionsmechanismen)
Irgendwann entschlossen sich die Wissenschaftler, die bereits erwähnten 38.156 vorhandenen Personalakten als Grundgesamtheit anzusetzen, obwohl allen klar war, dass diese Zahl nicht die korrekte Zahl der kirchlichen Beschäftigten im Untersuchungszeitraum darstellt. Zusammen mit Strafakten und anderen Unterlagen konnten die Wissenschaftler dennoch eine Datenbasis erstellen, die letztlich zu einem Befund führte, der Gänsehaut verursacht.
3677 Missbrauchsfälle durch 1670 Kirchenmitarbeiter
Demnach wurden 1670 Kirchenmitarbeiter identifiziert, denen mindestens 3677 Missbrauchsfällen zugeordnet werden konnten. Die Studie legt schon wegen der unvollständigen Datenbasis Wert auf die Feststellung:
Diese Zahl stellt eine untere Schätzgröße dar; der tatsächliche Wert liegt aufgrund der Erkenntnisse aus der Dunkelfeldforschung höher.
(MHG-Studie, Seite 5, A.2 Zentrale empirische Befunde aus den Untersuchungen, Zahl der beschuldigten Kleriker)
Aus der Kriminologie und Sexualforschung ist schon lange bekannt, dass das sogenannte Dunkelfeld bei sexuellem Kindesmissbrauch deutlich größer ist als das sogenannte Hellfeld, also diejenigen Straftäter, die Polizei, Justiz und Medizinern überhaupt bekannt werden. Das machten die Forscher auch an einem kleinen Rechenbeispiel für ihre Studie deutlich.
Dunkelfeld vermutlich größer
Die Katholische Kirche gewährt allen Betroffenen von sexuellem Missbrauch eine Entschädigung, die in bestem Bürokratendeutsch Leistungen in Anerkennung des Leids, das Opfern sexuellen Missbrauchs zugefügt wurde heißt [ Siehe @ www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/Dossiers/Antragsformular_Leistungen_handschriftlich.pdf (Umfang des Antragsformulars: insgesamt 8 Seiten) ]. Die Forscher gingen routinemäßig auch die Anträge auf diese Leistungen durch und verglichen sie mit Personalakten von Beschuldigten. Dabei stellten sie fest, dass die Beschuldigungen nur in der Hälfte der Fälle Eingang in die Personalakten fanden. Die Studie kommt deshalb zu dem unmissverständlichen Schluss:
Damit wäre die Hälfte aller Fälle im Rahmen einer reinen Personalaktendurchsicht ohne die aktive Antragstellung der Betroffenen zu Leistungen in Anerkennung des Leids, das Opfern sexuellen Missbrauchs zugefügt wurde, nicht entdeckt worden. Dies gibt einen Hinweis auf das Ausmaß des anzunehmenden Dunkelfelds.
(MHG-Studie, Seite 5, A.2 Zentrale empirische Befunde aus den Untersuchungen, Zahl der beschuldigten Kleriker)
Betroffene leiden oft ein Leben lang
Das Ausmaß der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Betroffenen ist dagegen klar im Hellfeld. Die Betroffenen leiden mitunter lebenslang an den Folgen des oft mehrfachen Missbrauchs. Neben körperlichen Beschwerden sind es vor allem psychische Symptome, die Lebensplanung und Lebensführung der Betroffenen häufig irreversibel beeinträchtigen. Das reicht von Depressionen und Angst-, Schlaf- und Essstörungen über Suizidgedanken, Vermeidungs- und selbstverletzendes Verhalten bis hin zu Alkohol- und Drogenkonsum. Naheliegenderweise geht das oft einher mit Problemen in Ausbildung und Beruf bis hin zur Berufsunfähigkeit und Verarmung. Auch soziale Verarmung ist eine Spätfolge von sexuellem Missbrauch. Betroffene berichten häufig über zum Teil massive Probleme in Partnerschaften und Beziehungen sowie generell im Sozialverhalten.
Den meisten Nichtbetroffenen ist das ganze Ausmaß [ Siehe @ www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/fruehkindlicher_missbrauch_manifestiert_sich_in_der_hirnstruktur/ ] dieser Spätfolgen von sexuellem Missbrauch oft nicht klar. Die Beschuldigten lassen häufig Empathie für die von ihnen geschädigten Betroffenen vermissen. Sie sind oft weder in der Lage noch bereit, sich zu entschuldigen. Das verletzt die Betroffenen zusätzlich. Und die Reaktionen der Katholischen Kirche als Dienstherrin der Beschuldigten tragen dazu bei.
Verdacht auf Pädophilie oder Homosexualität
Ebenso unklar sind in der Öffentlichkeit die Zusammenhänge von zwei Erkenntnissen der Studie, die zwei besonders herausstechende Gruppen von Beschuldigten betreffen. Hier werden gern vorschnelle Pauschalisierungen vorgenommen, die aber nur bedingt weiterhelfen, um das Phänomen und Faktum des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in der Katholischen Kirche hinreichend plausibel zu erklären.
Zum einen ergaben die Untersuchungen der Akten, dass bei 28,3 Prozent der ermittelten Beschuldigten Hinweise auf eine pädophile Neigung vorhanden sein könnten. Wichtigstes Kriterium für diese Vermutung denn nichts weiter als eine Vermutung stellt dieser Wert dar ist die Tatsache, dass bei den erwähnten 28,3 Prozent jeweils mindestens zwei Betroffene zugeordnet werden konnten, die jünger als 13 Jahre waren. Ein gültiges alleiniges Diagnosekriterium für Pädophilie [ Siehe @ www.kein-taeter-werden.de/story/paedophilie-und-hebephilie.html ] ist das allerdings nicht. Jedem Sexualwissenschaftler würden die Haare zu Berge stehen, wenn das so in der Studie gestanden hätte. Allerdings wurde eine beinah identisch hohe Vermutungsrate (28,2%) innerhalb eines anderen Teilaspektes der Studie angegeben. Das wollten die Forscher nicht als Zufall abtun, selbst wenn die deutliche Mehrzahl der Beschuldigten keine solche sexuelle Präferenz aufweist.
Zum anderen ergab die Auswertung des Datenbestandes, dass in zwei Teiluntersuchungen der Studie vergleichsweise hohe Prozentwerte (14,0 und 19,1) registriert wurden, die auf homosexuelle Neigungen von Beschuldigten hinweisen. Das haben die Forscher deshalb für erwähnenswert gehalten, weil in einer Vergleichsgruppe Schulen nur 6,4 Prozent der Beschuldigten eine homosexuelle Präferenz äußerten. Der Unterschied ist offenkundig und erklärungsbedürftig.
Begünstigt die Kirche sexuellen Missbrauch?
Die statistischen Hinweise auf pädophile und homosexuelle Neigungen könnten mit einer anderen Erkenntnis der Studie in Zusammenhang stehen. Hingewiesen wird dort auf strukturelle Besonderheiten der Römisch-Katholischen Amtskirche, die möglicherweise sexuellen Missbrauch begünstigen. Von den 1670 Beschuldigten waren 1429 Priester das sind mehr als 85 Prozent aller ermittelten Beschuldigten. Rechnet man noch die 159 Beschuldigten hinzu, die als Ordenspriester im Gestellungsauftrag in den Bistümern tätig waren oder sind, dann erhöht sich der Priesteranteil an den Beschuldigten auf sage und schreibe 95 Prozent. Nur 24 der Beschuldigten waren hauptamtliche Diakone, und bei 58 konnte der Status nicht (mehr) ermittelt werden.
Dass die überwältigende Mehrheit der identifizierten Beschuldigten Priester waren oder sind, kann kein Zufall sein. Deshalb drängte sich eine Schlussfolgerung der Studie regelrecht auf. Die Wissenschaftler äußerten den Verdacht, dass der sogenannte Zölibat einen bedeutenden Einfluss auf das Sexualverhalten der Priester hat. Denn im Gegensatz zu Diakonen schreibt die Zölibats-Regel den Priestern ein Leben in sexueller Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit vor. Schon seit langem wird das von vielen Wissenschaftlern, aber auch Theologen als mindestens lebensfern charakterisiert, weil es die soziobiologischen Bedürfnisse von Menschen ignoriert. Die Studie bemerkt deshalb:
Auch wenn die Verpflichtung zum Zölibat sicherlich keine alleinige Erklärung für sexuelle Missbrauchshandlungen an Minderjährigen sein kann, legt der Befund nahe, sich mit der Frage zu befassen, in welcher Weise der Zölibat für bestimmte Personengruppen in spezifischen Konstellationen ein möglicher Risikofaktor für sexuelle Missbrauchshandlungen sein kann.
(MHG-Studie, Seite 12, A.3 Kontextualisierung der Befunde im Hinblick auf spezifische Strukturen und Dynamiken der katholischen Kirche im Verantwortungsbereich der Deutschen Bischofskonferenz, Zölibat)
Zieht die Katholische Kirche bestimmte Männer an?
Die katholische Kirche als männerdominierte Religionsgemeinschaft mit einer mindestens ambivalent zu nennenden Sexualmoral könnte der Studie zufolge vor allem Männer anziehen, die sexuell unreif sind oder ihre eigene sexuelle Präferenz ablehnen. Solche Männer würden deshalb dazu neigen, in vermeintlich klare Regeln und Strukturen zu flüchten, die ein Ausleben dieser Präferenz vermeintlich verhindern. Daneben gebe es einen Männertypus, der sehr genau erkenne, dass die speziellen Strukturen und Gegebenheiten der Katholischen Kirche ein verdecktes Ausleben ihrer sexuellen Präferenz eher befördern als verhindern.
Die Römisch-Katholische Kirche findet eine erneute Grundsatzdebatte über Sinn und Unsinn des Zölibats unerfreulich, wie gequälte Wortmeldungen aus der Bischofskonferenz verdeutlichen. Sie hat erst 2011 eine entsprechende Diskussion mehr schlecht als recht abwürgen können. Wovor sich die Kirche jedoch nicht mehr drücken kann, ist ein Umgang mit Beschuldigten und Betroffen.
Nachsichtiger Umgang mit Beschuldigten
In dieser Hinsicht fallen die Befunde und Bewertungen der Studie eineindeutig aus. Den Betroffenen wurde durch die Katholischen Amtsträger aller Hierarchiestufen über Jahrzehnte hinweg nicht zugehört, nicht geglaubt, nicht geholfen. Ganz im Gegensatz zu den Beschuldigten. Hier stellt die Studie ein erschütterndes Maß an Nachsicht, Milde und Gnade fest, inklusive Wegsehen, Vertuschen, Verheimlichen und Abwiegeln. Die Vernichtung und Manipulation von Akten wurde bereits erwähnt.
Die Studie belegt, dass über die Hälfte (53 Prozent) der Beschuldigten ohne ein kirchenrechtliches Verfahren davonkame. Wenn es um Strafanzeigen geht, fällt das Fazit sogar noch ernüchternder aus. Mehr als 60 Prozent der Beschuldigten mussten keine Strafanzeige ihrer Dienstherrin fürchten. Erschütternd ist auch, dass die Römisch-Katholische Amtskirche in Deutschland jahrzehntelang in geradezu fahrlässiger Weise Beschuldigte innerhalb der Bistümer versetzte, ohne die neuen Gemeinden über Gründe für Versetzungen zu informieren. Das Risiko für Wiederholungstaten ist entsprechend hoch.
Zwiespältige Reaktionen unter Katholiken
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, zeigte sich zerknirscht und beschämt. Direkte Verantwortung wollte er aber nicht übernehmen. Dabei hätte er die Macht für sehr symbolische Schritte, die nicht einmal seinen Rücktritt erfordern, wie auf der Pressekonferenz in Fulda vorgeschlagen wurde. Marx könnte einfach jene Untersuchung endlich öffentlich machen, die unter Verschluss ist und die das Ausmaß von Kindesmissbrauch im Erzbistum München und Freising offenbart. Im Raum steht der Verdacht, die Geheimhaltung hänge damit zusammen, dass kein Geringerer als der emeritierte Papst Benedikt XVI. involviert sein könnte. Als Kardinal Ratzinger war er immerhin zwischen 1977 und 1982 Amtsvorgänger von Kardinal Marx.
Richtiggehend irritierend sind aktuelle Verlautbarungen, die vom derzeit amtierenden Oberhaupt der Katholischen Weltkirche im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch zu vernehmen sind. Auf dem Rückweg von einer Pastoralreise in die baltischen Staaten äußerte sich Papst Franziskus zu den Vorwürfen und Vorfällen gegen die Kirche [ Siehe @ www.domradio.de/themen/papst-franziskus/2018-09-26/papst-franziskus-zu-missbrauch-und-abkommen-mit-china ]. Sie seien zwar monströs. Andererseits sollte solch früheres Fehlverhalten nicht ausschließlich nach heutigen Maßstäben bewertet werden. Früher seien solche Übergriffe und Gewaltakte überall verschwiegen worden, auch und vor allem in den Familien.
Ex-Kurienbischof greift Papst frontal an
Wie sehr die weltweiten Missbrauchsvorwürfe die Katholische Kirche in ihrem Selbstverständnis erschüttert haben, versinnbildlicht ein geradezu atemberaubender Vorgang, der so noch vor kurzem vollkommen undenkbar gewesen wäre. Kein Geringerer als der ehemalige Botschafter (im vatikanischen Sprachgebrauch Nuntius genannt) des Vatikans in den USA, Erzbischof Carlo Maria Viganò [ Siehe @ www.nytimes.com/2018/08/28/world/europe/archbishop-carlo-maria-vigano-pope-francis.html ], beschuldigte den amtierenden Papst, den wegen sexuellen Missbrauchs bereits kirchenrechtlich durch Papst Benedikt verurteilten ehemaligen Erzbischof des Bistums Washington und Newark in den USA, Kardinal Theodore McCarrick, ohne Not rehabilitiert zu haben.
Dass sich der Papst überhaupt dazu geäußert hat, spricht Bände über den enormen Druck, der auf ihm und der Weltkirche lastet. Auf seinem Rückflug von einer Pastoralreise nach Irland am 26. August 2018 beantwortete Papst Franziskus für alle überraschend eine Frage zu diesen schweren Vorwürfen. Es war ihm anzumerken, wie verletzt, verunsichert, wütend er über diesen Vertrauensbruch eines Mitarbeiters ist, den er immerhin persönlich mit ausgewählt hat. [ Franziskus antwortete Siehe @ press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2018/08/27/0597.pdf ] Franziskus antwortete mehr als kryptisch:
Lesen Sie es selbst sorgfältig und bilden Sie sich Ihr eigenes Urteil. Ich werde kein einziges Wort dazu sagen. Ich glaube, das Memo spricht für sich selbst, und Sie sind als Journalisten in der Lage, Ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Dies ist ein Akt des Vertrauens: Wenn eine Zeit verstrichen ist und Sie Schlussfolgerungen gezogen haben, werde ich vielleicht sprechen. Aber ich bitte Sie, dass Sie Ihre berufliche Reife dafür verwenden: es wird Ihnen gut tun, wirklich. Das ist genug für jetzt.
(Bollettino N. 0597, Sala Stampa Della Santa Sede, 27.08.2018, in Englisch, Seite 15, 5. Absatz)
Seither äußert sich Papst Franziskus zu diesem Thema nicht mehr. Erst vor wenigen Tagen hatte er sich zu den Missbrauchsvorwürfen gegen die Katholische Kirche im Allgemeinen geäußert. Gleichzeitig fuhr er einem Journalisten über den Mund, der ihn erneut zum Vorgang McCarrick/Viganò befragen wollte.
Sollen Vorwürfe die Kirche als Gesellschaftskritiker ausschalten?
Interessanterweise gibt es auch Mutmaßungen, die weltweiten Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Weltkirche seien Teil einer Kampagne, um die Römisch-Katholische Kirche als gesellschaftskritische Stimme mundtot zu machen. Natürlich wurde das umgehend als Verschwörungstheorie niedergemacht. Angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die die jahrzehntelangen sexuellen Übergriffe gegen Minderjährige innerhalb der Kirche darstellen, angesichts des Leids, das sie verursacht haben, angesichts der empörenden Nichtachtung der Betroffenen durch die Katholische Kirche, ist eine solche Betrachtung des Gesamtkomplexes natürlich sehr heikel und zieht sofort den Verdacht des Zynismus auf sich.
Aber es ist zumindest interessant, dass die Missbrauchsvorwürfe zum ersten Mal wirklich ernsthaft und schmerzhaft verfolgt wurden, als US-Behörden der Katholischen Kirche strafrechtlich und vor allem finanziell zu Leibe rückten. Unklar bleibt dabei, wie es sein kann, dass die gleichen US-Behörden jahrelang den gleichen Hinweisen und Vorwürfen ausdrücklich nicht nachgegangen sind. In dem Zusammenhang rückt die Tatsache in den Fokus, dass der Vatikan unter Papst Johannes Paul II. eine unheilige Allianz mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan einging, gegen die Sowjetunion und ihren Herrschaftsbereich zu kämpfen.
Obwohl Johannes Paul II. nachgewiesenermaßen besonders die US-amerikanische Ausprägung des Finanzkapitalismus verabscheute, war sein fanatischer Antikommunismus bedeutend größer. Das hatte er mit einigen Päpsten der Neuzeit gemein. Über Jahre wurden US-amerikanische Dollar-Millionen mit Hilfe vatikanischer Kanäle zum Beispiel in die polnische Solidarnosc-Bewegung gelenkt.
Aber es ist zumindest interessant, dass die Missbrauchsvorwürfe zum ersten Mal wirklich ernsthaft und schmerzhaft verfolgt wurden, als US-Behörden der Katholischen Kirche strafrechtlich und vor allem finanziell zu Leibe rückten. Unklar bleibt dabei, wie es sein kann, dass die gleichen US-Behörden jahrelang den gleichen Hinweisen und Vorwürfen ausdrücklich nicht nachgegangen sind. In dem Zusammenhang rückt die Tatsache in den Fokus, dass der Vatikan unter Papst Johannes Paul II. eine unheilige Allianz mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan einging, gegen die Sowjetunion und ihren Herrschaftsbereich zu kämpfen.
Obwohl Johannes Paul II. nachgewiesenermaßen besonders die US-amerikanische Ausprägung des Finanzkapitalismus verabscheute, war sein fanatischer Antikommunismus bedeutend größer. Das hatte er mit einigen Päpsten der Neuzeit gemein. Über Jahre wurden US-amerikanische Dollar-Millionen mit Hilfe vatikanischer Kanäle zum Beispiel in die polnische Solidarnosc-Bewegung gelenkt.
Wegen der enormen finanziellen Bedeutung der US-Bistümer für die Gesamtfinanzen des Vatikans hat das auch Auswirkungen auf die Weltkirche. Der Papst wirkt wegen der anhaltenden Missbrauchsdebatte deutlich gehemmt. Unabhängig davon, ob die aktuelle Missbrauchsdebatte vorsätzlich derart lanciert wurde, wird es für den amtierenden Papst nicht mehr so leicht sein, die bisher flammenden Appelle gegen Armut und Ausbeutung, Flucht und Vertreibung in dieser Art glaubwürdig zu wiederholen.
Nur ein Seitenaspekt: Missbrauch in der DDR
Die Studie der Deutschen Bischofskonferenz beleuchtet nur am Rande die Lage der Katholischen Kirche in der DDR. Der Untersuchungszeitraum der Studie umfasst die gesamte Existenzdauer des zweiten deutschen Nachkriegsstaates. Der Begriff DDR taucht auf den 356 Seiten der Studie ganze drei Mal auf: Einmal im Abkürzungsverzeichnis, einmal in einer Übersicht über die ausgewerteten Studien zum sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in nicht-katholischen Institutionen (MHG-Studie, Seite 217, Tabelle 5.4.) und zum dritten Mal im Literaturverzeichnis, wo die in der Tabelle aufgeführte Studie Spezialheime der DDR-Jugendhilfe von 2013 aufgelistet wird.
Die Bischofskonferenz verweist darauf, dass das Bistum Magdeburg zu jenen zehn Bistümern gehört, die die Archive für den gesamten Untersuchungszeitraum öffneten. Deshalb könne man durchaus davon sprechen, dass die DDR mit berücksichtig wurde.
Sonderfall: Bistümer in der DDR
Dazu muss man allerdings wissen, dass das Bistum Magdeburg in dieser Form erst seit 1994 besteht. In der DDR war Magdeburg Teil der katholischen Diaspora und hatte den Status eines Erzbischöflichen Amtes und später eines Bischöflichen Amtes. 1990 wurde es schließlich zu einer Apostolischen Administratur erhoben. Das ist eine besondere Form der Verwaltung in der Katholischen Kirche, wenn eine normale Organisation vor Ort nicht gewährleistet werden kann. Ein Apostolischer Administrator hat die gleichen Rechte wie ein Bischof. Die eigentliche Gerichtsbarkeit untersteht aber meistens direkt dem Papst.
Es gab mehrere solcher typisch vatikanischen Lösungen: in Schwerin, Erfurt und Görlitz. Hintergrund dieser Einrichtung ist die Tatsache, dass der Vatikan die DDR zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz als souveränen Staat anerkannte. Andeutungen von dahingehenden Überlegungen waren aus dem Vatikan nur vor Johannes Paul II. zu vernehmen gewesen. Dies konnte mit inzwischen freigegebenen Akten und entsprechenden Buchveröffentlichungen belegt werden.
Sonderbeziehungen zwischen DDR und Vatikan
Bis zum Ende der DDR weigerte sich Rom auch, die Bistumsgrenzen an die Grenzen der DDR anzupassen. Durch die deutsche Zweistaatlichkeit lagen auf einmal Teile westdeutscher Bistümer auf DDR-Hoheitsgebiet. Magdeburg gehörte beispielsweise zum westdeutschen Bistum Paderborn. Der Erzbischof von Berlin, der seinen Sitz in Ostberlin hatte, war auch für Westberlin zuständig, was vor allem nach dem Mauerbau zu fortwährenden Schwierigkeiten führte. Immerhin aber akzeptierte die DDR, dass Theologen an den Universitäten des Vatikans studieren durften. Die DDR akzeptierte auch, dass die Päpste letztlich die Bischöfe ernannten, wenn auch nach einem Listenvorschlag der jeweiligen Domkapitel. Die Historiker stellen heute einigermaßen erstaunt fest, dass die DDR trotz der ideologischen Starrköpfigkeit der DDR-Führung die liberalste Haltung und den entgegenkommendsten Umgang mit der Katholischen Kirche im gesamten ehemaligen Ostblock pflegte.
Ob sich das auch auf die Zahlen des sexuellen Missbrauchs in Katholischen Kirchen und Einrichtungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ausgewirkt hat, lässt sich nicht sagen. Denn die Datenbasis ermöglicht leider auch hierüber keine Aussage.
Quellen:
Die MHG-Studie [ Siehe @ www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf (Umfang: 3.9 MB; insgesamt 366 Seiten) ]
Antrag auf Entschädigung als Betroffener sexueller Gewalt [ Siehe @ www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/Dossiers/Antragsformular_Leistungen_handschriftlich.pdf (Umfang des Antragsformulars: insgesamt 8 Seiten) ]
Der Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs [ Siehe @ beauftragter-missbrauch.de/ ]
Das Präventionsprojekt Kein Täter werden [ Siehe @ www.kein-taeter-werden.de/ ]
Das Präventionsprojekt für Jugendliche [ Siehe @ www.du-traeumst-von-ihnen.de/ ] . .