Endstation Jugendknast
.
Beginn des Artikels
Kriminalität
Seiten 1 | 2
Endstation Jugendknast
© Marcus Vogel
Eine halbe Stunde, nachdem dieses Foto entstand, wurde Manuel G. von der Polizei festgenommen und in das Jugendgefängnis Hahnöfersand gebracht
Von Kerstin Schneider und Inken Ramelow
Manuel war neun, als seine Mutter ihn ins Heim steckte. Es war der Beginn einer Odyssee, die ihn in acht Jahren durch zehn Einrichtungen schleuste - bis er als Hamburgs gefährlichster Jugendgangster für Schlagzeilen sorgte. Das Protokoll einer sträflich verwalteten Kindheit.
Kirstin F. geht durchs Kinderzimmer. Sonnengelbe Wände. Gerahmte Bilder von Hundewelpen. Himmelblauer Teppich. Efeu über dem Gardinenbrett vor dem Fenster. Die Mutter lüftet den Deckel einer Plastiktonne. "Hier hat er sein Spielzeug", sagt sie. Kirstin F. öffnet den Schrank, "hier ist sein Bettzeug. Er muss es weich haben". Die Mutter zieht eine Schublade auf. "Seine Kissenbezüge. Er braucht immer zwei Kissen." Auf dem Schrank liegt ein Buch: "Wenn Hunde lieben." "Daraus lese ich ihm abends immer vor." Auf der Matratze am Boden döst Schäferhundmischling Illapu. Kirstin F. tätschelt seinen Kopf. "Früher war das Manuels Zimmer", sagt sie. "Jetzt ist es das Zimmer von Illapu. Von Manuel befindet sich hier gar nichts mehr."
Manuel, der Sohn von Kirstin F., ist heute 18 Jahre alt. Als er neun war, stellte seine Mutter einen Antrag auf "Hilfe zur Erziehung". Damals kam Manuel vom Kinderzimmer ins Heim. Es war der Beginn einer Odyssee, die den Jungen innerhalb von acht Jahren durch zehn verschiedene Wohngruppen und Heime schleuste. Manuel steht für Tausende schwer erziehbarer Kinder in Deutschland. Für die Hilflosigkeit der Behörden. Für eine verfehlte Jugendhilfepolitik. "Die Behörden in Deutschland reagieren meist erst, wenn aus schwer erziehbaren Kindern Kriminelle geworden sind", sagt Jugendrechtsexperte Christian Bernzen, Professor an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. "Das Kinder- und Jugendhilfesystem steht vor dem Kollaps", sagt Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. "Die Jugendämter leiden unter finanzieller Auszehrung und brauchen mehr Personal. Aber die Politik nimmt den Kinderschutz nicht ernst genug." Manuel ist kein Einzelfall. 278.447 tatverdächtige Jugendliche im Alter von bis zu 18 Jahren hat das Bundeskriminalamt 2006 registriert.
Manuel - "Hamburgs gefährlichster Jugendgangster"
Knapp 67.000 sind wegen Körperverletzung aufgefallen. In Berlin erfasste die Polizei bereits in diesem Jahr 429 Intensivtäter, also Täter, die häufig von der Polizei erwischt werden. In Hamburg sind es 650 - einer von ihnen ist Manuel. Vor einigen Monaten sorgte er bundesweit für Schlagzeilen: Die Sozialbehörde ließ "Hamburgs gefährlichsten Jugendgangster" ("Bild") mit dem Taxi für 1103,36 Euro von der Hansestadt in ein 380 Kilometer entferntes Heim nach Brandenburg schaffen. Die Abgeordneten der Bürgerschaft debattierten über diese "Steuergeldverschwendung". Der Jugendausschuss trommelte seine Mitglieder zu einer Sondersitzung zusammen. Jahrelang hatte sich niemand um Manuel gekümmert, plötzlich interessierten sich alle für ihn. Dies ist seine Geschichte. Als Manuel 1989 geboren wird, sind seine Eltern längst getrennt. Manuel lernt seinen Vater nie kennen. Die Mutter erzählt ihm nur, dass er Elektriker gewesen sei und aus Ecuador stamme. Weil ihr Kind unehelich ist, stellt ihr das Jugendamt einen Amtspfleger zur Seite.
.
Mehr zum Thema
Verwahrloste Kinder: "Hatte die Schnauze voll"
Offiziell hat die Behörde damit von Anfang an ein Auge auf Mutter und Kind. Doch der Amtspfleger kümmert sich nur um Unterhaltsfragen. Weil Manuels Vater nicht zahlt, bekommt Kirstin F. Geld von der Unterhaltskasse; ansonsten lebt sie von Sozialhilfe, später geht sie putzen. Über Manuels frühe ste Kindheit heißt es Jahre später in den Akten des Jugendamtes: "Manuel wurde durch schwerste Misshandlungen seiner Mutter sehr stark traumatisiert." Schon "in der Säuglings- und Kleinkindzeit" habe er "viel Gewalt durch Partner der Mutter" erlitten. Mit drei Jahren "fällt Manuel aus einem Fenster im zweiten Stock". Auch von "extremer Mangelversorgung" ist die Rede. Das Jugendamt bekommt damals von alldem nichts mit. Der Amtspfleger besucht Manuel und seine Mutter nicht ein einziges Mal. Das sei so üblich gewesen, teilt ein Sprecher der Hamburger Sozialbehörde mit: "Bei der Ausübung der Tätigkeit des Unterhaltsbeistandes werden nicht regelhaft Hausbesuche durchgeführt."
"Ich schneide mir die Pulsadern auf oder werfe mich vor die S-Bahn"
Manuel ist viereinhalb Jahre alt, als er laut Akte mit Selbstmord droht. "Ich schneide mir die Pulsadern auf oder werfe mich vor die S-Bahn", soll er in der Kindertagesstätte gerufen haben. Zu diesem Alarmzeichen kommen andere Auffälligkeiten. Er stottert, ist noch nicht trocken. Eine Erzieherin schlägt er mit einem Matchbox-Auto, zertrümmert ihr das Knie. Kirstin F. verspricht, zur Erziehungsberatung zu gehen. Später behauptet sie, dort "nur abgewimmelt" worden zu sein. Dass sie Manuel misshandelt, bemerkt niemand. Jedenfalls wurde Kirstin F. nie wegen Kindesmisshandlung angezeigt. Je älter Manuel wird, desto heftiger werden seine Ausbrüche. In der Vorschule bedroht er seine Lehrer mit einem Kartoffelschälmesser. In der Schule bestiehlt er seine Mitschüler. Im Unterricht fehlt er so oft, dass die Lehrer ihm von der zweiten Klasse an keine Noten mehr geben. Sie schreiben der Mutter Briefe, beschweren sich, dass Manuel lügt, stiehlt, um sich schlägt. Auf die Idee, dass er das Schlagen zu Hause lernt, kommt offenbar niemand.
Im Dezember 1998 versucht der neunjährige Junge, die Fenster einer Kirche einzuschlagen. Als seine Mutter ihn dabei erwischt, läuft er davon. Die Polizei greift ihn auf, Manuel will nicht nach Hause zurück. "Meine Mutter schlägt mich", sagt er den Beamten. Die Polizisten liefern ihn trotzdem zu Hause ab. Doch Kirstin F. weigert sich, ihren Sohn aufzunehmen, beantragt nun "Hilfe zur Erziehung". Manuel kommt ins Kinderheim. Ob das Jugendamt je versucht hat, eine Pflegefamilie für ihn zu finden, will die Sozialbehörde "aus datenschutzrechtlichen Gründen" nicht beantworten. Im Heim bringt Manuel "das Tagesgeschehen zum Erliegen", berichtet später ein Mitarbeiter des Jugendamts. Manuel klettert aufs Dach, droht, sich in die Tiefe zu stürzen. "Stundenlang" muss ein Betreuer abends an seinem Bett sitzen, damit er einschlafen kann. Später erzählt Manuel einer Betreuerin, dass seine Mutter ihn für jede Kleinigkeit "blutig geschlagen" habe. Er kenne von zu Hause nur "Gewalt, Gewalt, Gewalt". Sein Leben sei "so unerträglich", dass er sterben wolle.
"Schwierige Jugendliche werden oft von Einrichtung zu Einrichtung verschoben"
Weil das Heim nicht weiter weiß, wird Manuel weitergeschoben. Er kommt nun in ein Kinderheim ins schleswig-holsteinische Breiholz bei Rendsburg. Das Jugendamt schickt Problemkinder gern aufs Land, in der Hoffnung, dass sie fernab des städtischen Trubels zur Ruhe kommen. Manuel fasst in Breiholz Vertrauen zu einer Erzieherin. Er hört auf zu stottern, nimmt zwölf Kilo zu, geht regelmäßig zur Schule. Fast vier Jahre lang, bis er 14 ist. Dann kündigt seine Betreuerin - und Manuel rastet aus: Er bricht in eine Kfz-Werkstatt ein, klaut ein Auto. Als der Besitzer ihn überrascht, zückt Manuel ein Messer, bedroht den Mann, wirft die Waffe aber gleich wieder in den Mülleimer. Die Polizei nimmt ihn fest. Wegen dieser "nicht mehr einschätzbaren Verhaltensmuster" wirft das Heim ihn raus. In ihren Abschlussbericht schreiben die Erzieher: "Wir wünschen ihm von ganzem Herzen, dass er sich helfen lässt, um seinen Weg in eine harmonische Zukunft zu finden."
Weil Kirstin F. sich nach wie vor weigert, ihren Sohn aufzunehmen, kommt Manuel in Hamburg zunächst wieder beim Kinder- und Jugendnotdienst unter. Im Februar 2004 dann die nächste Station: ein heilpädagogisches Heim an der Flensburger Förde. Dort bleibt der Junge gerade mal acht Wochen. Nach einem Ausreißversuch beklagen sich die Betreuer beim Jugendamt, dass "Manuel in keiner Weise bereit war, sich einzulassen", und werfen den Jungen raus. "Wir wünschen Manuel für seine Zukunft alles Gute." "Schwierige Jugendliche werden oft von Einrichtung zu Einrichtung verschoben", sagt Jugendrechtsexperte Bernzen. "Das kostet viel Geld. Und bringt gar nichts. Die Sozialarbeiter müssten frühzeitig und konsequent versuchen, Hilfen für die Kinder zu planen. Dazu gehört notfalls auch die Unterbringung in einer Pflegefamilie." Doch Manuel wird weiter verschoben. Im Mai 2004 bringt man ihn in einer Wohngruppe in Buschenhagen bei Stralsund unter. Dort bleibt der Junge knapp ein halbes Jahr lang. Manuel prügelt sich, zertrümmert Möbel, beleidigt und bedroht die Erzieher und droht auch wieder mit Selbstmord: "Ist doch alles egal. Das Leben hat keinen Sinn. Immer habe ich die Schuld."
"Es ist das Beste, was ich bisher erlebt habe"
Im Oktober 2004 wird Manuel von einer Organistin erwischt, als er versucht, den Opferstock einer Kirche aufzubrechen. Er kotzt einer Lehrerin vor die Tür, steigt aufs Dach seiner Unterkunft, wirft mit Steinen, bedroht den Heimleiter mit einer Schaufel. Er zwingt einen Jugendlichen, seinen Stuhlgang in eine Plastiktüte zu verrichten, und wirft die Tüte "mit großem Gelächter" hin und her. "Diese gravierende Eskalation sehe ich als massive Selbst- und Fremdgefährdung", schreibt die Betreuerin ans Jugendamt und wirft Manuel raus. "Ich wünsche ihm für seine Zukunft alles Gute." Nach kurzem Aufenthalt in einer Wohngruppe in Vorpommern ist Manuel im November 2004 wieder in Hamburg. Die Mitarbeiterin des Jugendpsychologischen Dienstes notiert: "Im Jahr 2004 drehte sich für Manuel das Karussell von Unterbringung und Entlassung immer schneller." Er ist je tzt 15, lebt seit sechs Jahren nicht mehr zu Hause. Kirstin F., so steht es in den Akten, will "nichts mehr von ihrem Sohn wissen". Im Januar 2005 kommt Manuel in die Hamburger Wohngruppe von Freiherr Ottfried von der Lancken-Wakenitz. Der adelige Sozialarbeiter betreut seit mehr als zehn Jahren gestrauchelte Jugendliche, hat über seinen Verein "Emelie" mehrere Wohnungen in einem Haus angemietet.
Artikel vom 08. Oktober 2007
http://www.stern.de/politik/panorama/:Kriminalit%E4t-Endstation-Jugendknast/599539.html
Kriminalität
Seiten 1 | 2
Endstation Jugendknast
Manuel bekommt eine kleine Zweizimmerwohnung. Seine Aggressivität schreckt von der Lancken nicht. "Es ist doch klar, dass Jugendliche, die viel durchlitten haben, Schwierigkeiten machen. Wenn man da sofort aufgibt, kann man den Job gleich sein lassen." Manuel fasst Vertrauen zu "Nico", wie die Jungs den Sozialarbeiter nennen, er fühlt sich zum ersten Mal seit Langem wohl. "Es ist das Beste, was ich bisher erlebt habe", sagt er einer Mitarbeiterin vom Jugendamt. Und trotzdem. Manuel geht nicht zur Schule, er treibt sich rum, wird wieder straffällig. Gemeinsam mit anderen schwer erziehbaren Jungen stiehlt er wieder, bricht sogar ein: Im Ortsamt Hamburg-Barmbek stiehlt er Flachbildschirme im Wert von 2.000 Euro. Mehr als zehnmal wird er in dieser Zeit angezeigt. Manuels Name landet in der Intensivtäterdatei der Hamburger Polizei. Die Sozialbehörde hegt nun Vorbehalte gegen von der Lancken. Er sei "unprofessionell", würde "zusehen, wie seine Schützlinge auf die schiefe Bahn geraten", sagt ein Behördenmitarbeiter, der nicht genannt werden möchte.
.
Der "Kinder-Knast" sorgt regelmäßig für Schlagzeilen
Dass es Schwierigkeiten gab, räumt von der Lancken ein. "Damals waren zu viele Jugendliche mit krimineller Vorgeschichte bei mir untergebracht." Doch er gibt zu bedenken: "Es ist naiv zu glauben, dass diese Jugendlichen von heute auf morgen zu braven Musterschülern werden." Manuel wird in einer neuen Jugendwohnung untergebracht. Im Juli 2005, kurz vor seinem 16. Geburtstag, überfällt er einen Cabrio-Fahrer. Mit Fäusten schlägt er auf den Mann ein, reißt ihm den Autoschlüssel aus der Hand. Als es ihm nicht gelingt, den Sportwagen zu starten, versucht Manuel zu fliehen. Ein Passant stellt sich ihm ihn den Weg. Manuel schlägt auch ihn. Kurz darauf nimmt die Polizei ihn fest und steckt ihn in Untersuchungshaft. Ein Psychiater spricht sich dafür aus, den Jungen ins geschlossene Heim zu stecken. Das Familiengericht ordnet an, ihn in der "Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße" einzuquartieren. In dem roten Backsteinbau bringt die Stadt Hamburg hinter übermannshohem Zaun jugendliche Straftäter unter, wenn alle anderen Hilfsangebote gescheitert sind.
Der "Kinder-Knast" sorgt regelmäßig für Schlagzeilen. Zuletzt im vergangenen Jahr, als ein Psychiater zugeben musste, 13-Jährigen ohne Einwilligung der Eltern Psychopharmaka gegeben zu haben. Kirstin F. ist mit der Unterbringung ihres Sohnes in der Feuerbergstraße einverstanden. Auch gegen Psychopharmaka hat sie nichts. Auf die Frage, warum der prügelnden Mutter nie das Sorgerecht entzogen wurde, wird Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) später sagen: "Wir haben es in diesem Fall mit einer sehr kooperativen Mutter zu tun. Deshalb stand es nicht zur Debatte, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen." Auch in der Feuerbergstraße findet niemand Zugang zu Manuel. Er bedroht Betreuer und Jugendliche, er randaliert. "Ich fühlte mich wie ein Tier im Käfig", erzählt er später. Bei einem begleiteten Ausgang haut Manuel ab. Vier Wochen später kehrt er freiwillig zurück - in Begleitung seines alten Betreuers von der Lancken und einer Journalistin. Manuel will öffentlichen Druck herstellen. Denn mit seiner Rückkehr verbindet er Forderungen: Er will Freigänger werden, ein Praktikum machen. Die "Bürgerinitiative ausländischer Arbeitnehmer", ein öffentlich geförderter Verein, hat ihm einen Platz in einem "Berufsvorbereitungslehrgang" in Aussicht gestellt. Doch die Sozialbehörde lehnt ab. Manuel sei "nicht gruppenfähig" und habe "bedrohliche Gewaltfantasien". Er muss zurück in die Feuerbergstraße.
.
"Körperlich habe ich mit Sicherheit zu hart durchgegriffen"
Im Mai 2006 wird Manuel am Blinddarm operiert. Als ihn ein Heim-Mitarbeiter in der Klinik besucht, rastet der Junge aus. Die Polizei rückt an. Manuel geht auf die Beamten los. Er will sich nicht weiterbehandeln lassen, wird auf eigenen Wunsch entlassen, aber in die Feuerbergstraße zurückgebracht. Dort reißt er sich die frische Wunde auf - und landet in der geschlossenen Psychiatrie. Nach ein paar Tagen schafft das Jugendamt ihn in ein neues Heim nach Brandenburg. Im Juni steht Manuel unter anderem wegen der Einbrüche in der Kfz-Werkstatt und dem Ortsamt vor einem Hamburger Gericht. Die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Nach der Verhandlung weigert sich der Junge, nach Brandenburg zurückzukehren, und die Betreuer fahren kurzerhand ohne ihn weg. Manuel meldet sich beim Kinder- und Jugendnotdienst. Die Einrichtung weist ihn ab, weil er in Brandenburg untergebracht ist. Die Sozialbehörde veranlasst, dass Manuel mit dem Taxi nach Brandenburg geschafft wird. Für eine Bahnfahrt sei der Junge zu "unberechenbar", wird die Behörde später in einer Stellungnahme schreiben. In Brandenburg macht Manuel wieder Ärger. Er greift einen Jugendlichen und einen Betreuer an. Kurz darauf, Manuel ist gerade 17 geworden, will er zurück nach Hamburg. Sein Bewährungshelfer unterstützt ihn. Die Sozialbehörde quartiert ihn in eine Jugendhilfe-Wohnung in einem Hochhaus in Hamburg-Jenfeld ein. Stundenweise kommt ein Sozialarbeiter vorbei. Nachts ist Manuel allein.
Er streunt mit Sascha, den er in der Feuerbergstraße kennengelernt hat, durch die Stadt. Am 3. September steigen die beiden gegen zwei Uhr nachts in den Bus der Linie 13, in dem auch Stephan D. sitzt. Als der 21-Jährige aussteigt, folgen Sascha und Manuel ihm. Sascha drückt Stephan D. eine Schreckschusspistole in die Seite. "Handy und Geld her", fordert Manuel. Stephan D. gibt ihm das Telefon. Plötzlich schlägt Manuel mit dem Nothammer aus dem Bus auf sein Opfer ein, schreit: "Tut das weh?! Tut das weh?!" Stephan D. geht zu Boden. Manuel und Sascha treten ihn; mit dem Hammer schlägt Manuel seinem Opfer mit voller Wucht auf beide Knie. Stephan D. trägt einen Schienbeinkopfbruch, eine gebrochene Rippe und Prellungen davon. Tagelang beherrscht das Thema Manuel die Schlagzeilen. "Vom liebenden Kleinkind zur lebenden Zeitbombe" titelt die Boulevardpresse und kürt ihn zu "Hamburgs gefährlichstem Jung-Kriminellen". Die Mutter fordert öffentlich: "Sperrt meinen Sohn endlich ein!" Kirstin F. empfängt Journalisten, kassiert Geld für jedes Gespräch. Dass sie Manuel geschlagen hat, gibt die 43-Jährige unumwunden zu. "Körperlich habe ich mit Sicherheit zu hart durchgegriffen", sagt sie. "Ich habe Manuel geschlagen, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte." Kirstin F. wirft ihr hüftlanges Haar zurück, es ist dunkelblond, fällt in weichen Wellen über den Rücken und verleiht ihr eine Mädchenhaftigkeit, die nicht so recht passen will zu den verhärteten Zügen ihres Gesichts.
"Für Manuel empfinde ich gar nichts mehr"
Manuels Mutter wirkt intelligent, sie kann sich gut ausdrücken. Und es sind solche Einsichten der eigenen Hilflosigkeit, die erahnen lassen, dass diese Frau vielleicht ein anderes Leben hätte führen können als das einer Putzfrau, die zwei Jobs angenommen hat, um über die Runden zu kommen. "Mein Vater war Alkoholiker", sagt sie. "Ich bin immer geschlagen worden. Von meinem Vater. Von meinen Männern. In der Schwangerschaft. Bin immer an die Falschen geraten." Fast beiläufig streut Kirstin F. solche Sätze ins Gespräch. Nüchtern im Ton, so als spreche sie übers Wetter, das man hinnehmen muss, wie es kommt. Über ihren Sohn sagt sie: "Ich weiß, es klingt hart. Aber für Manuel empfinde ich gar nichts mehr." Und nach einer Weile fügt sie hinzu: "Ich habe ja jetzt meine Tiere, dafür lebe ich." Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram muss sich in der Hamburger Bürgerschaft herbe Kritik wegen Manuel G. anhören. Die Opposition aus SPD und Grünen bezeichnet ihre "verfehlte Jugendhilfepolitik" als "Sicherheitsrisiko". "Anstatt dem Jungen eine dauerhafte Bezugsperson an die Seite zu stellen, wurde mit ihm ein Wanderzirkus veranstaltet", schimpft die grüne Bürgerschaftsabgeordnete Christiane Blömeke. Man solle nicht "den Täter zum Opfer machen", entgegnet Schnieber- Jastram, "kriminelle Jugendliche wird es immer geben". Sozialstaatsrat Dietrich Wersich pflichtet ihr bei: Es gebe eben "schwerst gestörte Menschen", die "nicht von der schiefen Bahn abzubringen" seien.
Manuels Anwältin Gül Pinar hält dagegen: "Die Behörde hat bei diesem Jungen seit frühester Kindheit versagt. Anstatt ihm zu helfen, wurde er verwaltet. Es ist genau diese Konzeptlosigkeit, die Jugendliche wie Manuel kriminell werden lässt." Manuel sitzt inzwischen im Jugendgefängnis Hahnöfersand. Für den Überfall auf Stephan D. hatte er "Vorbewährung" bekommen und war wieder ins Heim nach Brandenburg zurückgeschickt worden. Dort riss er aus. Die Vorbewährung wurde widerrufen. Nun muss er eine Jugendstrafe von zwei Jahren absitzen. Vor ein paar Wochen ist Manuel im Gefängnis volljährig geworden. Seine Mutter hat ihn nicht besucht, aber 50 Euro geschickt. Der Besucherraum in Hahnöfersand ist karg möbliert. An der hell getünchten Wand hängen selbst gemalte Knacki-Träume: die Sonne und das Meer, Vögel. Manuel lehnt sich auf dem Stuhl zurück. Ein muskulöser, schlanker Teenager mit Pickeln, leichtem Bartflaum - und schon grauen Haaren in seinem schwarzen Schopf. "Na ja", sagt er auf die Frage, was falsch gelaufen sei in seinem Leben: "Meine Mutter hat immer gearbeitet, hatte kaum Zeit. Ständig hat sie die Männer gewechselt. Ständig gab es Prügel - keine Ahnung mehr, von wem alles." Zukunftspläne? "In zehn Jahren will ich ein Bordell eröffnen. So ganz den geraden Weg gehen, das kann ich nicht."
Artikel vom 08. Oktober 2007
http://www.stern.de/politik/panorama/:Kriminalit%E4t-Endstation-Jugendknast/599539.html?p=2&nv=ct_cb