Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen - Kindesentführungen-Kindesentziehungen

EuGH: Begriff des Familienangehörigen

EuGH: Begriff des Familienangehörigen

EuGH: Begriff des „Familienangehörigen“


Quelle: EuZW 2005 Heft 259 - 261

Begriff des „Familienangehörigen“

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 S. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. 9. 1980 über die Entwicklung der Assoziation. Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingerichtet, das am 12. 9. 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. 12. 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde und ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einem türkischen Staatsangehörigen und dem Land Baden-Württemberg über dessen Entscheidung, die befristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Kl. für Deutschland abzulehnen und ihn aus dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats auszuweisen.
ARB Nr. 1/80 Art. 7 S. 1


Tenor des Gerichts:

Art. 7 S. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingerichteten Assoziationsrates vom 19. 9. 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass der noch nicht 21 Jahre alte oder Unterhalt beziehende Stiefsohn eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, Familienangehöriger im Sinne dieser Vorschrift ist und die Rechte nach diesem Beschluss besitzt, wenn er ordnungsgemäß die Genehmigung erhalten hat, zu diesem Arbeitnehmer in den Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen.

EuGH, Urteil vom 30. 9. 2004 - C 275/02 (Engin Ayaz/Land Baden-Württemberg)
Zum Sachverhalt:

Der am 24. 9. 1979 geborene ledige Kl. zog zusammen mit seiner Mutter 1991 zu seinem Stiefvater nach Deutschland. Der Stiefvater gehört seit den 80er Jahren als Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats an und hält sich dort erlaubt auf. Die Mutter des Kl. war zu keinem Zeitpunkt berechtigt, in Deutschland zu arbeiten. Seit seiner Einreise nach Deutschland lebte der Kl. - von einer kürzeren Unterbrechung Ende 1999 abgesehen - bei seiner Mutter und seinem Stiefvater. Während seines Aufenthalts in Deutschland erwarb er den Hauptschulabschluss und besuchte danach für ein Jahr eine Berufsfachschule. Im Anschluss daran begann er zwei Berufsausbildungen, die er nicht abschloss. Nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit war er zeitweise als Fahrer beschäftigt. Zwischen 1997 und 2001 wurde der Kl. von deutschen Gerichten mehrfach wegen verschiedener Straftaten verurteilt. Ihm wurden in Deutschland bis zum 31. 10. 1999 jeweils befristete Aufenthaltserlaubnisse erteilt. Am 8. 7. 1999 stellte er einen Antrag auf unbefristete Aufenthaltserlaubnis, der nicht förmlich beschieden wurde. Am 24. 3. 2000 beantragte der Kl. die befristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Mit Verfügung vom 9. 8. 2000 lehnte das Landratsamt Rems-Murr-Kreis diesen letzten Antrag ab und forderte den Kl. unter Androhung seiner Ausweisung in die Türkei bei Nichtbefolgung auf, Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe dieser Ablehnung zu verlassen. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies das Regierungspräsidium St. mit Widerspruchsbescheid vom 8. 2. 2002 ab. Auf die hiergegen erhobene Klage erklärte des VG Stuttgart die angefochtene Entscheidung für mit deutschem Recht vereinbar, da das Ausländergesetz die automatische Ausweisung eines Ausländers vorsehe, der wie der Kl. in den letzten fünf Jahren rechtskräftig zu insgesamt dreieinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt worden sei. Es müsse jedoch geprüft werden, ob sich der Kl. auf den Ausweisungsschutz nach Art. 14 I des Beschlusses Nr. 1/80 berufen könne, wie er im Urteil vom 10. 2. 2000 in der Rechtssache C-340/97 (Slg. 2000, I-957 Rdnrn. 50 bis 64 = EuZW 2000, 219 = NVwZ 2000, 1029 = NJW 2000, 2807 L - Nazli) ausgelegt worden sei. Ob diese Vorschrift jedoch im Ausgangsverfahren anwendbar sei, hänge davon ab, ob der Betroffene zum Kreis der vom Beschluss Nr. 1/80 geschützten Personen gehöre.

Da es eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts für die Entscheidung des Rechtsstreits für erforderlich hielt, setzte das VG Stuttgart das Verfahren aus und legte dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vor: Ist der unter 21 Jahre alte Stiefsohn eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, Familienangehöriger i.S. des Art. 7 S. 1 des Beschlusses Nr. 1/80?

Der EuGH bejahte die Vorabentscheidungsfrage.
Aus den Gründen:

Zur Vorlagefrage

34. Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist einleitend daran zu erinnern, dass, wie sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 7 S. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ergibt, die Inanspruchnahme der in dieser Vorschrift vorgesehenen Rechte von den beiden dort genannten, nebeneinander zu erfüllenden Voraussetzungen abhängt, und zwar muss die betreffende Person zum einen Familienangehöriger eines bereits dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers sein, und zum anderen muss sie von den zuständigen Behörden dieses Staates die Genehmigung erhalten haben, zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen.

35. Was diese zweite Voraussetzung angeht, lassen nach st. Rspr. die Vorschriften über die Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Türkei beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt, Vorschriften über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet und über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu erlassen, so dass die erstmalige Zulassung der Einreise solcher Staatsangehörigen in einen Mitgliedstaat im Grundsatz ausschließlich dem Recht dieses Staates unterliegt (vgl. zuletzt EuGH, Urt. v. 21. 10. 2003 - C-317/01 und C-369/01, Abatay u.a., noch nicht in der amtl. Sammlung veröff., Rdnrn. 63 und 65).

36. Im Ausgangsverfahren bezieht sich die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage nur auf die erste in Rdnr. 34 dieses Urteils genannte Voraussetzung.

37. In Bezug auf diese Voraussetzung betrifft die gestellte Frage nicht die Eigenschaft des türkischen Staatsangehörigen, der sich schon im Hoheitsgebiet dieses Staates befindet, als Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats angehört - die das Vorlagegericht als gegeben ansieht -, sondern geht nur dahin, ob der Stiefsohn eines solchen Arbeitnehmers ein „Familienangehöriger“ nach Art. 7 S. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist.

38. Die genannte Vorschrift enthält keine Definition des Begriffs „Familienangehöriger“ des Arbeitnehmers.

39. Dieser Begriff ist jedoch auf Gemeinschaftsebene einheitlich auszulegen, um seine homogene Anwendung in den Mitgliedstaaten sicherzustellen.

40. Seine Bedeutung ist daher nach dem mit ihm verfolgten Zweck und dem Zusammenhang, in den er sich einfügt, zu bestimmen.

41. Zum einen soll, wie der Gerichtshof schon entschieden hat, die durch Art. 7 S. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 eingeführte Regelung günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat schaffen, indem den Familienangehörigen zunächst gestattet wird, bei dem Wanderarbeitnehmer zu leben, und ihre Stellung nach einer gewissen Zeit durch die Verleihung des Rechts gestärkt wird, in diesem Staat eine Beschäftigung aufzunehmen (vgl. u.a. EuGH, Slg. 1997 I-2133 Rdnrn. 34 bis 36 = EuZW 1997, 501 = NVwZ 1997, 1104 = NJW 1998, 973 L - Kadiman).

42. Zum anderen wird der gleiche Zweck durch die Verordnung Nr. 1612/68 - die, wie der Gerichtshof in den Rdnr. 82 und 83 des Urteils vom 8. 5. 2003 in der Rs. C-171/01 (Slg. 2003, I-4301 - Wählergruppe Gemeinsam) festgestellt hat, dazu bestimmt ist, die Vorschriften des Art. 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Art. 39 EG) zu konkretisieren - verfolgt, insbesondere durch ihren Art. 10 I.

43. Im Urteil vom 17. 9. 2002 in der Rs. C-413/99 (Slg. 2002, I-7091 Rdnr. 57 = NVwZ 2003, 466 L - Baumbast und R) hat der Gerichtshof hierzu entschieden, dass sich das Recht des „Ehegatte[n] sowie [der] Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht einundzwanzig Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird“, auf Wohnungsnahme bei dem Wanderarbeitnehmer nach der genannten Vorschrift der Verordnung Nr. 1612/68 sowohl auf die Abkömmlinge des Arbeitnehmers als auch auf die seines Ehegatten bezieht.

44. Der Gerichtshof hat seit dem Urteil vom 6. 6. 1995 in der Rs. C-434/93 (Slg. 1995, I-1475 Rdnrn. 14, 19 und 20 = EuZW 1995, 672 = NVwZ 1995, 1093 - Bozkurt) in st. Rspr. aus dem Wortlaut der Art. 12 des Assoziierungsabkommens und 36 des Zusatzprotokolls sowie aus dem Zweck des Beschlusses Nr. 1/80, der auf die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Anlehnung an die Art. 48, 49 EGV (nach Änderung jetzt Art. 40 EG) und 50 EGV (jetzt Art. 41 EG) gerichtet ist, hergeleitet, dass die im Rahmen dieser Artikel geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden müssen (vgl. zuletzt Urt. Wählergruppe Gemeinsam, Rdnr. 72, und entsprechend zu dem die Dienstleistungsfreiheit betreffenden Art. 14 des Assoziierungsabkommens Urt. Abatay u.a., Rdnr. 112).

45. Daraus folgt, dass bei der Bestimmung der Bedeutung des Begriffes „Familienangehöriger“ in Art. 7 S. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auf die dem gleichen Begriff im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft gegebene Auslegung abzustellen ist, insbesondere auf die Art. 10 I der Verordnung Nr. 1612/68 zuerkannte Bedeutung (vgl. entsprechend Urt. Wählergruppe Gemeinsam und Urt. v. 16. 9. 2004 - C-465/01, Kommission/Österreich, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröff., zur Umsetzung der Art. 8 I dieser Verordnung gegebenen Auslegung zur Verwirklichung des passiven Wahlrechts türkischer Arbeitnehmer zu Einrichtungen wie den Arbeiterkammern oder den Betriebsräten).

46. Im Übrigen enthält Art. 7 S. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Bedeutung des Begriffes „Familienangehöriger“ des Arbeitnehmers auf dessen Blutsverwandte beschränkt wäre.

47. Diese Auslegung wird außerdem durch das Urteil vom 11. 11. 1999 in der Rs. C-179/98 (Slg. 1999, I-7955 - Mesbah) bestätigt, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass sich der Begriff „Familienangehöriger“ des marokkanischen Wanderarbeitnehmers i.S. von Art. 41 I des am 27. 4. 1976 in Rabat unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2211/78 des Rates vom 26. 9. 1978 (ABlEG Nr. L 264, S. 1) im Namen der Gemeinschaft genehmigten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko auf die Verwandten in aufsteigender Linie des Arbeitnehmers und seines Ehegatten erstreckt, die mit dem Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat zusammenleben. Diese Auslegung im Rahmen eines Kooperationsabkommens uss erst recht für ein Assoziierungsabkommen gelten, das weitergesteckte Ziele verfolgt (s. Rdnr. 3 dieses Urteils).

48. Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 S. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass der noch nicht 21 Jahre alte oder Unterhalt beziehende Stiefsohn eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, Familienangehöriger im Sine dieser Vorschrift ist und die Rechte nach diesem Beschluss besitzt, wenn er ordnungsgemäß die Genehmigung erhalten hat, zu diesem Arbeitnehmer in den Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen.
Anm. d. Schriftltg.:

Zum Aufenthaltsrecht von Ehegatten s. EuGH, EuZW 2002, 595 - MRAX/Belgien.