Jugendamtsterror und Familienrechtsverbrechen - Missbrauch mit dem Missbrauch

Fünf Jahre unschuldig in den Mühlen des Rechtsstaates

Fünf Jahre unschuldig in den Mühlen des Rechtsstaates

Artikel in der Stuttgarter Zeitung vom 3. 4. 03

Fünf Jahre unschuldig in den Mühlen des Rechtsstaates Protokoll eines
Justizirrtums:

Wie ein Pfarrer durch schludrige Beamte und Psychologen als Sittenstrolch
gebrandmarkt wurde

Der Fall hat Schlagzeilen gemacht: Erst wurde ein evangelischer Geistlicher
aus Mosbach wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen zu drei Jahren
Gefängnis verurteilt. Jetzt ist er freigesprochen worden. Die Gesetzeshüter
hatten einen Fehler an den anderen gereiht.

Von Wieland Schmid

Irgendwo im Schwarzwald verbringt der evangelische Pfarrer Gerhard B. (62)
seinen vorzeitigen Ruhestand. Von 1990 bis 1998 war er geachtetes
Vorstandsmitglied der Johannesanstalten in Mosbach (Kreis Neckar-Odenwald),
wo 2500 Mitarbeiter ebenso viele Behinderte betreuen. Jetzt ist der Vater
dreier Kinder wenigstens wieder ein unbescholtener Pensionär, nachdem er
fünf Jahre lang zum Sittenstrolch abgestempelt worden war. Die Chronologie
eines Justizirrtums zeigt, wie auch ein rechtsstaatliches System beinahe
versagen kann.

"Als Theologe fühle ich mich in Gottes Hand", verkündete Pfarrer Gerhard B.
vertrauensvoll, als er im Jahre 1998 Selbstanzeige bei der Mosbacher
Staatsanwaltschaft erstattete. Der Geistliche litt unter Gerüchten, die in
den Johannesanstalten umgingen: Den Lästermäulern zufolge hatte er sich drei
geistig schwer behinderten Frauen im Alter zwischen 26 und 37 Jahren
unsittlich genähert - angeblich bis hin zum Geschlechtsverkehr. Aber beim
Staatsanwalt erlebte der Pfarrer seine erste Überraschung: "Er hat den Spieß
umgedreht und gegen mich ermittelt."

Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Eine Kriminalbeamtin und eine Psychologin
vernehmen die vermeintlichen Opfer. Die Tonbandaufnahmen dokumentieren, wie
die verwirrten Frauen unter Druck gesetzt werden. Frage: "Was hat er mit dir
gemacht?" Antwort: "Gar nichts hat er gemacht." Behauptung der
Befragerinnen: "Doch, er hat was mit dir gemacht, und du sagst uns jetzt,
was." Oder: "Wenn du uns erzählst, was der Pfarrer gemacht hat, bekommst du
den Nachtisch." In den schriftlichen Protokollen der Vernehmungen wird
massiv verfälscht. Beispiel: Aus einer "Gymnastik mit dem Vater" wird eine
Gymnastik mit dem Pfarrer.

Die Staatsanwaltschaft erhebt dennoch Anklage wegen Missbrauchs
widerstandsunfähiger Schutzbefohlener. Die Erste Große Strafkammer des
Mosbacher Landgerichts verurteilt den Angeklagten im Dezember 1999 zu drei
Jahren Haft. "Auch Saubermänner sind nicht immer sauber", sagt der
Vorsitzende Richter Alexander Ganter. Die zwei Berufsrichter und zwei
Schöffen haben sich nicht die Mühe gemacht, die Tonbandaufnahmen der
Vernehmungen mit den Protokollen zu vergleichen. Sie vertrauen voll auf den
altgedienten Gutachter Professor Dr. Dr. Martin Schmidt, Chef des Zentralen
Instituts für seelische Gesundheit in Mannheim. Der ist überzeugt, dass die
behinderten Opfer "mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst Erlebtes" geschildert
hätten. Der Verteidiger Alexander Keller aus Heidelberg meint vergebens,
eine "Anhäufung von Risikofaktoren habe zu "verzerrten und falschen
Aussagen" sowie zu "unbelegten Spekulationen des Gutachters" geführt. Das
Gericht glaubt dem Professor, obwohl der bekennen muss, dass seine
Mitarbeiterin eine ihm völlig unbekannte Methode bei der Begutachtung
verwendet habe. Immerhin betätigt sich der damals 61-jährige Psychiater
schon seit 1964 als Sachverständiger vor Gericht.

Nur wegen eines formalen Fehlers hebt der Bundesgerichtshof im Jahr 2000 in
einem Revisionsverfahren das Urteil auf: Das Landgericht Mosbach hatte den
Angeklagten bei der Vernehmung der angeblichen Opfer ausgeschlossen, und das
ist nicht zulässig.

Vergangene Woche spricht die Zweite Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe
den Angeklagten ohne Wenn und Aber frei. Nach zweieinhalb Tagen Verhandlung
mit 29 Zeugen kommt der Vorsitzende Richter Udo Scholl zu dem Schluss, dass
die in Mosbach gesammelten Beweismittel "katastrophal und unbrauchbar"
seien. Nach Überzeugung der drei Berufsrichter und zwei Schöffen beruhen
sämtliche Vorwürfe auf reiner Erfindung, unter anderem aus Geltungsbedürfnis
erhoben von besonders leicht beeinflussbaren behinderten Frauen. Gutachter
Martin Schmidt ist inzwischen auch zu der Überzeugung gekommen, dass die
Aussagen der drei angeblichen Missbrauchsopfer "nicht auf eigenem Erleben
beruhen" würden.

Sein berühmter Kollege Max Steller aus Berlin nahm nämlich als zweiter
Gutachter kein Blatt vor den Mund: Die Vernehmungen in Mosbach, so sagte
Steller empört, seien "suggestiv, menschenunwürdig und ethisch verwerflich"
gewesen. Die Mosbacher Staatsanwaltschaft kommt sich "ein bisschen zu
Unrecht geprügelt" vor. Ernst-Ludwig Mißler, Präsident des Mosbacher
Landgerichts, beteuert, "alle, auch die Ermittlungsbehörden", hätten
"unheimlich viel gelernt". Die Mitarbeiter der Johannesanstalten sind
erleichtert, die Evangelische Landeskirche in Baden will nun auch das
schwebende Disziplinarverfahren gegen Pfarrer Gerhard B. einstellen. "Fehler
machen wir alle", sagt der Karlsruher Richter Scholl beschwichtigend.
"Deshalb ist es wichtig, dass es Rechtsmittel gibt."