Nicht wegschauen und nicht überreagieren
08. Mai 2009
«Nicht wegschauen und nicht überreagieren»
Kassel - Schon der Verdacht kann ganze Familien zerstören. Und trifft der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs oder der Misshandlung von Kindern zu, ist immer auch ein leben und dessen Gesundheit akut bedroht. «Schätzungen gehen bundesweit von fünf bis zehn Prozent misshandelter Kleinkinder aus», sagt Bernd Herrmann, Kinderarzt am Klinikum Kassel und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft gegen Kindesmisshandlung und -vernachlässigung (dggkv).
15 bis 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen erleben Schätzungen zufolge mindestens ein Mal in ihrem Leben sexuelle Gewalt. Genaue Zahlen werden dazu aber nicht erhoben. Ärzte und Behörden tun sich oft schwer, richtig auf den Verdacht einer Kindesmisshandlung oder einem sexuellen Missbrauch zu reagieren. «Man darf weder wegschauen noch überreagieren», rät Herrmann, denn beides könne schlimme Folgen haben.
So hatten in einem Fall Ärzte bei einem zwei Monate alten Mädchen ungeklärte Rippenbrüche festgestellt. Das Jugendamt konnte sich nicht vorstellen, dass die «netten Eltern», die auch Mitglieder des Gemeindechors waren, die kleine Jennifer misshandeln. Im Alter von 15 Monaten war das Kind dann tot. Die Rechtsmedizin am Uniklinikum Göttingen stellte fest, dass das Kind totgeschlagen worden war. «Hier haben alle zu spät reagiert», sagt Herrmann.
In einem anderen Fall wurde ein Vater wegen sexuellen Missbrauchs seiner vierjährigen Tochter zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Bei dem Mädchen hatte man ein defektes Jungfernhäutchen festgestellt. Nach der Anzeige bei der Polizei trennte sich die Mutter von ihrem Mann, der Beschuldigte wurde zudem von seiner afghanischen Großfamilie verstoßen. Zwei weitere medizinische Gutachten stellten aber die Unschuld des Vaters fest, der daraufhin wieder freigelassen wurde.
Missbrauch körperlich schwer nachweisbar
«Um solche Fehleinschätzungen zu vermeiden, ist es wichtig, dass Ärzte, Psychologen, Jugendamtsmitarbeiter und andere, im Kinderschutz tätige Personen richtig aus- und fortgebildet werden und bei der Therapie und Betreuung zusammen arbeiten», sagt Herrmann. Denn zu häufig würden Ärzte an einen Missbrauch oder eine Misshandlung gar nicht erst denken.
Dabei stünden die Mediziner auch vor dem Problem, dass gerade sexueller Missbrauch oft nicht eindeutig körperlich nachweisbar sei. Nur in knapp zehn Prozent aller Fälle gibt es laut Herrmann klare körperliche Missbrauchsbefunde. So könne beispielsweise ein intaktes oder auch vermeintlich defektes Jungfernhäutchen nicht immer Hinweis für das Vorliegen eines Geschlechtsverkehrs sein. Denn gerade Genitalgewebe könne sehr schnell wieder verheilen.
Umso wichtiger sei es, mögliche körperliche Hinweise auf sexuellen Missbrauch genau zu bestimmen und zu dokumentieren. «Das spielt dann auch zur Unterstützung der Glaubwürdigkeit des Opfers eine wichtige Rolle», sagt der Arzt. Gut dokumentierte Untersuchungen könnten zudem Wiederholungsuntersuchungen vermeiden helfen - das Opfer werde so weniger belastet.
«Meist werden schonend durchgeführte Untersuchungen von den Kindern gut toleriert», betont Herrmann. «Den Kindern und Jugendlichen sollte vermittelt werden, dass sie ganz normal sind und sie mit ihrer Aussage richtig gehandelt haben», sagt auch Anne-Kathrin Eydam, Kinderärztin am Klinikum Kassel. Dies habe dann positive therapeutische Effekte.
«Mit am wichtigsten ist bei der Untersuchung die Aussage des Kindes», sagt Francesca Navratil, Kinder- und Jugendgynäkologin aus Zürich. Dabei verhalten sich Kinder und Jugendliche je nach Alter unterschiedlich. Kleinere Kinder sagen eher die Wahrheit, während Jugendliche aus Scham oder Angst dazu neigen, nicht alles zu erzählen.
«Hilfe statt Strafe»
Das ist aber auch nicht verwunderlich. «Denn jeder würde sich schwer tun, sein schlimmstes sexuelles Erlebnis einem Fremden zu erzählen», sagt Herrmann. Wichtig sei daher auch, das Verhalten des Kindes bei der Untersuchung richtig einzuschätzen und dessen Aussagen auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen.
In Verdachtsfällen dürften die Kinder und Jugendlichen nicht allein gelassen werden. Ärzte, Behörden und Psychologen müssten gemeinsam und nach Absprachen Hilfen für das Kind und nach Möglichkeit auch für die Eltern anbieten.
«Es gilt das Prinzip "Hilfe statt Strafe" aber nur unter Kontrolle», sagt Herrmann. So könnten die Eltern beispielsweise aufgefordert werden, mit ihrem Kind jede Woche beim Kinderarzt vorstellig zu werden auch um mögliche weitere Misshandlungen entdecken zu können.
Gehen die Eltern nicht zum Kinderarzt, müsse unter Umständen das Jugendamt informiert werden. Es könne allerdings auch sein, dass bei einer akuten Bedrohung des Kindeswohls sofort die Polizei und das Jugendamt informiert werden müssten.
http://www.net-tribune.de/article/080509-60.php