KG Berlin: 1934- Heirat eines nichtarischen Stiefvaters und Umzug in das Ausland
Der ideologisch motivierte Entzug des elterlichen Sorgerechts in der Zeit des Nationalsozialismus
Miriam Liebler-Fechner
Reihe: Juristische Schriftenreihe
Bd. 159, 2001, 312 S., ISBN 3-8258-5366-7
II. KG, Beschluß vom 29. Juni 1934 [FN 758]: Heirat eines nichtarischen Stiefvaters und Umzug in das Ausland
a) Dem Gericht lag folgender Sachverhalt zur Entscheidung vor: Nach der Scheidung ihrer arischen Eltern lebten die Kinder bei der Mutter. Diese heiratete in zweiter Ehe einen evangelisch getauften Israeliten ungarischer Staatsangehörigkeit, der nach der Hochzeit aus Deutschland nach Budapest zog. Nachdem der Stiefvater die Kinder bereits zur reichsdeutschen Schule in Budapest und den Sohn zusätzlich zur HitlerJugend in Budapest angemeldet hatte, plante die Mutter mit den Kindern zu folgen. Der leibliche Vater beantragte daraufhin, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen und auf ihn zu übertragen. Nachdem die Vorinstanzen der Mutter das Sorgerecht entzogen hatten, hatte das Kammergericht als letzte Instanz zu entscheiden.
Das Gericht schloß sich den Vorinstanzen an und sah den Mißbrauch des Sorgerechts in dem Vorhaben der Mutter, mit ihren Kindern nach Budapest zu dem nicht rassegleichen" Stiefvater zu ziehen. Damit entstünde eine Gefahr für das Kindeswohl, indem die Kinder ihr Deutschtum verlören oder wenigstens ihm entfremdet" würden. Das Gericht sah es als ausgesprochen im allgemeinen Volksinteresse liegend" an, dies zu verhindern. Auch wenn die Kinder eine deutsche Schule besuchen würden und darüber hinaus in die deutschen Kreise Einlaß fänden, sei es unausweichlich, daß der nicht rassegleiche" Stiefvater in erheblichem Umfange mit seinen Staats- und Rassegenossen" in Verbindung trete. Das sonst gegebene Gegengewicht in einer rein deutschen Familie gegen die fremden Einflüsse der ausländischen Umgebung" würde dadurch in beträchtlichem Maße beeinträchtigt".
Das Gericht sah den Entzug des Sorgerechts als geeignet und erforderlich zur Gefahrenabwendung an. Ob der Vater das Sorgerecht erhalten solle oder eine Unterbringung der Kinder an einem dritten Ort durch einen zu bestellenden Pfleger in Frage käme, sei noch zu prüfen.
b) Der Beschluß des Kammergerichts erging nur wenige Tage nach der zuvor besprochenen Entscheidung vom 22. Juni 1934. In beiden Fällen entschied der 1. Zivilsenat des Kammergerichts. Ob der Spruchkörper jeweils in derselben Besetzung tagte ist ungewiß, da das Aktenzeichen zum einen die Nummer 1 als Kennziffer für den Senat ausweist, zum anderen den Buchstaben a), was darauf schließen läßt, daß es unterschiedliche Zusammensetzungen des ersten Senats gegeben haben muß. Jedenfalls darf man annehmen, daß auch bei Personenverschiedenheit der Spruchkörper, angesichts der durch die Veröffentlichung zum Ausdruck kommenden Bedeutung der Fälle, eine allseitige Kenntnisnahme stattgefunden hat.
Die Entscheidung vom 29. Juni 1934 befaßte sich - anders als die vom 22. Juni 1934 - nicht mit der Ungewißheit der Rasseeigenschaft des Erzeugers bzw. Erziehungsberechtigten. Vielmehr sah das Gericht die Zugehörigkeit des Stiefvaters zur jüdischen Rasse" trotz seiner evangelischen Konfession nach den Grundsätzen der nationalsozialistischen Rassenkunde als zweifelsfrei gegeben an. Die Gefährdung des Kindeswohls durch rassefremde" Einflüsse stellte das Gericht als solche auch nicht weiter in Frage, sondern es folgte der, in der Rechtsliteratur aufkommenden Überzeugung, daß die Bedrohung eines Kindes durch rassefremde Beeinflussung" als Grund für den Sorgerechtsentzug gem. § 1666 I B ausreiche [FN 759]. Gleichwohl machte sich das Gericht die Entscheidung über den Entzug des Sorgerechts nicht einfach, sondern diskutierte diesen in Ansehung der besonderen Umstände: Einerseits des Umzugs ins Ausland und andererseits der vom Stiefvater beabsichtigten Integration der Kinder die Deutsche Schule und der bereits erfolgten Anmeldung des älteren Kindes zur Hitler-Jugend.
In seiner Entscheidung gab das Kammergericht dem Antrag auf Entzug des Sorgerechts schließlich statt. Die rassefremden Einflüsse" sah das Gericht auch durch die beabsichtigte Einbindung der Kinder in nationalsozialistische Organisationen bzw. damit konform gehende Institutionen als nicht kompensierbar an, zumal sich die Kinder nicht im Reichsgebiet aufhielten.
Das Gericht begründete letztlich den Sorgerechtsentzug mit der Befürchtung, daß die Kinder "ihr Deutschtum verlören oder wenigstens ihm entfremdet würden".
Die Formulierung ist insoweit neutral gehalten, als sich ihr nicht sicher entnehmen läßt, mit welcher Motivation die Richter den Sorgerechtsentzug entschieden haben: War für sie das Kindeswohl oder das nationalsozialistische Staatsinteresse entscheidend? Die Aussage läßt eine Deutung in zwei Richtungen zu:
Zum einen bedeutet die Formulierung "Verlieren des Deutschtums" einen Verlust für das Kind. Dies könnte bedeuten, daß die Richter durch die rassefremde Erziehung und die damit einhergehende Entfremdung der Kinder von dem nationalsozialistischen Staat einen Nachteil für das konkrete Kindeswohl befürchteten. Zum anderen könnte jedoch das Gericht auch den Verlust der Kinder für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft befürchtet haben. Da der Gedanke jedoch in dieser Deutlichkeit nicht ausgesprochen wurde, scheint das Gericht den Sorgerechtsentzug zum Schutz des Kindeswohls ausgesprochen zu haben. Für diese Auslegung spricht letztlich auch die zeitliche Nähe zu dem Urteil vom 22. Juni 1934, in welchem derselbe Zivilsenat den Blick eindeutig auf das Kindeswohl gelegt hatte [FN 760].
FN 758 DRiZ 1935, 262.
FN 759 759 Vgl. Fn. 724 f.
FN 760 760 Vgl. Fall I.