OLG Hamburg: 1935 - Arischer Vater nimmt Kind der Mutter weg, die einen Juden geheiratet hat
Der ideologisch motivierte Entzug des elterlichen Sorgerechts in der Zeit des Nationalsozialismus
Miriam Liebler-Fechner
Reihe: Juristische Schriftenreihe
Bd. 159, 2001, 312 S., ISBN 3-8258-5366-7
VIII. OLG Hamburg, Beschluß vom 13. Dezember 1935 [FN 784]
Arischer Vater nimmt Kind der Mutter weg, die einen Juden geheiratet hat
a) Dem Beschluß lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die arische Kindesmutter hatte nach der Trennung von dem arischen
Kindesvater einen rumänischen Juden geheiratet. Mit ihm und dem Kind lebte sie 1935 in Paris, obwohl ihr das Sorgerecht nicht zustand. Der sorgeberechtigte Vater bemühte sich, das Kind aus dem Ausland nach Deutschland zu holen. Gegen den Vater lagen Bedenken hinsichtlich seiner Eignung zur Erziehung des Kindes seitens des Jugendamtes vor, da er mehrere Straftaten begangen hatte und in einer schlechten wirtschaftlichen Lage lebte. Das Landgericht hatte auf das Bemühen des Vaters, das Kind zu sich zu holen, dem Vater das Sorgerecht entzogen. Daraufhin legte der Vater Beschwerde ein.
Das Oberlandesgericht gab dieser Beschwerde statt.
Nach seiner Ansicht lag in dem Herausgabeverlangen des Vaters weder ein Mißbrauch seines Sorgerechtes noch eine gegenwärtige Gefahr für das Kindeswohl i.S.v § 1666 I BGB. Eine mögliche Gefährdung sei keinesfalls gegenwärtig, sondern könne erst eintreten, sobald es gelungen sei, die Rückbringung des Kindes nach Deutschland zu erzwingen. Erst zu einem solchen späteren Zeitpunkt müßten die zuständigen Behörden prüfen, ob und inwiefern die Straftaten des Vaters und seine ungünstige wirtschaftliche Lage eine Gefährdung des Kindeswohls befürchten lassen. Über die einfache Ablehnung des § 1666 I BGB hinaus war das Oberlandgericht sogar der Ansicht, daß die Anordnung eines Sorgerechtsentzugs zu Lasten des Vaters zum Zeitpunkt der Entscheidung das geistige Wohl des Kindes gefährden würde, da damit die Rückführung des Kindes verhindert oder zumindest erschwert würde.
b) Das Gericht lehnte den Sorgerechtsentzug mit der Begründung ab, daß keine gegenwärtige Gefahr für das Kindeswohl bestünde. Die Eignung des Vaters zur Erziehung des Kindes sei zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht beachtlich. Mit dieser Argumentation stellte sich der Spruchkörper in Widerspruch zu der Rechtsprechung aus der Zeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung: gleich und schloß somit die unerwünschte Rechtsfolge aus. Im Sorgerechtsentzug als solchem eine Gefährdung des Kindeswohls zu sehen und dadurch denselben auszuschließen ist aber nur zulässig, wenn das Ergebnis nicht vorher feststeht, sondern auf einer Interessenabwägung beruht: Einer Abwägung zwischen der gegenwärtigen Situation des Kindes und der nach dem Entzug eintretenden.
Einen Mißbrauch des Aufenthaltsbestimmungsrechts hatten die Gerichte stets angenommen, wenn der Gewalthaber das Kind aus guter Obhut herausverlangte, obwohl er selbst zur Erziehung ungeeignet war [FN 785]. Diese Eignung zur Erziehung des Herausverlangenden ist dabei grundsätzlich bereits vor der Herausgabe des Kindes geprüft worden. Die Gerichte haben die sachlichen und persönlichen Verhältnisse, in die das Kind hineingebracht werden sollte, bei der Frage ob ein Mißbrauch vorliegt stets genau untersucht. Um bei einem Herausgabeverlangen das dauerhafte Wohl des Kindes zu berücksichtigen, mußte dieser Prüfungspunkt zwangsläufig erörtert werden, denn mit einer Lösung, die das Kind praktisch nur für eine juristische Sekunde aus dem "Regen" geholt hätte, um es anschließend in die "Traufe" zu überführen, wäre seinem Wohl kaum gedient.
Das Oberlandesgericht Hamburg argumentierte mit einem Zirkelschluß: In dem Entzug des Sorgerechts erkannte es eine Gefahr für das geistige Wohl des Kindes. Damit setzte es die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm, die Gefährdung des Kindeswohls, mit der Rechtsfolge der Norm, dem Entzug,
Das Oberlandesgericht verwies diesbezüglich auf die Rückholung des Kindes nach Deutschland, welche durch den Entzug des väterlichen Sorgerechts verhindert oder erschwert werden würde. Erst in einem zweiten Schritt hätten die Behörden die Unterbringung beim Vater unter den gegebenen Umständen zu prüfen. Die Rückholung als solche ist jedoch nicht geeignet, Aufschluß über das zukünftige Wohl des Kindes zu geben. Indem das Gericht ausdrücklich von einer zeitlichen Nachrangigkeit der behördlichen Prüfung der Unterbringung des Kindes und damit des zu erwartenden Kindeswohls spricht, wird die eigentliche Motivation der Richter deutlich: Zu allererst galt es, das arische Kind aus dem Einflußbereich des jüdischen Stiefvaters zu entfernen und nach Deutschland zu bringen, um das Kind für die Volksgemeinschaft zurückzugewinnen. Die Frage nach dem individuellen Kindeswohl war zweitrangig. Es handelt sich daher um eine weitere gerichtliche Entscheidung über den Entzug der elterlichen Sorge gem. § 1666 I BGB, die von staatlichen Interessen und nicht dem Wohl des Kindes geleitet war.
-----------------------------------
784 ZblJJ 28, 1937, 133; JW 1936, 892.
785 BayObLG 13, 264 f.; Reichsgericht, JW 1907, 6, Nr. 6.