Idistaviso
Je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir, dass sowohl Jacob Grimm als auch Bahlow bei der "Einnordung" der Flurbezeichnung Idistaviso irrten.
Bei den Grimms wird Viso schon richtig mit (wörtlich) Wiese übersetzt, allerdings ist die Zuordnung der sächsisch-nordischen Idisen-Erntegöttinnen künstlich herbeigeführt durch die absichtlich verfälschte (Tacitus berichtigen wollende) Schreibweise Idisia-viso; an der Weser saßen zu der Zeit um Christi Geburt die Cherusker mit anderen Göttern, als sie die Sachsen später hatten. Im Stammesverband der Istaevonen hatten die Cherusker mit den damals in Holstein siedelnden Sachsen zwar den Stammgott Mannus, den Sohn des Zwittergottes Tuisco/Tuisto gemein, nicht aber den Ista/Istvo, ihren Namensgeber.
Bahlow, der ganz richtig die Grimmsche Übersetzung verwirft, kommt aber in seiner "geographischen Namenwelt" selbst zu einer falschen Interpretation mit "Wiese am Bache Idista". Eine solche germanische Benennung für einen Fluss klingt ungewöhnlich; dessen war sich Bahlow auch bewusst, dem ja alle Fluss- und Ortsnamen alteuropäischer Herkunft geläufig waren.
Geht man auf die Grimmsche Grundidee zurück, das Grasfeld (die Wiese) durch ein göttliches Attribut als Kultplatz hervorzuheben, dann bei den Cheruskern ganz zwanglos mit Ista/Istvo: Ista-Viso. Wo bleibt aber das lautmalerische Id? Alle Autoren und Interpreten sind sich einig, dass (1) Idistaviso lautmalerisch so wortgetreu wie möglich aufgeschrieben wurde und (2) dieses Schlachtfeld 16 n. Chr. jenseits, d. h. am Ostufer der Weser zu suchen ist. Mit dem kleinen Höhenzug Ith, den Bahlow seiner Neigung entsprechend, obwohl es sich um einen Mergelberg handelt, mit "feuchter Bodennatur" assoziiert, im nördlichen Weserbergland zwischen Hameln und Hildesheim (höchste Erhebung Lauensteiner Kopf mit 439 m), bietet sich die Interpretation an, dass die Schlacht auf einem cheruskischen Kultplatz des Stammesgottes Ista auf dem Grasfeld am Ith stattfand.
Auch topographisch passt das, weil es sich wieder wie bei der Gnitaheide um einen Versmmlungsplatz mit angrenzendem Wald (ansteigend am Lauensteiner Kopf) handelt. Das Vertrauen auf seinen höchsten Stammesgott Ista könnte Arminius verleitet haben, ganz gegen seine Gewohnheit diese Stelle eines offenen Geländes für die Schlacht gegen die Römer selbst auszuwählen: göttliche Hilfe heischend im Gefechtsfeld, auf dem alle Vorteile bei den Legionen lagen.
Die Römer würden schon kommen angesichts der Lage an Weser und Haupt-Hellweg H 1. Das sollte sich bitter rächen - bis hin zur Verwundung des Cheruskers selbst. Andererseits wurde die Situation gleichzeitig ausgenutzt, indem die Angrivarier bei Kalkriese einen Wall aufwarfen, um den Römern den Rückweg zur Ems zu verwehren.
Die Beschimpfungen der beiden ungleichen Brüder, des inzwischen einäugigen Blonden (Flavus) und des Blauäugigen (Armenius), über die Weser hin und her vor Beginn des Kampfes, könnten eine weitere Bestätigung für diese Örtlichkeit liefern, denn der Sitz des römerfreundlichen Segestes, des älteren Stammesfürsten und Onkels der beiden Sigimer-Söhne, bei dem Flavus inzwischen sicherlich ein und aus ging: Segeste, liegt nicht weit vom Ith entfernt in östlicher Richtung - südlich von Hildesheim, wo die Hälfte des Varus-Tafelsilbers vergraben wurde.
Auch die Lage des Schlachtfeldes am Hellweg H 1 über Hameln hinaus am Ostufer der Weser (heute die B 1) ist ein weiteres Indiz: Die Legionen waren auf die wenigen verfügbaren Land- und Wasserstraßen der damaligen Zeit angewiesen. Und zu dieser Ista-Wiese am Ith konnten sie sehr gut von Minden über den Weser-Hellweg H 4 und zu Wasser über die Weser gelangen. Wie schon im Vorjahr 15 n. Chr. führte Germanicus seine acht Legionen sicherlich wieder kombiniert zu Wasser und zu Lande ins Feld. Der theoretische Ansatz in unserem Buch: Hermeneutisches Quellenverständnis, Toponyme und Infrastrukturanalyse unterstützen in schönster Weise diese Lokalisierung am Ostufer der Weser zum Ith hin, wo der H 1 von Hameln den Lauensteiner Kopf nördlich umgeht.
Und Hameln in der Nähe ist ein weiterer Hinweis auf die Richtigkeit dieser Festlegung; denn dort an der Weser waren ja auch die befestigten Sommerlager des Varus bis 9 n. Chr., hier war die in Aussicht genommene Hauptstadt der neuen Provinz. Auch die verblüffende "Kleinräumigkeit" der Varus-Germanicus-Ereignisse 9 bis 16 n. Chr. im Weserbergland, dem Stammland der Cherusker, findet mit dieser Örtlichkeit Idistaviso eine weitere Bestätigung.
Und die Strategie des Germanicus wird deutlich: Nachdem er versucht hatte, 15 n. Chr. über Lippe und Ems und den Hellweg H 1 von Westen das cheruskische Weserbergland einzunehmen, ohne das Geringste zu erreichen, versuchte er es 16 n. Chr. von Weser und Ems mit noch mehr Schiffen von Osten her. Er stand ja unter gewaltigem Erfolgsdruck, weil er sich der Order des Tiberius widersetzt hatte, den Kriegszug schon 15 n. Chr. aufzugeben. Und er hatte bei dieser Umfassungsstrategie von Osten die Römerfreunde Segestes und Flavus statt der römerfeindlichen Brukterer im Rücken.
Nach den unbefriedigenden Erklärungsversuchen von Jacob Grimm, S. Feist und Kossinna sowie Hans Bahlow ist nun klar, dass Tacitus die Transliteration wieder sehr exakt wie z. B. bei Ems/Amisia und Rhein/Rhenus oder Saale/Sala vorgenommen hatte: Id-ista-viso ist präzise das, was es heißt, die Ith-Ista-Wiese, der dem Ista-Kult geweihte Anger am Ith. Hier an der Weser wurden mehrere Römerlager vermutet und auch gefunden, in unmittelbarer Umgebung von Hameln, der in Aussicht genommenen neuen Provinzhauptstadt für Germania Magna.
In diesem Zusammenhang lässt sich auch besser verstehen, warum bei Tacitus an einer Stelle für 16 n. Chr. die Weser genannt ist, obwohl im Textzusammenhang nur die Ems gemeint sein kann. Dass das Hauptgeschehen in diesem letzten Jahr des Bellum Germanicum an der Weser stattfand, scheint sich hier unwillkürlich Bahn gebrochen zu haben: bei der Heranführung von Legionen über die Ems und den Landweg an die Weser. Wenn Germanicus wieder die acht Legionen aus zwei Stoßrichtungen anrücken ließ, diesmal über die Ems und den Landweg H 2, H3, H 4, H 1 sowie über die Weser, dann konnten auch diese "kleinräumigen" Zusammenhänge für die antiken Schriftsteller aus der räumlichen und zeitlichen Distanz unübersichtlich werden.
So leuchtet auch ein, dass die Autoren und Textexegeten den Angrivarierwall regelmäßig "weserabwärts ziemlich weit im Norden" statt im Westen in Kalkriese lokalisieren. Dieser Hinterhalt galt nicht den Legionen, die über die Weser zur Nordsee fuhren, sondern den anderen Legionen (wohl wieder die vier des Caecina (I, V, XX, XXI) und nicht die des Germanicus selbst (II, XIII, XIV, XVI). Die Funde in Kalkriese jedenfalls deuten stark darauf hin. Während der "hohe Herr" Caesar Germanicus wie schon im Vorjahr an der Ems sich jetzt per Weserschiff verabschiedete, überließ er es dem alten Kämpen Caecina, sich auf dem Landweg zur Ems durchzuschlagen: Wie schon 15 n. Chr. an den Pontes Longi schickte er ihn zum "Abschluß der Saison" 16 n. Chr. wieder in einen gefährlichen Hinterhalt.
Denn diese Legionen mussten unter nördlicher Umgehung des Weserberglandes wieder auf dem H 2 "vor dem Sandforde" zur Ems bei Rheine oder auch weiter nördlich stromabwärts zurückkehren. So gerieten sie erwartungsgemäß in den Engpass der Niewedder Senke zwischen Großem Moor im Norden und Kalkrieser Berg im Süden. Diesmal fielen die Angrivarier den Römern in den Rücken - so wie im Vorjahr die Brukterer im Ems-Lippe-Bruch.
Dass Germanicus 15 n. Chr. wie schon Varus 9 n. Chr. mit seinen Legionen den Höchstkultplatz des Istävonen-Stammesverbandes Ginita-heide ansteuerte, war von Arminius als Hinterhalt eingeplant, genau wie das Ansteuern des cheruskischen Kultplatzes am Ith ein Jahr später - allerdings mit unterschiedlichem Ausgang. Die Lage des Höchstkultplatzes des Stammesverbandes der Istävonen ganz in der Nähe des "Vierländerecks" der beteiligten Stämme, jedoch auf dem Gebiet des größten Stammes, leuchtet unmittelbar ein - ebenso wie die Lage des Cherusker-Kultplatzes in der Mitte des Stammesgebietes in der Nähe des Sitzes des Stammesältesten Segestes. Hätte Arminius hier mit Inguiomer an seiner Seite und seinem Bruder Flavus und seinem Schwiegervater Segestes auf der Seite der Römer den Sieg errungen, dann hätte er gleichzeitig Segestes und dessen Sitz Segeste mit erledigt, um Rache dafür zu nehmen, dass dieser seine eigene von Arminius schwangere Tochter 15 n. Chr. an Germanicus ausgeliefert hatte.
Inzwischen war sein Sohn Thumelicus zur Welt gekommen, aber er und Thusnelda befanden sich außer Reichweite in Rom. Im Ergebnis konnte Arminius 16 n. Chr. die Römer zwar endgültig unter hohen Verlusten aus diesem Teil Niedergermaniens vertreiben; aber er konnte nichts für seinen Stammesverband, für sich persönlich oder seine Familie gewinnen.
Nicht einmal die Vertreibung des Marbod vom Königsthron der Markomannen trug zu einer germanischen Stämme-Vereinigung oder einem neuen Königtum bei. Die Römer waren unangreifbar und überließen die Stämme ihren Streitigkeiten. Am Ende wurde Arminius das tragische Opfer der eigenen Stammeszwistigkeiten.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. S. G. Schoppe