Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser
Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser
Vor einigen Wochen habe ich eine sehr interessante Diskussion innerhalb des Forums der www.welt-der-fantasy.de zum Thema anspruchsvolle phantastische Literatur angestoßen, wobei ich u.a. auch auf Miéville aufmerksam gemacht wurde.
Ich möchte hier gerne mal die Liste von Literaturtipps posten, die ich dort bekommen habe. Vielleicht kennt ja der eine oder andere etwas von der Liste und kann etwas dazu sagen.
China Miéville - Perdido Street Station und Die Narbe/Leviathan Jeff Vandermeer - Die Stadt der Heiligen und Verrückten Neil Gaiman (vor allem Kurzgeschichten) Peter S. Beagle - Es kamen drei Damen im Abendrot Guy Gavriel Kay Mervyn Peake - Gormenghast-Trilogie Charles Finney - Doktor Laos großer Zirkus Barry Hughart - Die Meister-Li-Romane (drei Bände) Jack Vance - Lyonesse-Trilogie (wird im Herbst bei Area neu aufgelegt) Robert Holdstock - Mythenwald / Tallis im Mythenwald John Myers Myers - Die Insel Literaria James Branch Cabell - Die Chroniken von Poictesme Geoff Ryman - Der Orden der Frauen Gene Wolfe - Das Buch der Neuen Sonne (4 + 1 Bände) John Crowley - Little, Big / Ægypten
noch ein paar deutsche: Markolf Hoffmann - Zeitalter der Wandlung Tobias Meißner - Das Paradies der Schwerter oder Im Zeichen des Mammuts Christian von Aster - Der Wortenhort
Angeschafft habe ich mir bisher die Romane von (natürlich!) Miéville, Barry Hughart und Robert Holdstock.
Es grüßt
Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser
Von Jeff VanderMeer habe ich bislang Veniss Underground gelesen und gerade City of Saints and Madmen angefangen - wärmstens zu empfehlen. VanderMeers Plots sind weitaus weniger verzwickt aus Mievilles und enden oft nicht ganz so trostlos - insgesamt würde ich sagen, VanderMeer ist etwas "romantscher". Dafür ist er stilistisch noch sehr viel abgefahrener, etwas selbstreflexiver, würde ich sagen. In Veniss Undergrund gibt es zum Beispiel eine Passage von etwa 50 Seiten, die aus Sicht einer Hauptfigur, aber in der 2. Person geschrieben ist. Das erzeugt einen seltsam traumartigen Erzähleffekt, und er hält es wirklich gut durch!
Dann kenn ich noch die ersten vier Bände von Gene Wolfes Book of the New Sun - eines meiner absoluten Lieblingsbücher, man muss sich allerdings Zeit dafür nehmen, es ist nicht ganz leicht. Der Zyklus ist bis obenhin vollgestopft mit literarischen Anspielungen, und auch hier ist die Erzählperspektive verzwickt - das ganze Buch wird im Rückblick von der Hauptfigur erzählt, die ein perfektes Gedächtnis hat. Aber nach und nach hat man den Eindruck, dass sie vielleicht sachen auslässt oder schönt ... Jedenfalls eine faszinierende, Pseudomittelalterliche Zukunftswelt, in der Technologie und Magie verschwimmen und für die Wolfe eine unglaublich komplexe, oft sehr ironische Mythologie verfasst.
Und Gormenghast - darauf beziehen sich ja alle "New Weirds" irgendwie, aber ich habs immer noch nicht gelesen ...
Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser
Sorry, Gast war ich - hab vergessen mich einzuloggen.
Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser
Hi Seblon & alle.
Tjaaaa, die anspruchsvolle Fantasy, oder Phantastik.
Dazu vorweg eine kleine, herbe Anekdote. Ich fisch hier in Ffm gerne in den exquisiten Remitenden-Rampen nach Schnäppchen und Geschenken. So brachte ich einem Fantasy-Freund »PSS« und »The Scar« als Panmacmillan-Taschenbücher zum Geburtstag mit. Einige Monate später trafen wir uns, ich frug nach seiner Miéville-Lektüre und er meinte: »Ach, ich habe nach einem Drittel aufgegeben. Da weiß man ja gar nicht, was das für eine Welt sein soll, SF oder Fantasy.« Was 'ne herbe Enttäuschung. Dieser Freund schwört übrigens Stein und Bein für Martin und seinen Feuer&Eis-Zyklus.
Aus polemischer Schlechthinigkeit heraus nenne ich die schlechte Fantasy mittlerweile Bullshit-Bingo-Fantasy, wobei eine gute Bullshit-Liste Diana Wynne Jones »The Tough Guide to Fantasyland« liefert. Treffen mehr als 5 Einträge dieses Reiseführers auf ein (nicht parodistisch gemeintes) Fantasy-Buch zu, dann kann man es wohl getrost kicken.
»Nostalgische Träumerein einer verklärten Vergangenheit« ist wohl das allgemeinste Merkmal der seichten Fantasy oder auch entsprechender historischer Romane. So finde ich »Die Säulen der Erde« von Ken Follett als Hörbuch ganz nett, würde aber so einen Ziegel niemals als Buch lesen. Der Übergang zwischen historischen Romanen und Fantasy ist für mich eh ziemlich fließend. Zum Beispiel »Der Glöckner von Notre-Dame« von Viktor Hugo ist ein Allzeit-Lieblingsbuch von mir und läßt sich ohne viel Hirnverrenkung als 1-A-Fantasy lesen. Und Neal Stephenson hat mit seinem beeindruckenden »Barock-Zyklus« gezeigt, wie aufregend ein historischer Roman sein kann, wenn er mit den Interessen eines SF-Nerds geschrieben wurde; auch der Fantasy-Faktor ist im »Barock-Zyklus« sehr hoch, immerhin gehts für einen Handlungsstrang einmal um die Welt (Exotik in Kairo, Indien, Japan, Mittelamerika) und Alchemisten, Naturforscher, Satanisten und Jesuiten geben ihr Ständchen als Magier-Charakterklassen.
Je stärker ich bei einem Fantasy-Buch erkennen kann, daß historische oder exotische Kulturen vereinfacht verwurstet, um so uninteressanter wird es für mich. Als Beispiel führ ich da gerne Tad Williams an. Eine Ausnahme ist aber das Ehepaar Eddings, deren »Belgariade« und »Malloreon« ich durchaus genossen habe (wegen der Soap-Qualität und flotten Dialoge).
C. S. Lewis hat folgenden Vergleich gemacht. Die vielen Leser gebrauchen Bücher wie Fahrkarten oder Streichhölzer. Einmal benutzen und vergessen und nicht groß drüber babbeln. Die wenigen Leser öffnen sich Büchern, lesen sie auch mehrmals, babbeln gerne darüber.
Nicht nur Fantasy-Autoren beliefern die Leser erster Art. Wir klagen aber denke ich zurecht, daß die Mode der Fantasy besonders von dieser Art von Pauschal-Tourismus-Anderswelten geprägt (versaut) wurde. Mit Miéville, Burst und anderen der neuen Autoren wurde aber die Gegenbewegung des Pendels eingeleitet.
Ich denke, daß die Befremdung Tolkiens über seine Hippie-Leser dies gut illustriert. Für Tolkien war sein Mittelerde-Werk zu nicht geringem Teil ein ernst gemeinter Ausdruck seines (katholischen) Glaubens, für seine Hippie-Leser aber mehr eine toffte Exotik, die eine willkommene Ergänzung zur damaligen Folkmusik-Renaissance und Wellness-Esoterik/Religions-Bewegung bot. Nicht zu vergessen die demütige Natur- und Klang-Mysthik Mittelerdes, die sogar mir Tolkien-Skeptiker was gibt.
LINKS: Im SF-Netzwerk-Forum habe ich zu meiner bevorzugten Fantasy gepostet. Mein Beitrag in Thread »Gute und schlechte Fantasy« im Forum von der »Die Zeit«.
Grüße Alex / molosovsky
Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser
Ich habe so einige formale Kriterien, die für mich einen phantastischen Roman, zu einem guten bzw. anspruchsvollen phantastischen Roman werden lassen, sie lauten:
die Sprache wird gekonnt als Stilmittel genutzt Vermeidung von alten schwarz-weißen Märchen-Klischees formale und inhaltliche Originalität Charaktere mit Tiefgang und Ecken und Kanten Nachvollziehbare Motivation der Figuren auch Nebenfiguren sind mehr als blosse Staffage und Bühnenbild, sondern haben ihre eigenen (auch unausgesprochenen!) Geschichten liebevoller Detailreichtum (z.B. bei der Beschreibung von Orten) es gibt einen Subtext, der uns vielleicht auch nur ein klein wenig über uns selbst oder unsere Welt sagt
Es muss sich dabei gar nicht immer unbedingt um ein Gegenentwurf zu Tolkien handeln, wobei dass aber auch ein guter Ausgangspunkt sein kann.
Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser
Ich will hier gar nicht über die Zweiteilung von "anspruchsloser" und "anspruchsvoller" Fantasy sinnieren, aber auffällig finde ich, dass ein großer Teil der "interessanten" Fantasy der letzten Jahre (Mieville, VanderMeer, Mary Gentle) vor allen Dingen von der Neuzeit udn der Moderne fasziniert ist, und nicht, wie die klassische Fantasy, von einem idealisierten Mittelalter. D.h. diese "neueren" Fantasy (die allerdings auch nicht wirklich neu ist, siehe Peake) erfreut sich - oft auf kritische Art, aber dennoch erfreut sie sich - an Industrialisierung, an Eisenbahnen, an kruder Wissenschaft, an aufbrechenden sozialen Konflikten. Im Herrn der Ringe ist die Industrialisierung eine reine Abgrenzungsfolie, eine zerstörerische Kratf, die von Sauron und Saruman freigesetzt wird. In PSS leben die Figuren in einer industrialisierten Welt mit all ihren Schrecken und Wundern ... Insofern sind Insbesondere Mieville und VanderMeer wohl wirklich "Postmodern" zu nennen, gerade weil sie von der frühen Moderne fasziniert sind und sie in eine Mythologie umwandeln. Die Mythisierung von Neuzeit und moderne erscheint mir jedenfalls im Moment als das interessantere Projekt als die Mythisierung des Mittelalters.
VanderMeer City of Saints and Madmen erscheint übrigens Ende August auf deutsch bei Klett-Cotta in wunderschöner Aufmachung. Ich hab das erste Viertel auf Englisch gelesen und kann das Buch bislang eigentlich nur jedem Mieville-Leser ans Herz legen. Das Buch ist kein Roman, sondern eine Sammlung von Novellen, Stories, und vor allen Dingen historischen und wissenschaftlichen Abhandlungen (die alles andere als trocken sind) über die Stadt Ambergris (dt. Ambra). Sehr viel schwarzer Humor, stilistisch streckenweise ausgesprochen exmerimentell (und von daher sicher nicht an jedem Punkt gelungen), aber von seltener Faszinationskraft. Die deutsche Übersetzung ist von Erik Simon, was für Kongenialität garantieren sollte.
Re: Die phantastische Literatur für den anspruchsvollen Leser
ächz, schon wieder ich da oben. ich muss jetzt mal auf "automatisch einloggen" umstellen ...
Vor-Modern und Modern
Hi Jakob.
Du schriebest:
> , dass ein großer Teil der "interessanten" Fantasy der letzten Jahre > (Mieville, VanderMeer, Mary Gentle) vor allen Dingen von der Neuzeit > udn der Moderne fasziniert ist, und nicht, wie die klassische Fantasy, > von einem idealisierten Mittelalter. D.h. diese "neueren" Fantasy (die > allerdings auch nicht wirklich neu ist, siehe Peake) erfreut sich - > oft auf kritische Art, aber dennoch erfreut sie sich - an > Industrialisierung, an Eisenbahnen, an kruder Wissenschaft, an > aufbrechenden sozialen Konflikten.
Ich benamse den Unterschied zwischen nostalgischer, konservativer und progressiver, moderner Phantastik so.
Die erste Gruppe klammert sich an die alten Vorstellungen eines hierarchisch-konzentrischen Weltbildes: DIE WAHRHEIT oder Gott im Zentrum um das sich in natürlicher Ordnung (womöglich entworfen von einem intelligenten Desinger) die Einzelteile der Welt ordnen. Platon schrieb vom Kosmos als einem Überwesen, dessen Organe die größeren Kulturgruppen (Städte, Länder) und dessen einzelnen Zellen die Individuuen sind. Im Fortgang des Mittelalters kristallisierte sich als ein heikles Problem dieser Philosophie der Kontrast zwischen äußerer und innerer Welt heraus. Bis heute schwelt der Konflikt darüber, wo man DIE WAHRHEIT besser sucht: in der äußeren, materiellen Realität (die Schöpfung als größtes und wundersamstes Buch Gottes), oder in der Wirklichkeit unseres Innenlebens (der Stimme des Genius, Gewissenes, der Schutzengel die einen direkten Draht zu Gott pflegen, siehe Konflikt Katholizismus und Reformation).
Die zweite Gruppe bezweifelt solche einfachen Wahrheitsarchitekturen, und versucht die Dinge im jeweiligen Kontext zu deuten. Wahrheiten werden in Theorien umschrieben und gelten bis zur Widerlegung als Arbeitsgrundlage und nicht als endgültig. Fundamentalisten der erstern Fraktion nennen das schon mal Diktatur des Relativismus (O-Ton Papst Benedikt).
LINKTIP: In der aktuellen August-Nummer von Le Monde Diplomatique findet sich ein exzellenter Essay von Jan Philipp Reemtsma: »Muss man Religiosität respektieren? Über Glaubensfragen und den Stolz einer säkularen Gesellschaft«. Ab September wird dieser Essay freigeschaltet.
Heutezutage zeigt sich der Konflikt wohl am deutlichsten im Ringen der verschiedenen Darwindeuter untereinander (was ist der gewichtigere Faktor zum Überleben der Arten: Kampf oder Kooperation?), sowie zwischen den Darwinisten und den Kreationisten.
Die Herausforderung für Nebenschöpfungs-Phantastiker liegt darin, daß eine Darstellung der Segnungen, Plagen und Lebenswelten der Moderne schwuppdiwupp um einiges komplexer gerät, als altvordere Ordnungen mit fixen Grenzen zwischen Gut & Böse oder Schwarz & Weiß (Manichäismus).
Grüße Alex / molosovsky
August-Bebel-Str. 10 D 65933 Frankfurt/M. http://molochronik.antville.org
Re: Vor-Modern und Modern
Ich sehe die "Stärke" einer "modernen" Fantasy eher in der Schwäche der "Mittelalter- Fantasy": Letztere ist halt zunehmend degeneriert und zu einem Zerrbild verkommen, wo immer unverhohlener Kitsch zelebriert wird und man nichts weiter tut, als moderne Figuren mit ihren Problemen in eine Reißbrett-Romantik zu verschieben. Das muss nicht so sein. Das war es nicht und ist es auch jetzt nicht in allen Büchern - nur übertüncht die Masse an schlechten Büchern das mitunter. Im Guten kann die rückwärtsgewandte Phantastik durchaus etwas leisten, nämlich indem sie durch das Betonen des Fremden selbst wieder den Relativismus unseres Wertekanons deutlich macht; oder indem sie Grundfragen und Grundprobleme des Menschen am Modell herausarbeitet.
Die "moderne" Fantasy hat heute einen leichteren Stand, zumindest was die Produktion gehaltvollerer Bücher angeht, zum einen, weil sich eben noch nicht alle Geier darauf gestürzt haben; zum anderen auch, weil sie halt mit den gewünschten modernen Figuren immer noch stimmigere Gesamtbilder erlaubt.
Insofern halte ich den von Molosovsky skizzierten Unterschied für zu kurz greifend, weil der die Probleme vereinfacht. Das zeigt sich beispielsweise auch an dem Beispiel zwischen "Reformation" und "Katholizismus":
> darüber, wo man DIE WAHRHEIT besser sucht: in der äußeren, materiellen > Realität (die Schöpfung als größtes und wundersamstes Buch Gottes), > oder in der Wirklichkeit unseres Innenlebens (der Stimme des Genius, > Gewissenes, der Schutzengel die einen direkten Draht zu Gott pflegen, > siehe Konflikt Katholizismus und Reformation).
... denn auch dieser Konflikt lässt sich nicht so einfach auf einen Widerstreit zwischen den beiden Polen reduzieren. Denn zum einen betont die Reformation ja stärker die Eigenverantwortlichkeit des Gewissens, während der Katholizismus durchaus auf "äußere" Realität setzt. Auf der anderen Seite liegt im Kern dieses Konfliktes genau die entgegengesetzte Einstellung: Während die Reformation sich letztlich auf die Bibel als einziges Zeugnis Gottes beruft, also auf ein äußerlich greifbares, unwandelbares Faktum, stützt sich der Katholizismus auf die Offenbarung Gottes in der lebenden Kirche als höchster Autorität, also gerade auf die Wahrnehmung und das Innenleben einer "Gemeinschaft der Gläubigen".
Also, auf verschiedenen Ebenen verlaufen die Standpunkte in dieser Frage durchaus konträr auch zu eigenen Einstellung in anderer Hinsicht.
> Die zweite Gruppe bezweifelt solche einfachen Wahrheitsarchitekturen, > und versucht die Dinge im jeweiligen Kontext zu deuten. Wahrheiten > werden in Theorien umschrieben und gelten bis zur Widerlegung als > Arbeitsgrundlage und nicht als endgültig. Fundamentalisten der erstern > Fraktion nennen das schon mal Diktatur des Relativismus (O-Ton Papst > Benedikt).
... denn da hat der "Relativismus" das Problem, dass er selbst nicht leugnen kann, aus historischer Perspektive nur Ausdruck eines Zeitempfindens zu sein; letztlich also nicht wirklich eine neue Sicht, die den alten, absoluten Wahrheitsmodellen diametral gegenübersteht, sondern nur eine neue Mischung der allgemein menschlichen Fragen, die neben den alten Modellen steht und durchaus durch einen Austausch und eine Variation gewinnen kann. Sprich: moderne, kontextuelle Wertedeutungen können durchaus deutlicher herausgearbeitet werden, wenn man sie beispielsweise in "konservativer" Fantasy einbindet und auf die Probe stellt. Denn auch unsere Sicht, die die alten Sichten jetzt prüft und abtut, wird irgendwann einmal geprüft und abgetan werden; und noch ist nicht entschieden, aus welchem der zahllosen probierten Modelle der Geschichte die "künftige" Sicht stärker schöpfen wird. Die vornehmste Aufgabe einer literarischen Fantasy sollte es eigentlich sein, sich einem solchen Wertekanon komplett zu entziehen und die Modelle frei darzustellen und zu variieren, das Experiment zu wagen, zu dem keine andere Gattung in der Lage ist. In welchem Umfeld das besser gelingt, hängt sicher sowohl von den Problemen ab, die man darstellen will, wie auch vom literarischen Umfeld - das im Moment für "Mittelalter-Fantasy" nicht eben viel versprechend ist.
Re: Vor-Modern und Modern
Hi Lomax, hallo alle.
Danke für Deine Sicht des Problems. Du schaffst es immer wieder, mich ganz schön demütig erstmal nachdenken zu lassen, bevor ich poste.
> "Mittelalter- Fantasy": Letztere ist halt zunehmend degeneriert und > zu einem Zerrbild verkommen, > wo immer unverhohlener Kitsch zelebriert wird und man nichts weiter > tut, als moderne > Figuren mit ihren Problemen in eine Reißbrett-Romantik zu verschieben.
Die große Tragik dabei ist, daß zuviel Happy-Ends und Kitsch allüberall (zumindest) mir die Laune für zartere, sentimantalere und nostalgischere Geschichten austreiben. Bas-Lag-bezogen: Ich bewundere Miéville für seinen Wagemut, wenn er den Lesern nach 800 Seiten Monsterhatz am Ende von »PSS« eine denkbar bittere Pille serviert.
> Im Guten kann die rückwärtsgewandte Phantastik durchaus etwas leisten, > nämlich > indem sie durch das Betonen des Fremden selbst wieder den Relativismus > unseres > Wertekanons deutlich macht; oder indem sie Grundfragen und > Grundprobleme des > Menschen am Modell herausarbeitet.
Du kannst aber auch ganz schon gestelzt zurückgeben :-) Wenn ich mich richtig erinnere, dann schätzt Du »Gormenghast« von Peake wie ich auch. Ich illustriere mir Dein Betonen des Fremden mit den grotesk-satierischen Figuren von Peake, dem Gegensatz zwischen den Schloßbewohnern und Holzschnitzer-Dörflern. Aber was verstehst Du unter Grundprobleme des Menschen am Modell herausarbeiten in der Fantasy. In der SF fällt mir da sofort P. K. Dick mit seiner großen Frage »Was ist menschlich?« ein, und wie auf mancherlei Art diese Frage verhandelt wird (Erinnerungen, Replikanten, Mutanten, Zwitterwesen).
> Insofern halte ich den von Molosovsky skizzierten Unterschied für zu > kurz greifend, weil > der die Probleme vereinfacht. Das zeigt sich beispielsweise auch an > dem Beispiel > zwischen "Reformation" und "Katholizismus":
Klar hab ich vereinfacht. Ich halte zwar nicht viel von Hegel, aber er stellt ganz gut dar, wie mit einer dialektischen Dynamik ein Schwarz-Weiß-System zu etwas komplexen wird. Die Welt ist immer nur so verständlich, wie man sie sich durch einen Betrachtungsrahmen blickend vereinfachen kann. Vielleicht bring ich meinen Punkt besser ins Ziel, wenn ich aus dem Reich der graphischen Abbildungsverfahren die Zentralpersperspektive (Sicht von einem fixen Blickpunkt mit einem Auge) und etwas moderneres wie den Kubismus (multiperspektivische Collage aus verschiedenen Ansichten) gegenüberstelle. Lins Gedanken über Isaacs Meinung zur optischen Wahrnehmung der Khepri fallen mir da ein (»PSS«, Kapitel 2).
> > siehe Konflikt Katholizismus und Reformation). > > ... denn auch dieser Konflikt lässt sich nicht so einfach auf einen > Widerstreit zwischen > den beiden Polen reduzieren. Denn zum einen betont die Reformation ja > stärker die > Eigenverantwortlichkeit des Gewissens, während der Katholizismus > durchaus auf > "äußere" Realität setzt.
Verantwortung nur gegenüber dem Gewissen (= Stimme Gottes in jedem Menschen) im Gegensatz zur Ausrichtung nach den äußeren Gewalten (= dies ist die beste aller Welten, find Dich damit ab oder fahr zur Hölle).
> Auf der anderen Seite liegt im Kern dieses Konfliktes genau die > entgegengesetzte Einstellung: Während die Reformation sich letztlich > auf die Bibel als > einziges Zeugnis Gottes beruft, also auf ein äußerlich greifbares, > unwandelbares > Faktum, stützt sich der Katholizismus auf die Offenbarung Gottes in > der lebenden > Kirche als höchster Autorität, also gerade auf die Wahrnehmung und das > Innenleben > einer "Gemeinschaft der Gläubigen".
Nun, der große Verlust für die lebende katholische Kirche war ja (meiner Ansicht nach) der Verlust der Deutungshoheit des heiligen Buches (Latein!). Auch damals also schon Inforwar satt :-)
> Die vornehmste Aufgabe einer literarischen Fantasy sollte es > eigentlich sein, sich > einem solchen Wertekanon komplett zu entziehen und die Modelle frei > darzustellen und > zu variieren, das Experiment zu wagen, zu dem keine andere Gattung in > der Lage ist.
D'accord! Komplett entziehen ist ein nobles Ziel, solange man sich klar ist, daß man es nicht wirklich, 100 Pro, absolut erreichen kann. Grüße Alex / molosovsky