Ich kopiere mal einen Beitrag aus der Newsgroup hierher - und würde mich freuen, wenn die anderen ihre Beiträge auch dranhängen, vielleicht geht die Diskussion ja noch weiter.
Hat sich zufällig jemand mal die Mühe gemacht, das naheliegende zu tun und The Scar und Melvilles Moby Dick "Vergleichszulesen"? The Scar ist bei mir eine ganze Weile her, Moby Dick habe ich gerade gelesen, und thematisch gibt es durchaus mehr auffällige Gemeinsamkeiten als nur die Jagd nach dem Leviathan. Am auffälligsten Erschien mir das Thema der "Idolatrie" oder Götzenbilderverehrung. In Moby Dick ist es der "Wilde" Quequeg, der einen kleinen Götzen anbetet, und dessen Religion als außerordentlich pragmatisch und sympathisch geschildert wird (Melville pflegt da einen sehr kritischen Blick auf die "Zivilisation" und lässt seine "Wilden" gern mal besser dastehen).
In The Scar haben wir ja einen ganz anderen Fall von Götzenverehrung: Ein "zivilisierter" New Crobruzoner stiehlt den mythischen Feinden ein magisches Götzenbildnis, und wir denken die ganze Zeit, dass sie ihn deshalb, also aus magischen oder religiösen Motiven, verfolgen. Am Ende ...
SPOILER
Erfahren wir dann, dass es den Verfolgern in Wirklichkeit um gestohlene, Kriegsrelevate Pläne geht, dass ihre Motive also durch und durhc politisch und kein bisschen "mythisch" sind.
Platte Interpretation: Bei Melville erscheint die einfach religiöse Moral Quequegs als der christlichen im positiven Sinne ebenbürtig. Mieville dreht das um: die "Wilden" sind hier auch im negativen Sinne ebenbürtig, sie müssen als politische Akteure mit machtambitionen verstanden werden, nicht als irgendeine andere, undurchschaubare, in mythologischen Begrifflichkeiten zu interpretierende Kultur. Wenn das man nicht tagespolitisch ist ...
Auch die Jagd nach dem Leviathan erscheint mir irgendwie bei Mieville "gespiegelt": In MD entsagt Ahab der praktischen wirtschaftlichen Rationalität (dem Geschäft des Walfangs) zugunsten einer "fetischisierten" Jagd auf den weißen Wal. Die "mythische" Jagd auf den Avanc in The Scar erscheint dagegen erst mythisch, erweist sich aber später als teil eines auch ökonomisch gedachten, relativ rationalen Plan der "Lovers": Er soll Armada ziehen.
Da ich The Scar aber nun schon vor mehreren Jahren gelesen habe, werd ich langsam unsicher, ob ich die wichtigen inhaltlichen Punkt noch richtig wiedergebe. Wenn ich mich bei einer der sachen irre, kann mich ja vielleicht wer darauf hinweisen, damit ich genauer nachsehe ...
Würde mich jedenfalls interessieren, ob Mievielle sich konkret mit Moby Dick auseinandergesetzt hat (dass es mindestens eine vage Bezugnahme gibt, dürfte ihm ja auf jeden Fall bewusst gewesen sein).
Übrigens shceint MD ein beliebter Bezugspunkt für SF-AutorInnen zu sein: Nicht nur wird der Roman immer wieder in Start Trek zitiert, auch Samuel Delanys NOVA und Bruce Sterlings STAUBOZEAN beziehen sich auf das große Vorbild ...
Re: Mieville/Melville
Das ist ja wirklich sehr interessant ... ich habe Mevilles Roman gerade vor kurzem gelesen (ein irres Werk, und die deutsche Übersetzung ist erstklassig!). Ich bin gespannt, welche Anspielungen in THE SCAR versteckt sind.
Re: Mieville/Melville
Hi Jakob.
Deine Erinnerung an »The Scar« stimmt und ich mag Deine Vergleiche mit »Moby Dick«.
Die Grenzen und Grauzonen zwischen wild, barbarisch und zivilisiert, sowie die Reibungen zwischen der Sehnsucht nach Exotik und Argwohn gegenüber Fremden werden in meiden Büchern besichtigt. ERGÄNZ: Mit der Erkundung/Eroberung des Globus durch die Europäer fand und findet eine mächtig rumpelnde Relativierung unserer Kultur und Werte statt. Man denke nur an die Chinesen und ihr Statement, daß die Menschenrechte des Westens nicht unbedingt dem Menschenbild Chinas entsprechen. Kinder bis zu einem bestimmten Alter gelten im fernen Osten beispielsweise nicht als Menschen in sinne unserer Auffassung. Obwohl: es gibt einen niederländischen Autor, der meint, Kleinkinder sollte man als Larven betrachten.ERGÄNZ ENDE
»Moby Dick« (= MD) ist nicht nur für SF- oder Phantastikautoren eine wichtige Boje im Meer der Literatur; mittlerweile ist schon lange genaug eine Melville-Renaissance im Gange. MD gehört zweifelsohne in jene obskure olympische Klasse, die man Weltliteratur nennt. In Deutschland wird seit der Werksausgabe des Hanser-Verlages Melville mit mehr Aufmerksamkeit und Respekt wahrgenommen (endlich z.B. »Pierre« und »Maskeraden« auf Deutsch und MD in einer herrlich von Matthias Jendis übersetzten und superb annotierten Ausgabe).
Ich bin zwar mit MD erst zu einem Drittel durch, aber schwer begeistert. Ich verstehe nur zu gut, warum MD als bis heute strahlendes Menetekel des Zivilisations-Hasses (zumindest aber der Zivilisationskritik) gilt. Zudem ist MD auch formal ein Wonneproppen: durchgehend farbig und athmosphärisch, detailreich und dennoch lebendig. Die Sprache ist wahnsinnig vielstimmig. Zwischendurch gibts schon mal pure Essay-Kapitel und sogar Dramenform. Soweit meine Erfahrung reicht, kann ich sagen, daß MD ein Männerbuch ist. Kenne keine Frauen, die es wirklich schätzen. Auch inhaltlich kommen Frauen so gut wie gar nicht vor. Ahabs Frau z.B. nur indirektest.
China Miéville hat in einem Interview zu »The Scar« den Einfluß von MD klargestellt. Ich suche mal nach der Stelle.
Jupp, Götzenverehrung, oder auch Fetischisierung und seelische Ergänzung gehören zum thematischen Fruchtfleisch von »The Scar«. Wie auch in »PSS« und »Iron Council« stellen Abhängigkeiten, Gerangel um Verwöhnungs-Ressourcen und Xenographie (Beschreibung des Fremdartigen/Fremden). Mir kommen noch in den Sinn.
SPOILERWARTUNG . . . . . . . . . . . Die Liebenden mit ihrer gegenseitigen Narbenschnitzerei. Die Beziehung der beiden ist für mich eine exzellente Anhäufung von Überspanntheit, die man bei Pärchen manches Male beobachten kann.
Mortu Crutt-Kämpfer (überhaupt: Spektakel-Sport ist Fetischanbetung oder Götzendienst. Klingt hart, ist aber ein alter Hut).
Bellis und ihr Brief, von dem sie lange nicht weiß an wen er gerichtet ist. Schönes Bild für jemanden, die nach erzwungenem Exil einen neuen Seelenblumentopf (römisch: Genius; christlich: Gewissen; modern: Psyche) für seine Gedanken- Empfindungsblüten braucht.
Der Kult (mit Anfeuerungs-Kampfrufen) der Armadier um Uther Doul. ÜBERHAUPT: Auf gewisse Weise sind ja solche Äktschn-Höhepunkte wie Uthers Kämpfe mit dem Möglichkeits-Schwert (und coole Monster, Gadgets, Orte) die Slake-Moth-Fraktalmuster, von denen wir Genre- und Phantastik-Fans uns gern hypnotisieren lassen.
DIE zwei großen Götzen sind aber (für mich) A) Entfaltungs-Lust in neue Gebiete, zu neuen Dingen (ungestümes Verlangen nach Kreativitäts- und Novum-Verwöhnung): die Sucht nach Neuem = die Reise zum Riss, die Abhängigkeit Armadas vom Avanc, die Abhägigkeit New Crobuzons von Steinmilch. Also Expansion über den Grundbedarf hinaus.
B) Befreiungsdrang aus Zwängen und Unfreiheit. Freilich im Grunde nur eine andere, legetime Ausführung von A). Doch die Schicksale von Tanner Sack, Bellis (und am Ende auch des Brucolac-Vampir) kommen für mich mehr als berechtigte Fluchten/Auflehnungen rüber.
In »PSS« ist Vogelmensch Yagharek eine famos tragische Figur, weil er zwischen A und B schimmert. Am Ende, als ich die ganze Geschichte von Yaghareks Fall erfuhr, fiel es mir nicht leicht, ein Urteil über ihn zu fällen.
Chinas Bücher platzen vor Dialektik, Diskursen und Bildern für einen ganzen Stall solcher Gedankenspiele. Puh.
Alex / molosovsky
Mein Blog: Molochronik
Re: Mieville/Melville
Nachtrag Ich schrieb: China Miéville hat in einem Interview zu »The Scar« den Einfluß von MD klargestellt. Ich suche mal nach der Stelle.
Einfluß ist so nicht richtig. Aber im »Believer«-Interview meint Miéville, daß er einen Vergleich mit MD als großes Kompliment nimmt.
ZITAT BELIEVER: Youve spoken about the disparate urges that war within your fiction. There is a quote from crookedtimber.orgs online seminar where you say, These values are severalthe avant-garde sensibility, of depicting realistic social structures, of the ripping yarnand its unclear the extent to which each can fruitfully coexist with others in a single text. I feel that these values very fruitfully coexist. Its my contention that you are treading on the same ground as Herman Melville in Moby Dick, with its Nantucket sailors speaking in Shakespearean verse as they chase a big, albino monster through a tale fraught with mystical symbolism and sublimated homosexuality.
CHINA MIÈVILLE: Good god, man, I feel a Ph.D. coming on! Well, Im very, very flattered. People have compared me to Melville before, which, of course, is monumental praise, and there is the name thing. Turn my i into an l and change the place and we have the same name. Im glad you think the values coexist. Several of the people on that symposium have said, Look, I admire your work, but youre pulled in a pulp direction as a storyteller, and youre also pulled in a more avant-garde literary direction, and these are fundamentally pulling against each other. Im not sure that I agree with it. I feel very confused about it, but it does seem to me to be a very interesting take. This has given me pause for thought. But I do retain this hope that you can actually have it both ways. And if you can have it both ways at all, fantasy is a uniquely powerful arena that would allow you to do that. So my aim would be precisely to write the ripping yarn that is also sociologically serious and stylistically avant-garde. I mean, thats the Holy Grail right there.
BELIEVER: I think it is precisely those opposing tensions that make your work so compelling. ZITATENDE
Believer- und Crooked Timer-Interviews kann man über die Links finden. http://de.groups.yahoo.com/group/bas-lag/links