Buch-Tipp: Anna Kim, "Die gefrorene Zeit", Droschl Verlag
Buch-Tipp: Anna Kim, "Die gefrorene Zeit", Droschl Verlag
(Quelle : orf.at )
Was ist Identität?
Oft sind es die ungreifbaren Dinge, die den Menschen mehr schrecken als alles andere. Die Furcht vor Folter, die Angst vor dem Verlust; die Ungewissheit, was mit einem Angehörigen passiert ist, all das kann das Leben des Wartenden ein für alle mal verdunkeln. Vor allem die Opfer des Krieges im ehemaligen Jugoslawien kennen dieses Gefühl der Ohnmacht. Seit dem Ende des Krieges wurden dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes mehr als 30.000 Menschen als vermisst gemeldet. Bis heute konnten nur etwa 15.000 Personen identifiziert werden. Das ist der reale Hintergrund, auf dem Anna Kim ihren Roman baut.
Ante-Mortem-Fragebogen
Die Ich-Erzählerin Nora, eine junge Frau, über die der Leser kaum etwas erfährt, arbeitet beim Roten Kreuz in Wien. Ihre Aufgabe ist es, die Daten der Vermissten aufzunehmen. Eines Tages steht Luan vor ihr, ein Kosovo-Albaner, der seine Frau Fahrie sucht.
Nora und Luan arbeiten sich durch den sogenannten Ante-Mortem-Fragebogen, der mithelfen soll, den abgängigen Menschen zu identifizieren, falls er doch gefunden wird - egal ob tot oder lebendig. "Wann haben sie ihre Frau zuletzt gesprochen? Wann wurde sie geboren? Hat sie einen Spitznamen? Was trug ihre Frau, als sie entführt wurde? Hose oder Rock? War sie barfuß oder trug sie Schuhe? Hatte sie graue Haare? Schreibt sie mit der linken oder rechten Hand?"
Es sind ebenso banale wie intime Fragen, die Luan beantworten muss. Oft hat er Mühe, sich das Bild seiner Frau, die er vor sieben Jahren das letzte Mal gesehen hat, vor Augen zu rufen.
Was bleibt vom Menschen?
In unterkühlter ebenso sachlicher wie poetischer Sprache gelingt es Anna Kim bereits auf den ersten Seiten ihres Buches, die großen menschlichen Fragen zu stellen. Wie konstruiert sich Identität? Ist sie wirklich, so wie es der Fragebogen suggeriert, klar bemessen? Setzt sie sich wirklich bloß aus Geschlecht, Alter, Krankheit, Kleidung, Augenzeugenberichten und Zufallsbegegnungen zusammen? Was bleibt vom Menschen, wenn er nicht mehr real anwesend ist? Wenn er verschwimmt, sich in Akten, Datenblättern und Ante-Mortem-Fragebögen auflöst?
Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren und studierte Philosophie und Theaterwissenschaften in Wien. Spuren dieser Biografie findet man auch in diesem Buch. Was ist Fremde? Was ist Heimat? Wie konstruiert sich das Selbst und wie funktioniert Erinnern? Darum geht es in diesem Text.
Heimliche Affäre
Nach und nach nähern sich die beiden Protagonisten einander an. Langsam beginnt eine Liebesaffäre. Heimlich müssen sich die beiden treffen. Luan gibt strenge Regeln vor, wann Nora ihn anrufen darf. Parfüm gilt es zu vermeiden und Nora muss penibel darauf achten, keine Haare auf der Kleidung ihres Partners zurückzulassen. Wie eine dunkle Wolke schwebt die abwesende Frau über der Bekanntschaft. Das Zusammensein ist nur eine gestohlene Gemeinsamkeit; das schlechte Gewissen nagt an beiden.
Als Anna Kim im Jahre 2005 beim Bachmann-Preis antrat, meinte sie in einem ORF-Interview, sie interessiere sich für die Wörter an sich. Wie kann man sie einsetzten? Wie kann man sie verbiegen? Wie sie verwenden, damit sich neue Dimensionen auftun? Aber bei Anna Kim ist Sprache kein Selbstzweck; dient nicht dazu, zu verschleiern, dass der Autor eigentlich nichts zu erzählen hat. Sprache und Inhalt bilden hier eine faszinierende Einheit. Zumindest im ersten Teil des Buches.
Welt der ungeschriebenen Gesetze
Plötzlich bekommt Luan einen Anruf. Fahrie wurde gefunden. Sie ist tot. Luan kehrt in seine Heimat zurück; er bittet Nora, ihn zu begleiten. Auch für sie ist es eine Rückkehr, hat sie doch für das Rote Kreuz in Pristina gearbeitet. Und hier verändert der Roman nun seine Anmutung. War er zuerst eine intensive Auseinandersetzung mit Fragen von Schuld, Trauer und dem Selbst, so wirkt der Blick der Autorin ab diesem Moment ein wenig wie der einer Ethnologien, die sich distanziert, aber doch interessiert einem fremden Volk nähert.
Nora wird nach und nach Teil der kosovarischen Gesellschaft. Sie dringt ein in eine archaische Welt, voller ungeschriebener Gesetze und Verbote. Regeln sind im Kosovo allgegenwärtig, heißt es da. Alles ist festgelegt. Wie man Probleme innerhalb der Familie zu lösen hat, wie und wann man sich dem Feind nähern soll, wie Hunde zu behandeln sind und wo Männer und wo Frauen ihr Essen zu sich nehmen müssen. Und wenn die kleinsten Details geregelt sind, dann sind es die großen Themen des Lebens allemal: Verlobung, Hochzeit, Taufe, Begräbnis.
Seltsam unwirklich bleibt die Ich-Erzählerin. Sie verschwindet hinter der Sprache und klingt mitunter selbst wie ein Ante-Mortem-Fragebogen. Anna Kim hat mit ihrem neuen Buch einen eindrucksvollen Text vorgelegt und hat für die Schrecken des Krieges ebenso eine adäquate Sprache gefunden wie für die Freuden und Kümmernisse des Alltags. Text: Gerhard Pretting
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Quelle:
http://www.kosova.de/index.php?option=com_content&task=view&id=34&Itemid=1