Immer mehr Kinder sind sprachlos
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Immer mehr Kinder sind sprachlos
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Berlin (dpa) - «Die Kinder können nicht mehr, was sie können könnten.» Es schwingt etwas Verzweiflung in der Stimme von Kinderarzt Dr. Ulrich Fegeler mit. Fast täglich hat er mit Kindern zu tun, die kaum oder schlecht sprechen können, teilweise mit Verhaltensstörung.
Mit Kindern, die weder auf einem Bein stehen noch rückwärts laufen, aber bestens mit dem Gameboy umgehen können. Fast jedes dritte Kind unter acht Jahren hat nicht nur in Berlin, sondern in Bayern ebenso wie beispielsweise in Salzgitter, bereits eine Sprach- oder Entwicklungstherapie hinter sich.
Noch nie zuvor waren so viele Kinder in Deutschland so sprachlos wie jetzt - mit vielen nur schwer korrigierbaren, sehr teuren Langzeitfolgen: Denn Sprechen und Denken bedingen sich wechselseitig. Dass Ausländerkinder selbst in der dritten und vierten Migrantengeneration kaum Deutsch sprechen ist schon schlimm genug. «50 Prozent der türkischen Kinder verstehen die Schule nicht», sagt Fegeler, der in Berlin Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte ist und gemeinsam mit anderen in Modellkindergärten die Sprachdefizite zu verhindern sucht. Aber viele der nichtdeutschen Kinder sprechen immerhin ihre Muttersprache gut. Noch ärger steht es um viele deutsche Kinder. «Wir haben es mit mangelnder Sprachanregung zu tun. In deutschen Familien passiert da zunehmend nichts mehr. Die Kinder fallen dann dem Medizinbetrieb anheim», sagt Fegeler.
Die meisten «Sprachentwicklungsstörungen» haben damit zu tun, dass die Eltern zu wenig mit den Kindern sprechen, vorlesen und spielen und dass diese viel zu viel Zeit vor dem Fernseher verbringen. Neue gesellschaftliche Zwänge und Überforderung, aber auch Ignoranz und Desinteresse sind im Spiel. Fegeler: «Wenn mit den Kindern wenig passiert, dann werden sie dauerhaft geschädigt. Früher waren die Kinder entwicklungsangeregter als heute. Die Sprachstörung als Massenphänomen ist neu.»
Kinder, die sprachlich verarmen, kommen oft aus «sozialschwachen und bildungsfernen Familien». Die Wahrscheinlichkeit, in Schule oder Lehre zu scheitern, «verhaltensauffällig» und auch körperlich krank zu werden, ist deutlich höher als bei normaler sprachlicher Entwicklung. Der Bonner Neuropädiater Prof. Hans Schlack spricht von einer neuen «Volkskrankheit», dem «allgemeinen erzieherischen Unvermögen der Familien». Die Unfähigkeit, sich die Welt durch Sprache zu erschließen, kann nach Überzeugung Fegelers durch Ärzte und Logopäden (Sprachtherapeuten) nicht gelöst werden: «Wir warnen vor einer Medikalisierung des Problems. Das muss die Pädagogik lösen.»
Eine «Sprachstandserhebung» bei knapp 27 000 Berliner Erstklässlern hatte 2003 beispielsweise ergeben, dass knapp ein Drittel der deutschen und knapp zwei Drittel der nichtdeutschen Kinder dringend einer sprachlichen Förderung bedurften. Politiker erkennen zunehmend, welch sozialen Sprengstoff die gestörte Sprachentwicklung mit sich bringt. Ab November dieses Jahres wird in der Hauptstadt nicht nur bei allen Neuanmeldungen von Erstklässlern auch die Sprachfähigkeit untersucht: Mangelt es an Sprachfähigkeit und ist das Kind nicht im Kindergarten angemeldet, so muss es im Alter von fünf Jahren ein halbes Jahr lang täglich zwei Stunden Sprachunterricht absolvieren. Erst danach wird eingeschult.
Der Zwangsunterricht für die Fünfjährigen ist nur Notbehelf. Die wesentlichen Grundlagen des Sprachverständnisses werden zwischen dem 12. und dem 18. Lebensmonat gelegt, meint der Schweizer Sprachwissenschaftler Zvi Penner beweisen zu können. Allerspätestens im Kindergarten müsste also die Sprachförderung beginnen. Doch die meisten deutschen Kindergärten sind bisher eher Verwahranstalten als Bildungseinrichtungen. Erzieherinnen sind nicht ausgebildet, die nötigen Anreize für die Sprachentwicklung zu geben. Vorstöße, auch in Deutschland für Erzieher eine Fachhochschul-Ausbildung vorzuschreiben, sind bisher stets von den Kultusministern abgeblockt worden: Sie fürchten, dass besser qualifizierte Kindergärtner mehr Gehalt wollen.
So will Fegeler nun mit «seinem» Modellprojekt in sechs Berliner Kindergärten zeigen, wie man mit wenig Geld viel erreichen kann. Jeden Tag gibt es 15 Minuten Sprachlernanreize nach einem von Zvi Penner entwickelten Plan. «Die Kinder lernen rasend schnell, wenn sie nur angeregt werden», sagt Fegeler. «Das kostet auch nur acht bis zehn Euro pro Kind.» Penner hat geschätzt, dass ein sprachgestörtes Kind den Schweizer Staat etwa 60 000 Franken kostet.
Quelle: web.de Schlagzeilen