Re: Herbert Grönemeyer
Im Auge des Beifallorkans
Es ist fünf vor Zwölf. Nicht wirklich, aber auf der riesigen Uhr, die an die Rückwand der Bühne im nicht ganz ausverkauften Stuttgarter Gottlieb-Daimler-Stadion projiziert wird. Je weiter die Uhr auf "High Noon" rückt, desto lauter schwillt der erwartungsvolle Jubel der gut 50.000 Zuschauer an. Wenn sie seitlich von der Bühne und dem gut 40 Meter langen Laufsteg sitzen, der ins Zentrum der Besuchermasse im Innenraum führt, haben sie den Eindruck, dass Jesus lebt. Schließlich läuft da jemand forschen Schrittes über ein Meer. Aus Händen. Trotz dieses messianischen Auftritts setzt sich Herbert Grönemeyer unprätentiös an einen kleinen Flügel im Auge des Beifallorkans und beginnt sein Konzert ohne jede Kraftmeierei mit der Ballade "Leb in meiner Welt".
Dass die altgediente Begleitband des letzten wirklichen Deutschrock-Megastars mit einer durchschlagskräftigen Streicherbrigade verstärkt wird, lässt beim Anschwellen des Gesangs halb vergessene Classic-Rock-Assoziationen aufkommen. Ein Vorgeschmack darauf, dass die musikalischen Konsequenzen von Grönemeyers postmodernem Paradigmenwechsel auf "Bleibt alles anders" (1998) und "Mensch" (2002) zumindest live deutlich abgeschliffen werden.
Dass Grönemeyer sein Klangbild stärker erdet, dürfte den meisten Zuschauern entgegen kommen. Genau dies tut auch der Star des Abends, der den Stuttgartern serienweise Meisterkränze flicht ("machst mit dem Doppelpass leider nicht den VfB Stuttgart nass") und ihren Enthusiasmus über den grünen Rasen lobt. Der Volkstribun weiß genau, was seine treue und die seit dem Megaerfolg von "Mensch" hinzugekommene neue Gefolgschaft wünscht. Die ersten drei Songs stammen zwar vom aktuellen, allgemein noch nicht so verinnerlichten Album "12", aber instinktsicher hat der 51-Jährige zu dem treibenden "Kopf hoch, tanzen" und "Stück vom Himmel" für den Einstieg ins Konzert gegriffen. Wie "Leb in meiner Welt" stehen sie bei einer Internet-Fan-Umfrage nach dem idealen Grönemeyer-Live-Programm unter den ersten fünf.
Stimmungsdellen wie beim Tourauftakt in Leipzig gibt es hier zu keiner Zeit. Wie auch? Ein Stakkato aus den Klassikern wie "Musik nur wenn sie laut ist" "Halt mich" "Bochum" und "Alkohol" bereitet wieder den Boden für das neue Material von "12". So lässt selbst "Marlene", das bedrückende Lied über die tragischen Folgen der knappen Aids-Medikation in Afrika, die Fans nur kurz besinnlich innehalten die Korken knallen schon im Anschluss wieder zum launigen "Ohne dich" und "Spur" die im rustikaleren Live-Arrangement ihr hymnisches Potenzial voll abrufen. Die grandiose Bewältigungsballade "Der Weg" wird dagegen mit einem kollektiv geseufzten "Ja!" begrüßt. Dann herrscht nur noch Schwelgen, auch dank der passgenau arrangierten Streicher. Genau wie beim anschließenden "Mensch".
Dass sich der zunehmend Adrenalin-berauschte Grönemeyer mehrfach heftig versingt am schlimmsten bei "Liebe liegt nicht" am Schluss des regulären Sets, stört niemanden, am wenigsten ihn selbst ("Der Text ist furchtbar schwierig" ). Ungeniert gibt er die dreifach eingesprungene Becker-Faust beim Bad in der überbordenden Zuneigung und tanzt ein selbstironisches Pas-de-Deux mit der Masse: "Da weiß man, warum man lebt!"
Bei den neun Songs der vier stürmisch geforderten Zugaben kommt er immer häufiger in die Rolle, die ihm am besten gefällt: Ein Chor aus 50.000 Stimmen lässt sich dirigieren und Grönemeyer steigert sich als zweite Stimme in eine ungeahnte Improvisationslust. Verspielt, albern, selbstironisch, das macht Spaß. Die WM-Hymne "Zeit, dass sich was dreht", die handwerklich schwächste Single seiner Karriere, wird so heftig intoniert, dass die nach oben offenen Richterskalen der Erdbebenwächter heftige Ausschläge im Großraum Stuttgart gemessen haben müssten. (oleoleole wurde zwischen den Songs ständig vom Publikum angesungen)
Warum die Menschen diesem kantigen, oft vorsätzlich krächzenden Sänger nur zu gern aus der Hand fressen, wird in solchen Momenten offensichtlich: Mindestens zwei Generationen von Deutschen sind daran gewöhnt, dass Herbert Grönemeyers Lieder ihren Gefühlen einen Resonanzraum bieten - vor allem mit packenden Balladen, flimmernder Semantik und einer eigenwilligen, schwer greifbaren Bildlichkeit, die wie zum Beispiel "Mensch" ein Spektrum zwischen Oderflut und persönlichster Trauerarbeit abdeckt. Obwohl der Text konkret nichts davon thematisiert.
Das funktioniert wie ein Geschmacksemulgator: Hat man auch nur Spurenelemente eines Grönemeyer-Refrains im Ohr, entfaltet er ein Erinnerungsaroma - kollektiv oder ganz individuell, total egal. Deshalb ist der 51-Jährige der einzige Überlebende des Deutschrock-Booms der 80er, der Fußballstadien füllt, eine Liga, von der die jüngeren Pophelden von Naidoo und Rosenstolz bis Silbermond und Wir sind Helden noch meilenweit entfernt sind.
Jörg-Peter Klotz
Grönemeyer-Konzerte u.a. am 16.6. in München, 18.6. in Vaduz und 27./28.6. in Bern
Quelle: suedkurier.de
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