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Ein vager Verdacht genügt...

Ein vager Verdacht genügt...

Einfach mal so - zum Wachwerden und Nachdenken. Und natürlich auch, um mal jenseits von Bild-Zeitung, DSDS und leider auch dem Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen für Aufmerksamkeit zu sorgen.
Das tun unsere GEZ-Sendeanstalten trotz ihres "Bildungsauftrags" nämlich leider viel zu wenig und zu wenig neutral.

Diejenigen, die ja sowieso nichts zu verbergen haben, sollten sich insbesondere diese Textstelle mal verinnerlichen.

"Ich kann nicht wissen, wie die Verhältnisse in Deutschland in 50 Jahren sein werden. Aber vieles von dem, was ich heute tue und sage, wird auch dann noch irgendwo gespeichert sein,..."


Viel Spaß beim Lesen - mir läuft dabei allerdings eher ein leichter Schauder über den Rücken.

Ein vager Verdacht genügt

IM GESPRäCH: Bettina Winsemann und Carsten Giesenfeld von der Organisation "Stop 1984" über den Staatsbürger, der das Verfügungsrecht über seine eigenen Daten verliert

FREITAG: Überwachungstechnologien sind heute in fast allen Lebensbereichen präsent. Warum stört das kaum noch jemanden?
CARSTEN GIESENFELD: Die Überwachung wurde und wird in kleinen Schritten umgesetzt, deshalb fällt vielen Menschen nicht auf, wie weit wir mit ihrer Umsetzung schon sind. Mit den aktuellen Vorhaben, beispielsweise der Vorratsdatenspeicherung und heimlichen Online-Duchsuchungen, würde aber eine neue Ära der Überwachung anbrechen, denn dann wird die Unschuldsvermutung ausgehebelt und jeder Bürger als potenzieller Täter behandelt. Der Begriff "präventiv" taucht immer öfter auf. Damit ist eine völlig neue Rechtspraxis verbunden: um kriminalisiert zu werden, reicht bereits der Verdacht, dass man etwas Illegales tun könnte.

Was wird sich mit dem geplanten Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung ändern?
CG: Bisher durften persönliche Daten, in diesem Fall Informationen über Telefonverbindungen, nur gespeichert werden, wenn die Betroffenen vorher eingewilligt haben. Das Gesetz soll Telefonanbieter verpflichten, sämtliche Daten ihrer Kunden über Telefonverbindungen und Standorte bei Mobiltelefonaten sowie E-Mail-Verkehr sechs Monate lang zu speichern. Ein vager Verdacht reicht für den Zugriff der Ermittlungsbehören auf diese Daten aus. Das würde nicht nur Privatpersonen treffen, sondern auch Ärzte, deren Schweigepflicht verletzt würde, und Journalisten, die bei der Recherche über brisante Themen keinen Informantenschutz mehr hätten. Faktisch ist das Gesetz damit auch eine Einschränkung der Pressefreiheit. Und für alle anderen heißt es, dass es kein Fernmeldegeheimnis mehr gibt.

Befürworter der Überwachungstechnologien sagen, man könne damit künftig besser Verbrechen aufklären oder Terrorattentate verhindern.
CG: Das funktioniert nicht. Kein Terrorist wird beispielsweise so dumm sein, einen Terroraufruf über seinen privaten Internetanschluss oder sein Telefon zu machen. Er wird dafür einen mobilen Computer und ein fremdes, unverschlüsseltes LAN-Netz in irgendeiner Stadt nutzen. Dann kann es sein, dass die Quelle des Terroraufrufs geortet wird und plötzlich ein Sondereinsatzkommando der Polizei im Wohnzimmer eines ahnungslosen Philologiestudenten steht, der nicht gewusst hat, wie man eine Firewall auf dem Computer installiert, und erst recht nicht in der Lage ist, eine Bombe zu bauen.

BETTINA WINSEMANN: Beispielsweise wurde auch oft behauptet, die geplanten Londoner Flugzeugattentate im Sommer 2006 wären mit Hilfe des Kameraüberwachungssystems CCTV vereitelt worden. In Wirklichkeit aber waren ausländische Geheimdienste den Tätern schon seit Monaten auf der Spur. Die meisten vereitelten Verbrechen sind nicht durch Überwachungssysteme verhindert worden.

Ist denn der totale Überwachungsstaat aus Orwells Roman "1984" heute bereits Realität?
CG: Nicht ganz, aber teilweise durchaus. Vor allem wird die Kontrolle noch zunehmen. Aktuell sehen wir es am Beispiel Online-Überwachung: Nachdem der Bundesgerichtshof entschieden hat, dass die heimliche Online-Durchsuchung von Privat-PCs derzeit keine gesetzliche Grundlage hat, fordern Polizei-Lobby und der Bundesinnenminister eine schnelle gesetzliche Regelung, die das Herumschnüffeln auf PCs ohne richterlichen Beschluss ermöglicht.

BW: Es hat sich eine Mentalität verbreitet, die der Orwellschen Gedankenkontrolle vergleichbar ist. Sie wirkt sich wie eine ständige Selbstzensur der Menschen aus, weil niemand will, dass der eigene Name mit etwas in Verbindung gebracht wird, was einem angelastet werden könnte. Diese Form der unterschwelligen, allgegenwärtigen Angst ist eine Folge der Überwachung.

Viele Menschen denken aber auch: "Ich habe nichts zu verbergen, also habe ich auch nichts zu befürchten".
BW: In dieser Logik liegt ein großer Irrtum, denn den unbescholtenen Bürger gibt es nicht. Wenn sich die Gesetze zu Online-Durchsuchungen durchsetzen, ist es möglich, dass alle, die eine gebrannte CD auf dem Computer abspielen, Strafverfahren mit Bußgeldern bekommen. Gebrannte CDs hat heute fast jeder, ohne sich deshalb kriminell zu fühlen. Viele vergessen, dass das persönliche Gerechtigkeitsempfinden keine Rolle spielt bei der Definition dessen, was legal ist.

Warum soll man nicht vertrauen - sind die Daten beim Staat nicht in sicheren Händen?
BW: Nehmen wir das Beispiel Telefonüberwachung. Die Gesetze besagen, dass Personen, die telefonisch überwacht worden sind, darüber nachträglich informiert werden müssen. Nicht einmal das funktioniert. Eine Studie des Max-Planck-Instituts ergab, dass die Betroffenen nur in einem Drittel der Fälle tatsächlich benachrichtigt worden waren. Dass die Verfassungsschützer selbst die Gesetze nicht befolgen, sagt sehr viel über sie aus. Die Ermittlungsbehörden verlangen von den Bürgern absolutes Vertrauen, wenn sie auf ihre persönlichen Daten zugreifen wollen. Aber warum sollten die Bürger einem Verfassungsschutz vertrauen, wenn dieser ihnen umgekehrt immer weniger vertraut?

Was macht denn die Datensammelwut eines Staates so gefährlich?
BW: Im Nationalsozialismus hätten viele Juden vielleicht untertauchen und überleben können, wenn nicht einige Jahre vor Hitlers Machtübernahme eine Volkszählung durchgeführt worden wäre, bei der sie ihr Judentum als Religion angegeben hatten. Ich kann nicht wissen, wie die Verhältnisse in Deutschland in 50 Jahren sein werden. Aber vieles von dem, was ich heute tue und sage, wird auch dann noch irgendwo gespeichert sein, und wenn es nur eine Äußerung im Chat ist. Das Internet vergisst nichts. Ich kann mich ändern, und vielleicht habe ich das, was dort steht, auch ganz anders gemeint als man vermuten könnte. Aber jemand, der das interpretiert, wird mich nicht fragen, wie es gemeint war.

Die meisten Leute scheinen sich nicht gegen noch so vehemente Eingriffe in ihre Privatsphäre zu wehren ...
BW: Das stimmt nicht, im Gegenteil, der Widerstand ist enorm gewachsen. Die von unserem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung geplante Verfassungsbeschwerde unterstützen bereits mehr als 11.000 Leute. Sie beteiligen sich an einer Sammelklage gegen das Gesetz.

Sie organisieren also den Widerstand gegen exzessive staatliche Kontrolle.
BW: Ja, die Organisation "Stop 1984" sammelt weltweit Informationen zu Themen der Überwachung des öffentlichen und privaten Lebens oder zu Datenschutzfragen. In Rundschreiben klären wir beispielsweise darüber auf, was Einzelne tun können, und organisieren Demonstrationen oder Verfassungsklagen.

Wäre das nicht die Aufgabe der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder?
BW: Unsere Arbeit und die der Datenschutzbeauftragten ergänzen sich. Die Aufgabe der Datenschutzbeauftragten besteht vor allem darin, die Öffentlichkeit zu informieren, wenn ein Gesetz datenschutzrechtlich bedenklich ist. "Stop 1984" bringt diese Themen dann auf einer breiteren publizistischen Ebene an die Öffentlichkeit.

Welche Möglichkeiten gibt es für Einzelne, sich gegen die Überwachung zu wehren?
CG: Sehr wichtig ist es, sich und andere darüber zu informieren, was mit den eigenen Daten passiert und sich eine gewisse Diskretion im Umgang mit Daten anzugewöhnen, die man nicht unbedingt in der Hand von Unbekannten wissen will. Als Konsumenten sind wir sehr mächtig. Microsoft etwa plant gerade eine neue Rechner- und Softwaregeneration, "Windows Vista", bei deren Installation man zustimmen muss, dass regelmäßig Informationen über die auf dem Rechner installierte Software, über Lizenzen und Nutzerprofile an Microsoft gesendet werden. Mit Verlaub - aber das geht zu weit. Deswegen werde ich das Betriebssystem nicht nutzen.

Wohin könnte der Ausbau von Durchleuchtungsmethoden führen?
CG: In Großbritannien ist man schon sehr weit im Einsatz von Überwachungstechnologien. Dort können heute Jugendliche in Gewahrsam genommen werden, wenn ein psychologisches Profil darauf hindeutet, dass sie möglicherweise kriminell werden könnten, ohne dass wirklich eine Straftat passiert ist - ein grundlegend verändertes Rechtsverständnis. Wir hinterlassen sowohl als Staatsbürger wie auch als Konsumenten ständig Spuren, aus denen Profile gebastelt werden können, und das wird auch getan. Die Menschen begreifen, dass beispielsweise eine bestimmte Staatsangehörigkeit oder bestimmte Kontakte dazu führen können, in einer Kartei des Bundeskriminalamtes zu landen als Angehörigeer eines verfassungsfeindlichen Netzwerkes. Dadurch kann ein Klima von Misstrauen entstehen, das unsere sozialen Beziehungen nachhaltig verändert - und "1984" wäre noch ein Stückchen mehr verwirklicht.

Das Gespräch führte Friederike Rüll

Die Teilnahme an der Sammelklage gegen die Vorratsdatenspeicherung ist kostenlos. Eintragen kann sich jeder unter: http://www.vorratsdatenspeicherung.de