Freies Politikforum für Demokraten und Anarchisten - Anarchie, Demokratie, Philosophie oder die Suche nach Erkenntnissen

Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Re: Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Hallo, Udo!
Hallo, bjk!

Was zu beachten wäre, wenn man sich mit der politischen Philosophie Bakunin´s und anderer, z.B. auch späterer Anarchisten wie Negri, beschäftigt, ist die jeweils vorherrschende, politische Lage und Situation, von welcher aus vorwärts und bzw. rückblickend Kritikpunkte und Theorien entwickelt werden.
Bakunin hatte zu seiner Zeit als (empirischen) Erfahrungs-Ansatz verschiedene Formen von Monarchie ( - Diktaturen - hier vor allem die russische und die vorrevolutionäre in Frankreich) und Republiken, (explizit äußert er sich zur Schweiz und Nordamerika), als Ausgangs-Grundlagen für seine Theorien einbezogen.
Er hat aber auch seine Theorie gegenüber der Marxismus-Theorie klar abgegrenzt.

Beispiel als Ergänzung zum nachfolgenden Bakunin-Zitat von Udo:
"Daß aber niemand auf die Idee kommt, wir
(Bakunin, Giuseppe Garibaldi, Edgar Quinet und Ludwig Büchner, Mitglieder des Friedenskongresses 9.9.1867)
wollten die demokratische Regierung zugunsten der Monarchie kritisieren!
Wir sind fest davon überzeugt, daß die unvollkommenste Republik tausendmal besser ist als die aufgeklärteste Monarchie, denn in einer Republik gibt es immerhin Augenblicke, in denen das Volk, wenn auch weiterhin ausgebeutet, nicht unterdrückt wird.
Dergleichen wird man in Monarchien nicht niemals finden.
Und ausserdem bereitet das demokratische Regime die Massen allmählich auf das politische Leben vor, was die Monarchie niemals tut...."

Zitat Udo:
Bakunin ist natürlich ein gewaltiger Denker, dem wichtige Denkanstöße in der politischen Philosophie zu verdanken sind: Hellsichtig kritisierte Bakunin bereits 1873 autoritäre konservative Staaten genauso wie autoritäre sozialistische Diktaturen:
'Faktisch bedeuten sie beide das Gleiche; die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit im Namen der angeblichen Dummheit Ersterer und der angeblichen Weisheit letzterer.' "

Zitat Udo:
Damit trifft er den Nagel auf den Kopf. Doch was können wir daraus folgern? Ist die Mehrheit nicht dumm, egoistisch, verantwortungsfaul? Ist die Minderheit nicht klüger, egoistischer, machtgeiler, also wirksamer?

Schon der erste Schritt in diese Analyse läßt uns stecken bleiben in dem Problem, daß jede politische Philosophie es mit den real existierenden Menschen zu tun hat, die eben so sind wie sie sind: in der Masse verführbar, egoistisch, denkfaul, verantwortungslos.

Lieber Udo, ich zähle mich zur von Dir beschriebenen Mehrheit und wie ich Bakunin interpretiere, tat er das von sich ebenfalls.
Es ist richtig, daß es Unterschiede zwischen dem einen Menschen und dem anderen gibt, aber die Unterschiede, die Du genannt hast sind,
um wiederum Bakunin zu Wort kommen zu lassen:
"...infolge erblicher Ungleichheit der Beschäftigungen, der Vermögen, der Bildung und der Rechte, welche die menschliche Gesellschaft in verschiedene Klassen spaltet"
verursacht!
Jedenfalls billige ich jener, von Dir so trefflich beschriebenen Minderheit weder ein Mandat noch eine Berechtigung zu, die Mehrheit, wie sie Bakunin wahrgenommen hat, nach Strich und Faden auszubeuten und für machtpolitische Zwecke zu verheizen (aktuelles Beispiel USA).

Zitat Udo:
Der Charme der Demokratie besteht darin, daß sie ein Herrschaftssystem konstruiert, in dem die Beschränktheit des "Menschen an sich" am wenigsten Schaden anrichten kann.

Oho, Udo! Dazu braucht´s keiner Demokratie (in der Form einer Republik)

Zitat Udo:
Der repräsentativen Demokratie genügt die "Fiktion des mündigen Bürgers" - und weiß dabei genau, daß kaum jemand in diesem Sinne "mündig" ist.

Genau!
Diese Form der "Repräsentativen Demokratie" ist die Zurücknahme und Streichung von Mitbestimmungs- und Gestaltungsrechten, wie diese in einer Demokratie "dem Volke" noch zugestanden werden.
Kommt dann noch ein "Parteienprivileg" hinzu, kann man korrekter und ehrlicher Weise nicht mehr von Demokratie im Sinne des Wortes reden!
Es ist also eine Begriffs-Lüge, wenn Deutschland als Demokratie bezeichnet wird (auch weil weitere Merkmale, wie die Gewaltenteilung, nicht konsequent durchgesetzt sind)!

Zitat Udo:
Das schadet aber nichts, weil die Macht aufgeteilt ist und ein institutionell verwurzeltes System von checks and balances dafür sorgt, daß Auswüchse frühzeitig erkannt und möglichst elegant begradigt werden.

Na, Udo! Mußt Du da nicht selbst darüber lachen?
Weder ist "die Macht" aufgeteilt,
...dieses Manko beginnt schon bei den untersten staatlichen Gliederungen, z.B. bei der Personaleinheit eines Bürgermeisters oder Landrates als Gesetz- und Satzungs-Organ und anderseits als Chef für Vollzuges der erlassenen Gesetzes des eigenen Wirkungsbereiches.
Das setzt sich fort bei der Kette Polizei-Staatsanwaltschaft-Richter (das solltest Du aber noch in Erinnerung haben ) und endet bei den vielfältigen formalen, gesetzlichen und politischen "Beschränkungen" staatlicher Überwachungsbehörden und Prüfinstitutionen.

Vielleicht hättest Du die Presse nennen können, welche bisher jedenfalls Skandale ans Licht zerrte, die ansonsten der Öffentlichkeit verborgen geblieben wären, die aber nur die Spitze des Eisberges bilden!
Wie lange uns allen die Presse noch als ein wirksames Korretiv erhalten bleibt, in jenen Strukturen , die Du so enthusiastisch als Demokratie feierst, ist fraglich. Jedenfalls hat der massive Machtzugriff der Politikerkaste auf alle Medien ungenehme Kritik zum Verstummen gebracht!
Die geplanten Kontrollen und Beschränkungen der Kommunikationsplattform Internet gehen auch in diese Richtung!

Zitat Udo:
Anarchie dagegen erfordert heroisch altruistische Menschen, die auf diesem Planeten nicht zu haben sind. Welches Menschenbild ist nötig um sicherzustellen, daß etwa anarchistische Daseinsweisen weniger Übel anrichten als Demokratien mit all ihren Fehlern und Mängeln? Was wird aus der Anarchie, wenn die Menschen nicht auf der geistigen und charakterlichen Höhe des Anarchismus stehen? Es steht zu befürchten, daß es auf breiter Front zu Mord und Todschlag kommt. Wenn die real existierenden Menschen in der Demokratie dagegen nicht dem Ideal des Demokraten entsprechen, welche Greuel sind dann zu befürchten? - Gar keine, denn das ist der Normalfall: Durch Demokratie werden die gewalttätigen Instinkte des Menschen weitgehend domestiziert, die repräsentatie Demokratie ist geradezu darauf zugeschnitten, mit nicht-idealen "Demokraten" eine "normal" funktionierende Demokratie einzurichten.

Auch wenn Du eingangs Deines Zitates Anarchisten zugestehst, einen hohen moralischen Anspruch zu verinnerlichen, so zeigst Du mit Deiner Befürchtung, daß Du unter "Anarchie" immer noch hemmungslose Gewaltfreiheit verstehst.
Du zeigst aber auch, daß Du kein Vertrauen in die Vernunft und den Selbsterhaltungswillen jener Menschen setzt, die Du als "Volk" bezeichnest.
Ich zähle mich zu diesem "Volk" und schließe von mir auf andere, selbst wenn mir bewußt ist, daß einige menschliche Bedürfnisse der Anderen, sich von meinen unterscheiden.
Im Gegensatz zu Dir, bringe ich weder Vertrauen noch Loyalität zu jener, von Dir so trefflich beschriebenen Minderheitengruppe auf, welche die Macht für ihre Zwecke und Interessen korrumpiert.

Gruß
Baba Yaga

Re: Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Liebe Mitdiskutanten,
hallo Baba und bjk,

wir haben zielstrebig die eigentlichen Knackpunkte ins Visier genommen:

1. Sind die Menschen zu Anarchismus fähig?

2. Führt Anarchismus (in der realen Welt) zwangsläufig zu „Propaganda durch die Tat“, zur amoralischen Gewaltfreiheit des Revolutionärs, zu Terror und Kriminalität, und damit zu flächendeckender Diskreditierung der ursprünglichen anarchistischen Utopie?

Ich hatte ja schon mein schmuckloses Menschenbild über „die Mehrheit“, die „Volksmassen“ also, angedeutet: Gewohnheitstiere, dumm, egoistisch, verantwortungsfaul, risikoscheu, korrumpierbar.

Du, Baba, hast damit kokettiert, Dich zu dieser Mehrheit der Volksmassen zu zählen, so wie sich auch Bakunin dazu gezählt hätte. Bakunin hat genau so klarsichtig erkannt, wie es um die Vilksmassen stand. Seit den 60er Jahren kam mit Bakunins Unterstützung das Narodnitschestvo auf, das „Ins-Volk-gehen“, das besonders 1873 große Resonanz fand, als einige Tausend junge Leute aufs Land zogen, um Bildungs-, Erweckungs- und Aufklärungsarbeit zu leisten. Ihre Aktion wurde ein totaler Mißerfolg: Die Bauern waren für die von Bakunins Auffassungen abgeleiteten Thesen der Volksfreunde nicht ansprechbar.

Bakunin als Angehöriger des Adels, als Offizier und Intellektueller zählte sich selbst durchaus nicht zu den Volksmassen, er entwickelte vielmehr fleißig Strategien, um aus den realen, dumpfen Volksmassen gereifte Menschen zu schaffen, die nach Anspruch und Charakter zu einer anarchistischen Utopie passen würden.

Und auch Du, Baba, gehörst nicht zu den Volksmassen, um deren Wohl Du Dich mit hohem persönlichem Einsatz bemühst. Die Volksmassen, das sind die CSU-Wähler, die Dich für überspannt ansehen, wenn sie Dich überhaupt wahrnehmen.

Und weil die Menschen so sind wie sie sind, kommen die Anarchisten mit ihrer Erweckungsarbeit nicht voran, zumal sie obendrein in ihrer Propagandaarbeit durch staatliche Eingriffe behindert werden. Konsequenz: Die Veränderungen müssen durch eine Revolution durchgesetzt werden. Diese muß aus dem Volk hervorbrechen. Dazu muß man das Volk anstacheln, durch Geheimgesellschaften, durch Propaganda, besonders intensiv durch „Propaganda durch die Tat“, also durch Attentate und terroristische Angriffe auf die herrschende Gesellschaft.

Paul Brousse prägte 1877 die einprägsame Formel der „Propaganda durch die Tat“: Mit politischem Mord wollte man das Volk mobilisieren. Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts war unter diesem Motto von einer Vielzahl von Gewalttaten erfüllt. Es kam nicht nur zu zahlreichen mißglückten oder erfolgreichen Attentaten auf Staatsoberhäupter, so auf den französischen Präsidenten Carnot, den amerikanischen Präsidenten MacKinley, auf Elisabeth von Österreich oder den deutschen Kaiser Wilhelm I, sondern auch auf viele andere Personen, besonders auf Angehöriger der Polizei, zu vielfältigen Terroranschlägen und Akten ganz gewöhnlicher Kriminalität, die nur notdürftig politisch motiviert wurden. Die Täter beriefen sich meist auf die anarchistische Gedankenwelt – und nicht völlig ohne Schlüssigkeit. Mit diesen Aktionen wurde zwar der Sinn des Anarchismus völlig auf den Kopf gestellt, sie waren gleichwohl eine Konsequenz aus der Unmöglichkeit, mit den real existierenden Menschen eine anarchistsiche Daseinsform zu gründen. Wenn der Anarchismus vielfach mit Gewaltfreiheit assoziiert wird, so gibt es dafür gute Gründe, denn die Verfechter des Anarchismus um Bakunin, Netschajew, Tkatschew, Kropotkin hatten sich alle dazu durchgerungen, die schöne Utopie von der herrschaftsfreien Daseinsweise mit häßlicher Gewalt vorantreiben zu müssen.
Was bei Godwin idyllisch als soziale Utopie begonnen hatte, getragen von dem Glauben an die Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung, mündete so in platten terroristischen Aktionismus, durch den der Anachismus zu recht völlig diskreditiert wurde. Hier wurde schließlich historisch der empirische Beweis dafür angetreten, daß die anarchistische Utopie unausführbar ist., weil der real existierende Mensch dazu nicht geeignet ist.

Trotzdem glaube auch ich, daß der Mensch sich entwickeln kann. Er hat die Fähigkeit zur Vervollkommnung. Es ist nicht sinnlos zu versuchen, Menschen für ideale Ziele zu erwärmen. Im Gegenteil, es macht durchaus Sinn, mit seinen Mitmenschen über die „öffentlichen Angelegenheiten“ zu diskutieren, gemeinsam oder kontrovers nach Lösungen für allgemeine Probleme zu suchen.

Dabei darf man aber keine Wunder erwarten.Man kann sicherlich graduelle Vehaltensveränderung bewirken, aber man kann Menschen nicht komplett umkrempeln.

Entsprechende Bemühungen finden ununterbrochen statt, und zwar nicht im Rahmen des Anarchismus, sondern als demokratischer Alltag durch Demonstrationen, politische Happenings, politische Bildungsarbeit, öffentliche Dispute, Tarifverhandlungen, parlamentarische Debatten, Urteile von Obersten Gerichten. Dabei werden die Menschen dort abgeholt, wo sie sind – man erwartet nicht von Ihnen, prinzipiell besser, altruistischer, verantwortungsvoller, klüger zu sein als sie nun einmal sind. Und wenn die Leute eine bestimmte Idee einfach nicht fressen wollen, wenn sie sich für ein bestimmtes Ideal nicht begeistern lassen, dann fießt nicht Blut sondern Tinte.

Einer der Gründe, warum ich eher auf demokratische Entwicklungen setze als auf Anarchsimus und den Blutzoll frustrierter anarchistsicher Fanatiker, die historisch nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel bildeten.

Deine Kritik an der Demokratie kann ich weitgehend nachvollziehen, wenn auch nicht in so zugespitzter Form. Die real existierende Demokratie liefert, was sie verspricht – nicht daß jeder Hinz und Kunz den Kanzler spielen darf, sondern daß unter Wahrung der Menschenrechte eine Herrschaft stattfindet, die sich von den Wählern her legitimiert und prinzipiell abwählbar und durch andere Machthaber ersetzbar ist. Der einzelne bleibt Zwängen ausgesetzt, seine Freiheit ist wesentlich relativiert durch die gleichzeitige Freiheit der Anderen, aber im Rahmen der für alle gleichermaßen geltenden Rechtsordnung. Und das ist ja schon einmal ein großer Schritt in der Entwicklung der Menschheit.


Mit freundlichen Grüßen
Udo Teichmann

Re: Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Hallo, Udo!

Danke für Deine ausführliche Stellungnahme, auf welche ich noch eingehend antworten werde.

Ich habe gerade mitbekommen, daß über unsere Diskussion hier im Unsinnforum eine Rezension stattgefunden hat, wobei man versuchte, Dich bei der RAF-Aktionsfront einzureihen !

Bist ganz schön erschrocken, nicht wahr?

Ich bin aber auch erschrocken über Deine Bemerkung, ich würde kokettieren, dabei hatte ich doch erwartet, Du würdest Flagge zeigen und Dich neben mich und das "Volk" stellen!

Aber das hast Du ja dann indirekt auch getan, indem Du Dich mit dem Unverständnis der anderen "Volkszugehörigen" im Nebenforum eingelassen und auseinandergesetzt hast!

Für heute nur noch der kleine Hinweis auf den Pariser Mai 1968!
- erinnerst Du Dich daran?

Es waren Anarchisten, welche die Volksmassen bewegen konnten, ein verkrustetes, repressives französisches Nachkriegs-Regime ins Wanken zu bringen und die Präsident de Gaulle in die Flucht schlugen!
Verraten wurde die gesamte Bewegung von wem....?
...von den Gleichen, die Bakunins 1872 aus der I.Internationale (die er selbst mit gegründetet hatte) ausgeschlossen haben!!!!

...und Bakunin ist bereits 1876 in der Schweiz verstorben!
Bis morgen
Baba Yaga

Re: Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Lieber Udo!

Wie angekündigt, nur mit etwas Verspätung, möchte ich nun ausführlicher auf Deinen Beitrag antworten.
In einem ersten Anlauf möchte ich auf Deine 2. Fragestellung eingehen und aus meiner Sicht und meinem Anarchieverständnis antworten.

Grundsätzlich entnehme ich nicht nur Deinem letzten Beitrag, daß Du, wie die Mehrheit der Bevölkerung (enschuldige bitte, daß ich Dich in einem Atemzuge mit dem Volke nenne) eine libertäre Gesellschaftsform, welche auf Herrschaftslosigkeit, auf Repressions- und Gewaltfreiheit, sowie der Freiwilligkeit und der gegenseitigen Unterstützung und Hilfe aufbaut, als utopisch empfindest, ja sogar ablehnst,
- und was ich persönlich etwas schmerzhaft empfinde -,
daß Du im Gegenzug Anarchisten genau das unterstellst, was auch un- und falschinformierte "Volksmassen" vom Anarchismus halten,
- nämlich Chaos, Gewalt, Mord und Todschlag!

Um diese Vorstellung vom Anarchismus zu bekräftigen und zu verallgemeinern, zitierst Du Paul Brousse, welcher 1876 (nicht 1877) mit seiner Formel "Propaganda durch die Tat", oder auch mit dem Satz "der Weg der Revolution führt durch eine königliche Brust" in Literatur und Geschichte eingegangen ist.
Dabei verzichtest Du völlig darauf, die gesellschaftlich-sozialen und machtpolitischen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts, insbesondere die des letzten Viertels des Jahrhunderts zu erwähnen, geschweige denn die Vielschichtigkeit und die damit einhergehenden ideologischen Auseinandersetzung, Anfeindungen und Rivalitäten zwischen Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten !
Du gehst auch nicht darauf ein,
...daß Anarchismus (bis heute) jene politische Philosophie ist, die am heftigsten von allen Seiten (Monarchisten, Bürgerlichen, Republikanern, Sozialisten und Kommunisten) bekämpft,
...daß die verschiedenen erfolgreichen und/oder erfolgversprechenden Versuche und Ansätze eine Ordnung ohne "Herren" aufzubauen, erstickt und niedergeschlagen wurden,
...daß in der Folge die unterschiedlichsten Mißliebigen und Übeltäter von den Herrschenden den "Anarchisten" zugerechnet wurden/werden.

In meinem vorhergehenden Kurzbeitrag habe ich Dir schon den Hinweis auf Bakunins Todesdatum 1876 gegeben.
Er war also an den von Dir (und Avram Yarmolinsky im Buch "Zaren und Terroristen") aufgezählten Attentaten und Attentatsversuchen weder mit Agitation noch mit Tat beteiligt, ebenso wenig wie Stirner (gestorben 1856),
...der landläufig auch unter die Anarchisten subsummiert wird,
...der jedoch seine Denkansätze und Forderungen aus dem Solipsismus und Individualismus herleitete.

Du hast ihn zwar (noch)nicht mit seinem "populärsten" und "erfolgreichsten" Horror-Zitat aufgeführt,
- "Ich bin durch mich berechtigt zu morden, wenn ich Mir´s selbst nicht verbiete, wenn ich Mich selbst nicht vorm Morde als vor einem Unrecht fürchte" (Der Einzig und sein Eigentum 1845) -,
aber da er regelmäßig eine eindrucksvollen Beschreibung und ein abschreckendes Beispiel zur Warnung vor dem Anarchismus abgibt, habe ich ihn hier gleich mit eingeführt.

Klar sollte jedenfals sein,
...daß Gedanken frei sind, auch wenn das Denkresultat weder Gefallen noch Zustimmung findet,
...daß Zitate im Kontext des jeweiligen Themas, der Situations- und Zeitumstände eingebettet sein sollten,
...daß es innerhalb politischer Systeme, Parteien und Weltanschauungen die verschiedensten Strömungen und Ausprägungen gibt,
...daß politische Straftaten und Verbrechen aus den unterschiedlichsten Motivationen, Obsessionen und Gründen begangen wurden und werden und
...daß es kein ausschließliches Merkmal des Anarchismus ist, wenn Morde, Terroranschläge und Attentate vom Menschen begangen werden, so wie Du das postulierst und unterstellst!

Zitat Udo:
"Wenn der Anarchismus vielfach mit Gewaltfreiheit assoziiert wird, so gibt es dafür gute Gründe, denn die Verfechter des Anarchismus um Bakunin, Netschajew, Tkatschew, Kropotkin hatten sich alle dazu durchgerungen, die schöne Utopie von der herrschaftsfreien Daseinsweise mit häßlicher Gewalt vorantreiben zu müssen".

Das sehe ich etwas anders als Du!
Auf die historischen und situativen Zustände der monarchistischen Terror-, Ausbeutungs- und Unterdrückungs-Regime habe ich bereits in meinem vorhergehenden Beitrag hingewiesen, um die Entstehung und Entwicklung anarchistischer Gedankenwelt und die Umsetzungs- und Befreiungsbestrebungen vor diesem Kontext begreiflich zu machen.
"Gewaltfreiheit" wurde von Anarchisten ebenso wenig als ubiquitäre Verhaltensmaxime gegenüber Feinden, Unterdrückern und Verfolgern verstanden, wie von Religionen (z.B. die christliche), welche ausserhalb und sogar innerhalb ihrer Gläubiger-Gemeinschaft morden, foltern und brandschatzen!!!!
Es kommt eben immer auf den Betrachtungsstandort an, wie Thesen und Tatsachen verstanden, aufgenommen und weiterverarbeitet werden.
Z.B. hast Du meiner einer Darstellung des BRD-Unrecht-Systems nicht widersprochen, aber im Gegensatz zu mir, fällt Deine Beurteilung dazu positiv aus!

Gewaltfreiheit bedeutet(e) für Anarchisten (und Autonome) nicht Pazifismus gegenüber Peinigern,
- also nix mit verlogenen Sprüchen von linker und rechter Backe -,
sondern eine herrschaftslose Ordnung innerhalb welcher, auf freiwilliger und gewaltfreier Basis, die Menschen sich zu Gesellschaften organisieren und zu gegenseitiger Hilfe, Unterstützung und damit Entwicklung auf den verschiedenen Feldern menschlicher Fähigkeiten bereit sind!

Daß dies erreichbare Ziele und nicht nur verwegene und Utopien sind, haben vielfältige Realisierungsversuche gezeigt, wurden aber mit Gewalt niedergeschlagen und erstickt.
Um einige wenige Beispiele für anarchistische Versuche zu nennen:
Pariser Commune 1871
Mexikanische Revolution 1912
Münchner Räterepublik 1919
Machnow-Bewegung während russ.Oktober Revolution 1917 in Ukraine
Kronstadt Aufstand 1921
Aufstand in Argentinien (Patagonien) 1921
Aufstand Pariser Mai 1968 (damals war Cohn Bendit Anarchist)
Nelkenrevolution 1971 Portugal
Hausbesetzer-Kommunen am 1981
Autonomenwiderstand gegen AKW´s, Militarismus und WAA
Selbstverwaltungsinitiativen 2003 in Argentinien nach dem Wirtschaftszusammenbruch

Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft!

Ich bin jetzt müde!

Fortsetzung folgt, insbesondere zu Deiner Frage
"1. Sind die Menschen zu Anarchismus fähig?"

Gute Nacht

Baba Yaga

Re: Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Liebe Mitdiskutanten,
liebe Luise,

vielen Dank für Deine ausführliche Nachdenklichkeit.

Du schreibst:

---Zitat-------
Grundsätzlich entnehme ich nicht nur Deinem letzten Beitrag, daß Du, wie die Mehrheit der Bevölkerung (enschuldige bitte, daß ich Dich in einem Atemzuge mit dem Volke nenne) eine libertäre Gesellschaftsform, welche auf Herrschaftslosigkeit, auf Repressions- und Gewaltfreiheit, sowie der Freiwilligkeit und der gegenseitigen Unterstützung und Hilfe aufbaut, als utopisch empfindest, ja sogar ablehnst,---tatiZ----

Na, na, da fuhr mir aber ganz schön der Schreck in alle Glieder, als Du mich so schutzlos in einem Atemzug mit dem „Volk“ genannt hast. Ich bin tatsächlich in der Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, will sagen, daß ich zunächst und zuerst Individuen sehe und auf ihre Bedürfnisse, Stärken und Schwächen blicke, und nur mit großer Vorsicht abstrakte Generalisierungen dieser Individuen ins Auge fasse: Ist der „Wald“ mehr als ein gedankliches Ensemble von Bäumen und Sträuchern, Pflanzen und Tieren? Ist das „Volk“ mehr als gedankliches Konstrukt? Kann dieses Konstrukt, oder gar die nächst höhere Generalisierungsstufe, die „Menschheit“, Ansprüche gegenüber den Individuen erheben, gar Leben und Glück seiner konkreten Individuen fressen dürfen, als Brennstoff gewissermaßen in dem großen Transmissionsprozeß (Revolution) von dem schlechten Hier und Jetzt zu einem erstrebenswerten Morgen und Überall – auf den Flügeln eines Nirgendwo?

Und da stehe ich dann mit meinem popelingen Lackmustest, mit dem ich jede politische Philosophie und Praxis messe: Wie gehst Du mit den konkreten Individuen um? Wirst Du die konkreten Individuen revolutionär in Gewalt und Unglück stürzen, für was auch immer, oder wirst Du ihre Herzen weit und ihren Geist hell machen für eine organisch-evolutionäre Überwindung von Mißständen?

Ich wende mich daher gar nicht gegen den Anarchismus, sondern gegen jede gewaltsame Revolution mit ihren blutigen Folgen für die konkreten Individuen hier und jetzt. Solange der Anarchismus aber in einer konkreten historischen Situation auf gewaltsame Revolution angewiesen ist, um sich zu realisieren, besteht er meinen höchstpersönlichen Lackmustest nicht. Und dieser Lackmustest sieht keinen Blutrabatt dafür vor, daß dem Revolutionär die Gewalt womöglich nur von der Gegenseite aufgezwungen wird und er selbst reinsten Herzens sein MG tuckern läßt. Aus meiner Sicht lehrt die Geschichte, daß auch noch die edelsten Motive korrumpiert, diskreditiert und in ihr Gegenteil verkehrt werden, sobald sie mit Gewalt durchgesetzt werden. Gewalt endet immer in einer Spirale zu mehr Gewalt, in einem Klima also, in dem speziell die menschenfreundlichen Ziele des Anarchismus immer ferner rücken.

Wo aus solch prinzipiellen Erwägungen der Weg in die gewaltsame Revolution versperrt ist, muß man sich duchaus nicht mit der schlechten Realität abfinden. Gefragt ist aber eine politische Philosophie und Praxis, die die Herzen weit und den Geist hell machen für eine organisch-evolutionäre Überwindung von Mißständen. Dazu bietet allein die Demokratie mit ihrer Meinungsfreiheit ein günstiges Terrain, in dem im Wettstreit der Ideen und Ideale Herz und Geist aufwärts wachsen können, ohne daß Blut fließen muß.

Was ich hier sage, sind keine Naturgesetze oder übernatürliche Postulate, sondern entstammen als persönliche Glaubensüberzeugungen einer sorgfältigen Analyse der Geschichte, vor allem der letzten drei Jahrtausende. Man kann auch zu anderen Überzeugungen kommen. Darüber muß man dann immer wieder ernsthaft reden.

Mit freundlichen Grüßen
Udo Teichmann

Re: Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Liebe Baba,
lieber Udo Teichmann,

Euer heutiger „Notenwechsel“ hat mich gleich mehrfach inspiriert, mich wenigstens kurzzeitig von den Alltagszwängen loszureißen und insbesondere auf Udos Interpretationen in Bezug auf Anarchie und Demokratie sowie Volk/Menschheit und Individuum und seine zwei „Knackpunkte“ einzugehen als da sind:

1. Sind die Menschen zu Anarchismus fähig? (Teichmann)

Erstens, warum sollten sie das nicht sein? Es spricht aus meiner Sicht genauso viel dafür wie dagegen. Und zweitens muß zuvor doch wohl der Begriff „Anarchismus“ erst einmal zweifelsfrei geklärt und allgemein verbindlich definiert werden. Denn schon Baba und Udo haben grundlegende unterschiedliche Betrachtungsweisen in diesem Zusammenhang, nämlich Baba steht für Pro und Udo offensichtlich für Contra. Welche teils primitiven Vorurteile Udos negative Darstellung der Anarchie kürzlich im sinnlosen Nebenforum sogleich bedient hat, zeigt nicht nur die oft tumbe Borniertheit der dortigen Klientel auf sondern sind geradezu ein wenn auch unfreiwilliger Beweis für Bakunins so augenzwinkernd-bissigen Worte: „Weil im deutschen Blut, im deutschen Instinkt, in der deutschen Tradition eine Leidenschaft für staatliche Ordnung und staatliche Disziplin liegt [ ... ] während jeder Deutsche den Knüppel küßt, freiwillig und aus Überzeugung. Seine Freiheit besteht gerade darin, daß er gedrillt ist und sich gern vor jeglicher Obrigkeit verbeugt.“

Und, lieber Udo, ist Bakunins Warnung an seine geliebten Slawen: „[ ... ] weil ein Staat – und möge er sich zehnmal Volksstaat nennen und mit den demokratischsten Formen zieren – für das Proletariat notwendigerweise zum Gefängnis wird. [ ... ]womit wir nicht die Arbeiter in der Partei, sondern die Organisation der Partei und hauptsächlich ihre immer und überall bourgeoise Führung meinen [ ... ] Keineswegs darf die deutsche sozialdemokratische Partei (damals unter Marx, Engels und Bebel, nicht zu verwechseln mit der heutigen SPD, die erst 1869 von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründet wurde, Anm. bjk) mit der Internationale verwechselt werden.“ nicht auch heute noch, diesmal für uns Bundesbürger, hochaktuell, wenn man statt Bebel, dem honorigen Urvater der SPD, unseren Wortbruch-Kanzler Schröder einsetzt? Doch darüber an anderer Stelle mehr.

2. Führt Anarchismus (in der realen Welt) zwangsläufig zu „Propaganda durch die Tat“, zur amoralischen Gewaltfreiheit des Revolutionärs, zu Terror und Kriminalität, und damit zu flächendeckender Diskreditierung der ursprünglichen anarchistischen Utopie? (Teichmann)

Hmm, warum sollte Anarchismus „zwangsläufig“ in die bürgererschreckende Amoralität führen und warum soll die ursprüngliche anarchistische Idee, der auch Sie ja durchaus Positives abgewinnen, nur hehre Utopie sein, während die von Ihnen, lieber Udo, sagen wir mal, so eigenwillig unbeirrt hochgepriesene Demokratie immer der Seligkeit nahekommt, folgte man Ihrer Demokratie-Eloge?

Wie ich in meiner Antwort vom 5.3. 15:50 Uhr schon erwähnte, respektiere ich Ihren unbedingten Glauben an das Gute in der Demokratie durchaus, wenn sich mir auch die Logik im Zusammenhang mit Ihrer Definition der „Volksmassen“ als „Gewohnheitstiere, dumm, egoistisch, verantwortungsfaul, risikoscheu, korrumpierbar“ nicht so recht erschließen will. Wie dem auch sei, den empirischen Beweis für Ihren hingebungsvollen Glauben an die Demokratie schulden Sie noch immer. Er wird auch schwer bis überhaupt nicht zu erbringen sein, denn „amoralische Gewaltfreiheit ... Terror und Kriminalität“, welche Sie dem „Anarchismus der realen Welt“ fast gebetsmühlenhaft zuordnen, sind bis dato in allen demokratischen Staatsformen leider an der schlimmen Tagesordnung - - - und zwar ohne daß die von Ihnen idealisierten Ordnungsmechanismen dies verhinderten!

Wie sonst kam es gerade durch demokratischen Staaten bis in die Neuzeit zu Kolonialisierungen in der Dritten Welt mit all ihren Kriegsgreueln und sonstigen humanen Grausamkeiten? Wieviele schreckliche völkerrechtswidrige Angriffskriege haben gerade vermeintlich vorbildliche Demokratien unter hohem Blutzoll bis dato geführt im Nahen und Mittleren Osten (Israel, Irak), im Balkan (Jugoslawien), in Nordafrika (Marokko), in Afrika überhaupt wie auch in Südamerika, in Asien (Korea und Vietnam) - - - die Liste läßt sich endlos fortführen. Politische Morde und Folter, Guantánàmo und anderer brutaler Staatsterror im Namen der Demokratie! Erst schleichende und jetzt galoppierende Verwässerung bis Abschaffung einst hart erkämpfter Bürger- und Menschenrechte – Big Brother is watching you - wegen tatsächlicher und/oder angeblicher Terrorgefahr mit den abenteuerlichsten Begründungen seitens interessierter Kreise durch den sogenannten islamischen Fundamentalismus, wo man nicht genau weiß, ob nicht der vor allem in den USA aber nicht nur dort ausgebrochene christliche Fundamentalismus mindestens genauso gefährlich ist!

Eine sich im Aufwind befindliche neoliberale Grundströmung in mittlerweile allen demokratischen Landesregierungen baut soziale Errungenschaften und Werte radikal wie brutal ab, weil angeblich die Staatskassen leer wären und die Globalisierungszwänge dies so verlangten - - - und im gleichen Atemzug wachsen die Rüstungs- und Militärkosten auch in allen Demokratien ins Unermeßliche!

Und immer ist die deutsche SPD willige Mitläuferin und schlimme Mittäterin, so im ersten Weltkrieg, so in Jugoslawien, so in Afghanistan, so noch recht verschämt im Irak und bald (wieder!) überall und großmächtig auf der Welt!

Wollen Sie, lieber Udo, auch hier im Ernst behaupten, dies sei „von den Wählern her legitimiert“ und sie hätten ja die realistische Möglichkeit, den/die Übeltäter abzuwählen? Können Sie angesichts der eben nur auszugsweise angeführten Scheußlichkeiten wirklich ruhigen Gewissens behaupten: „Einer der Gründe, warum ich eher auf demokratische Entwicklungen setze als auf Anarchsimus und den Blutzoll frustrierter anarchistsicher Fanatiker, die historisch nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel bildeten.“ - - - Also den von Ihnen dem so „schrecklichen“ Anarchismus zugeschrieben Blutzoll entdecke ich eigentlich vor allem und das in wahrhaft erschreckender Größenordnung bei sich demokratisch nennenden Staaten – insbesondere aber beileibe nicht nur bei den Vereinigten Staaten von Amerika! In diesem Zusammenhang wiederhole ich hier gerne einige von Babas Verteidigungsappellen gegen die vielen Verunglimpfungen des Anarchismus:

„Es waren Anarchisten, welche die Volksmassen bewegen konnten, ein verkrustetes, repressives französisches Nachkriegs-Regime ins Wanken zu bringen und die Präsident de Gaulle in die Flucht schlugen!
Verraten wurde die gesamte Bewegung von wem....?
...von den Gleichen, die Bakunins 1872 aus der I.Internationale (die er selbst mit gegründetet hatte) ausgeschlossen haben!!!!“

„... daß Du im Gegenzug Anarchisten genau das unterstellst, was auch un- und falschinformierte "Volksmassen" vom Anarchismus halten,
- nämlich Chaos, Gewalt, Mord und Totschlag!“

„Gewaltfreiheit" wurde von Anarchisten ebenso wenig als ubiquitäre Verhaltensmaxime gegenüber Feinden, Unterdrückern und Verfolgern verstanden, wie von Religionen (z.B. die christliche), welche ausserhalb und sogar innerhalb ihrer Gläubiger-Gemeinschaft morden, foltern und brandschatzen!!!!!“

„Gewaltfreiheit bedeutet(e) für Anarchisten (und Autonome) nicht Pazifismus gegenüber Peinigern,
- also nix mit verlogenen Sprüchen von linker und rechter Backe -,
sondern eine herrschaftslose Ordnung innerhalb welcher, auf freiwilliger und gewaltfreier Basis, die Menschen sich zu Gesellschaften organisieren und zu gegenseitiger Hilfe, Unterstützung und damit Entwicklung auf den verschiedenen Feldern menschlicher Fähigkeiten bereit sind!“

Lieber Udo, ich habe zuletzt nur Baba sprechen lassen, weil sie unstrittig ausgewiesene Kennerin des Anarchismus ist und es von mir als "Anarchie-Laien" eher anmaßend wäre, Ihrem, Udo, sicher ebenbürtigen wenn auch diametral ausgerichtetem Expertenwissen nur aus politikwissenschaftlichen Abhandlungen herausgelesene aber noch nicht verinnerlichte Zitate gegenüber zu stellen. Dieses anspruchslos-fleißige copy & paste überlasse ich doch lieber unserer urania, die wohl so der Symbolkraft ihres Namens Ausdruck verleihen möchte, was ihr vor allem bei der dortigen anspruchslosen Klientel sicher die erhofften Punkte bringt.

Schmunzeln muß ich über die an sich recht lustige und eingängige Schilderung Ihres „Lackmustest‘s“! Nur wird leider auch hier überdeutlich, daß Sie, lieber Udo, alle Schlechtigkeiten nahezu ausschließlich beim aus Ihrer Sicht „realen?“ Anarchismus entdecken wollen und über die von Ihnen leider nicht mal ansatzweise erwähnten demokratischen Horror-Schweinereien den Heils-Mantel des gläubig-verstehenden christlich-wohlgefälligen Schweigens decken.

Hmm, nix für ungut, aber die seit über 200 Jahren bis dato geschehenden tagtäglichen Schweinereien im Namen der Demokratie sind für mich absolut nicht hinnehmbar, wie andererseits für mich genauso wenig hinnehmbar wäre, würden sie im Namen der Anarchie tatsächlich passieren! Aber Fakt ist, die einen verbrecherischen Schweinereien fanden und finden tatsächlich statt während die anderen überwiegend nur von interessierten Kreisen böswillig an die Wand gemalt wurden und werden!

Schließen möchte ich mit Ihren Worten: „Was ich hier sage, sind keine Naturgesetze oder übernatürliche Postulate, sondern entstammen als persönliche Überzeugungen meiner eher autodidaktischen Kenntnis der Geschichte, vor allem der letzten drei Jahrtausende. Man kann auch zu anderen Überzeugungen kommen. Darüber muß man dann immer wieder ernsthaft reden.“ Da ich mit dem Begriff „Glauben“ nicht so viel anfangen kann bzw. hier unpassend finde, habe ich im Zitat entgegen dem Original dieses Wort gelöscht und nur „Überzeugungen“ stehen gelassen. Ebenso habe ich die „sorgfältige Analyse“ der Geschichte in „meiner eher autodidaktischen Kenntnis“ der Geschichte vorsorglich abgeändert, damit mir niemand angeberische Unredlichkeit vorwerfen kann. Schließlich kennt man ja seine Pappenheimer aus dem oh(weh)-Forum.

Mit freundlichen Grüßen
bjk

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Macht Stimmzettel zu Denkzetteln!
Bei Unschlüssigkeit nicht das "kleinere Übel" oder gar nicht wählen
sondern ungültig wählen!

Re: Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Hallo, Ihr Beiden!

Ich möchte mit diesem Beitrag dort weiter fahren, wo die Diskussion jetzt stehen geblieben ist, nachdem Bjk sich im Wesetnlichen, - und wie ich meine auch sehr anschaulich und kompetent - mit Udo´s Frage Nr. 1) und real installierten Demokratien auseinandersetzte.

Zitat Udo:
Und dieser Lackmustest sieht keinen Blutrabatt dafür vor, daß dem Revolutionär die Gewalt womöglich nur von der Gegenseite aufgezwungen wird und er selbst reinsten Herzens sein MG tuckern läßt

Die "Gegenseite",
...wer ist das für Dich?
...sind das "die im Licht und die andern sieht man nicht"?
hat nicht "womöglich nur" dem anarchistischen Revolutionär die Gewalt aufgezwungen, sondern ihn dazu herausgefordert, genötigt, erpresst,
...Ursache-Wirkung beachten!
Aber darauf ist Bjk schon eingegangen und ich habe mit dem Bibel-Zitat "von den beiden Backen " dagegen Stellung bezogen.

Zum "Gewehr Tuckern" ist mir Antonio Negri in den Sinn gekommen.
Bjk, möge es mir verzeihen, wenn ich es nun wie urania halte, und den letzten Artikel aus "Empire" beider Anarchisten und Kommunisten, Negri und Hardt , hier in voller Länge abschreibe.

Dieser Artikel artikuliert viel besser als ich es jemals auch nur annähernd ausdrücken könnte, wie Anarchisten und letztlich auch Kommunisten die Philosophie der Herrschaftsfreiheit unter Berücksichtigung der bestehenden, aktuellen politischen Kräfteverhältnisse weiterentwickelt haben und welchen Stellenwert heute "Gewalt" und "Militanz" einnehmen können/sollten!

MILITANT

Im zeitalter der Postmoderne, in dem sich die Gestalt des Volkes auflöst, ist der Militante wohl derjenige, der das Leben der Menge am besten zum Ausdruck bringt: der akteur biopolitischer Produktion und des Widerstands gegen das Empire.
Wenn wir vom Militanten sprechen, denken wir keineswegs an etwas wie den traurigen, asketischen Vertreter der Dritten Internationale, der tief durchdrungen war von sowjetischer Staatsräson, ähnlich wie bei den Rittern der Sozietas Jesu, die den Willen des Papstes in ihrem Inneren trugen.
Wir haben nichts dergleichen vor Augen und niemanden, der auf der Grundlage von Pflicht und Disziplin handelt, der behauptet, seine Handlungen leiteten sich aus einem idealen Plan her.
Im Gegenteil, wir beziehen uns hier eher auf die Kommunisten und die Befreiungskämpfer in den Revolutionen des 20.Jahrhunderts, auf die Intellektuellen, die im Zuge des Kampfes gegen den Fschismus verfolgt und außer Landes gejagt worden sind, auf die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg und auf die europäischen Widerstandsbewegungen, auf die Freiheitskämpfer in allen antikolonialistischen und antiimperialistischen Kriegen.
Ein Prototyp dieser revolutionären Gestalt ist der militante Agitator der "Industrial workers of the World" (IWW). Der Wobbly
[Um Mißverständnisse auszuschalten hier Einschub Baba: so wurde der IWW, also der Chicagoer Gewerkschaftsbund von 1905 genannt, - es handelt sich also nicht um irgend ein Comic oder einen Kaugummi]
richtete Vereinigungen von arbeitenden Menschen "von unten" her ein, durch beharrliche Agitation und indem er diese Vereinigungen organisierte, bahnte er utopischem Denken und revolutionärer Erkenntnis den Weg [Einschub Baba an Udo: widerspricht natürlich der christlichen Sittenmoral, oder?].
Der Militante war der wichtigste Akteur auf dem "langen Marsch" der Arbeiteremanzipation vom 19. ins 20. Jahrhundert, er war die kreative Singularität dieser gigantischen, kollektiven Bewegung, die der kampf der Arbeiterklasse darstellte.

In diesem langen Zeitraum bestand die Tätigkeit des Militanten in erster Linie darin, in der Fabrik und in der Gesellschaft praktischen Widerstand gegen die kapitalistische Ausbeutung zu leisten. Sie bestand zudem, und über den Widerstand hinaus, in der kollektiven Errichtung und Ausübung einer Gegenmacht, die in der lage sein sollte, die Macht des Kapitalismus zu destrukturieren und ihr ein alternatives REgierungsprogramm entgegensetzen.
Der Miltante organisierte den Kampf in Opposition zum Zynismus des Bürgertums, zur monetären Entfremdung, zur Enteignung des Lebens, zur Ausbeutung von Arbeit, zur Kolonisierung der Affekte usw.
Dieser Militante wurde in der tragischen Geschichte kommunistischer Kämpfer wiederholt zum Märtyrer.
Manchmal, aber nicht zu oft, reichten für die repressiven Aufgaben aus, die nötig waren, um die Gegenmacht zu zerstören. Wenn sie jedoch nicht genügten, durften die Fschisten und die weißen Garden des Staatsterrors (oder genauer: die schwarze Mafia im Dienste des "demokratischen Kapitalismus") gerne dabei helfen, die legalen Unterdrückungsstrukturen mit Nachdruck zu versehen. [Einschub Baba: Nach vier Jahren in Sondergefängnissen wurde er 1983 als gewählter Parlamentsabgeordneter aus der Haft entlassen. Einer drohenden neuerlichen Festnahme entzog er sich durch die Flucht nach Frankreich. Im Gefängnis und im Exil in Paris arbeitete er in zahlreichen Schriften seine Kritik der herrschenden Politik weiter aus. 1997 Rückkehr nach Italien und erneute Verhaftung. Negri lebt heute, auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen, in Rom.]

Heute, nach so vielen Siegen des Kapitalismus, nach so vielen desillusionierten sozialistischen Hoffnungen und nachdem die kapitalistische Gewalt gegen Arbeiter unter dem Namen des Ultra-Liberalismus gefestigt zu sein scheint
- warum kommt es dennoch immer wieder zu Beispielen für Militanz, warum haben sich die widerstände vertieft und warum taucht der Kampf immer wieder mit neuer Kraft auf?
Wir sollten gleich vorweg darauf hinweisen, dass diese neue Militanz nicht einfach die organisationsformeln der alten revolutionären Arbeiterklasse wiederholt. Heute kann der Militante nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, repräsentativ zu handeln, nicht einmal für die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse der Ausgebeuteten.
Revolutionäre politische Militanz muss heute im Gegenteil das wiederentdecken, was schon seit jeher die ihr eigene Form war:
nicht repräsentative, sondern konstitutierende Tätigkeit
Militanz ist heute eine positive, konstruktive und innovtive Tätigkeit. In dieser Form erkennen wir und alle, die gegen die Herrschaft des Kapitals aufbegehren, sich als Militante.
Miltante leisten kreativen Widerstand gegen die imperiale Befehlsgewalt [Einschub Baba: Das war immer auch das Ziel des WAA-Widerstandes, des Widerstandes gegen die Atom-Mafia, gegen Nachrüstung und gegen die bundesdeutsche Aufrüstung und Machtpolitik]. Anders ausgedrückt: Widerstand ist unmittelbar mit einer konstitutiven Investition im biopolitischen Bereich und zur Formierung eines kooperativen Apparates in Produktion und Gemeinschaft verbunden.
Darin liegt die bedeutsamste Neuerung heutiger Militanz:
Sie greift die tugenden aufrührerischen Handelns aus zwei Jahrhunderten subversiver Erfahrung auf, ist aber gleichzeitig an eine neue Welt geknüpft, eine Welt, die kein Außen mehr kennt. Sie kennt nur noch ein Innen, eine lebendige und unvermeidliche Beteiligung an den gesellschaftlichen Strukturen, die sich nicht mehr transzendentieren lassen.
Dieses Innen ist eine produktive Kooperation der Massenintelligenz und affektiver Netzwerke, die Produktivität postmoderner Biopolitik.
Diese Militanz verwandelt Widerstand in Gegenmacht und Rebellion in ein Projekt der Liebe.......
[Einschub Baba: Der Artikel endet mit einem Beispiel zum vorher Ausgeführten und mit Bezug auf den christlichen Heiligen Franz von Assisi, - bei Interesse werde ich den Schluß gerne einstellen, auch wenn keine weiteren prinzipiellen Aussagen darin gemacht werden ]

In diesem Sinne:
Gestern war bei uns der Kaminkehrer, auch Schlotfeger genannt.
Ich hatte "small talk" mit ihm und erkundigte mich nach den neuesten Auswirkungen des Wegfalls des Meisterprinzip und über die noch bestehenden "Zunft-Relikte".
Er war da nicht sonderlich mitteilsam, - ist er eigentlich sonst auch nicht -, aber im Laufe der Jahre war mir klar, daß er ein konservatives Leitbild pflegt.
Dann, bevor er mir einen schönen Tag wünschte und den üblichen Gang in den Hof zu den Mülltonnen antrat, um den Ruß aus seiner Kanne dort zu deponieren, drehte er sich nochmals um sah mich fest an und stellte zwei spontane Fragen:
a) "Was kann man überhaupt noch dagegen tun, daß wir so abkassiert und ausgenommen werden?"
b) "Wo kann man gegen dieses Unrecht demonstrieren?"

Ich schluckte und er meinte "Sie kennen sich doch da besser aus"!
Da erzählte ich ihm, daß am 3.4.04 in Berlin, Köln und Stuttgart Großdemos gegen gegen Sozial-, Bildungs- und Lohnabbau stattfinden würden und daß dies eine wichtige Gelegenheit sei den Herrschaften in Mores zu lehren.

Er nickte und ich hoffe, er meldet sich nochmals zurück, wenn er das "verdaut" hat, um Termine und evtl. Mitfahrgelegenheit zu erkundigen!

Gruß
Baba Yaga

Re: Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Liebe Baba,

es sei Dir verzeihen, die "Militanz" heirher kopiert zu haben , bitte stell aber ruhig den Schluß auch noch ein! Franz von Assissi ist immer wert, zitiert oder sonstwie auf ihn Bezug genommen zu werden.

Ist der Schlotfeger "nur" Geselle oder der Meister persönlich?

Im übrigen war der Militanz-Artikel im Zusammenhang mit unserem Anarchie-Disput sehr sehr interessant und hat auch mich über bestimmte Zusammenhänge klarer werden lassen! Doch darüber später mehr

und bis dahin
herzliche solidarische Grüße
bjk

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Re: Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Ok, Bjk!

Ich stelle den letzten Teil des Schlußbeitrages "Militant"aus "Empire", Franz v. Assisi betreffend hier noch ein.

Fortsetzung:

Es gibt eine Legende, welche die Zukunft kommunistischer Militanzvielleicht verdeutlichen kann: nämlich diejenige des Hl.Franz v. Assisi.
Man denke an sein Wirken. Um gegen die Armut der Menge zu protestieren, übernahm er deren Lebensumstände und lebte wie die Menge in Armut; und darin entdeckte er die ontologische Macht einer neuen Gesellschaft. Das Gleiche tut der kommunistische Militante, er findet in der gemeinsamen Lebenssituation der Menge deren ungeheueren Reichtum.
In Opposition zum aufkommenden Kapitalismus verweigerte sich Franz von Assisi jeglicher instrumentellen Disziplin, und der Abtötung des Fleisches (in Armut und in der konstituierten Ordnung) setzte er ein glückliches Leben entgegen, das alles Sein und die gesamte Natur, die Tiere, Schwester Mond, Bruder Sonne, die Vögel auf dem Felde, die armen und ausgebeuteten Menschen zusammenschloß gegen den Willen der macht und die Korruption.
In der Postmoderne finden wir uns wieder in der gleichen Situation wie Franz von Assisi, und wir setzen dem Elend der Macht die Freude am Sein entgegen.
Diese Revolution wird keine Macht kontrollieren können - weil Biomacht und Kommunismus, Kooperation und Revolution der Liebe, Einfachheit und auch in Unschuld vereint bleiben.
Darin zeigt sich die Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu sein.


So viel heute zum Ausblick a la Neri/Hardt!

Gute Nacht
Baba Yaga

PS.:
Antwort auf Bjk´s Frage im vorhergehenden Beitrag:
Nein, der Schlotfeger gestern war nicht der Meister,
- der kommt schon Jahre nicht mehr selbst, um sein Geschäft selbst zu erledigen -
sondern sein langjähriger Geselle, im Schlepptau hatte er einen Lehrling (was mich zu den oben zitierten "small-talk"-Fragen inspirierte )

Re: Wer zweifelt heute noch an diesen Worten Michael Bakunins ?

Liebe Mitdiskutanten,
hallo bjk,

vielen Dank für die sportlichen Einwände:

---Zitat---
1. Sind die Menschen zu Anarchismus fähig? (Teichmann)

Erstens, warum sollten sie das nicht sein? Es spricht aus meiner Sicht genauso viel dafür wie dagegen. Und zweitens muß zuvor doch wohl der Begriff „Anarchismus“ erst einmal zweifelsfrei geklärt und allgemein verbindlich definiert werden. Denn schon Baba und Udo haben grundlegende unterschiedliche Betrachtungsweisen in diesem Zusammenhang, nämlich Baba steht für Pro und Udo offensichtlich für Contra.

---tatiZ---

Sind die Menschen fähig, in einer Gesellschaftsform zu leben, in der jeder – ganz im Sinne des Goldenen Zeitalters des Ovid – aus eigenem Antrieb, ohne Gesetz, ohne Richter das Gute tut. Du fragst? „Ja, warum denn nicht?“ – Weil die gesamte Menschheitsgeschichte eine Geschichte des unvollkommenen Menschen ist, der neben seinen vielen Vorzügen eine Reihe ganz schwerer Schwachstellen hat, die ihn jedenfalls in den letzten 50 Tausen Jahren dazu unfähig gemacht haben, ohne Druck und Gewalt auszukommen.

Wo soll denn das fromme Schäfchen herkommen, wenn die Menschen seit Menschengedenken immer und immer wieder gegenseitig zum reißenden Wolf für einander geworden sind? Welche Psychotherapie oder welcher Nürnberger Trichter soll diese rauhen Seelen weichwaschen? Oder dürfen wir auf eine patentierte Genmanipulation hoffen?

---Zitat---
2. Führt Anarchismus (in der realen Welt) zwangsläufig zu „Propaganda durch die Tat“, zur amoralischen Gewaltfreiheit des Revolutionärs, zu Terror und Kriminalität, und damit zu flächendeckender Diskreditierung der ursprünglichen anarchistischen Utopie? (Teichmann)

Hmm, warum sollte Anarchismus „zwangsläufig“ in die bürgererschreckende Amoralität führen und warum soll die ursprüngliche anarchistische Idee, der auch Sie ja durchaus Positives abgewinnen, nur hehre Utopie sein, während die von Ihnen, lieber Udo, sagen wir mal, so eigenwillig unbeirrt hochgepriesene Demokratie immer der Seligkeit nahekommt, folgte man Ihrer Demokratie-Eloge?
---tatiZ---

Die Geschichte lehrt und BabaYaga betont, daß der Anarchismus wie keine andere politische Tendenz aus allen Richtungen angefeindet wurde und daß die herrschenden Strukturen sich den anarchistischen Bemühungen immer massiv entgegengestemmt haben.

Was tut man in solch einer Situation als überzeugter Anarchist? Packt man seine Theoriebücher achselzuckend in die Mottenkiste und denkt sich ein beliebteres politisches Model aus – oder geht man daran, den gewaltsamen Widerständen seinerseits gewaltsame Gegenwehr entgegenzustellen. Und schon stecken wir mitten in der Gewaltspirale. Natürlich gehören zur Gewaltspirale immer mindestens zwei und wo der Anarchismus auf einen brutalen Staatsterrorismus stößt, da dürften die anarchistischen Kämpfer sich auch großer Sympathien erfreuen – allein de Gewalt findet statt und trifft wie immer unterschiedslos konkete Individuen.

Nun bietet BabaYaga als Schlüssel zur Lösung der Gewaltkonsequenz beim Aufeinandertreffen von Herrschaft und Anarchsimus die Neuausrichtung der „Militanz“ an.

Und mit der honorigen Stimmen von Antonio Negri wird uns das zur Postmoderne gehörige Militanzkonzept vorgetragen, in einem Pathos der Undeutlichkeit, die sprachlich die Gewalt aus dem Militanzbegriff entsorgt, freilich ohne daß das tuckernde MG plötzlich Pfannkuchen in die Menge schleudert.

Das was anläßlich der Großdemos gegen Atomwirtschaft, Nachrüstung und Globalisierung an Kreativität und Leidenschaft entfaltet wurde, ist kein Geheimrezept von Signore Negri, sondern Ausdruck einer durch und durch demokratischen Bewegung. Und wenn dabei die Staatsmacht häufig im Übermaß reagierte und sich allerlei Schikanen hat einfallen lassen, so war dies alles gerichtlich überprüfbares Verhalten und von Gewicht und Ausmaß her noch meilenweit von jeder Form von Staatsterrorismus entfernt.
Und sofern sich bei diesen Anlässen auch Anarchisten der demokratischen Mittel zum Protest bedient haben, darf man sie als Demokraten willkommen heißen. Die wenigen Außenseiter, die im Rahmen dieser Aktionen zu Gewalt gegriffen haben, lassen sich bisher keiner etablierten politischen Theorie zuordnen.

So stehen wir wieder staunend vor der Fruchtbarkeit der Demokratie, die Institutionen und Formen dafür vorhält, wie mit Konflikten umgegangen werden soll. Das Schöne an der Demokratie ist, daß eben nicht alle Demokraten Engel sein müssen, daß eben nicht alle Institutionen perfekt funktionieren müssen – und trotzdem überlebt die Demokratie, weil sie klarsichtig und ohne Illusionen mit dem Menschen rechnet, wie er nun einmal ist.

Mit freundlichen Grüßen
Udo Teichmann