Irgendetwas stört. Es weckt mich. Ich öffne die Augen. Es wird wohl etwa fünf Uhr früh sein. Ich kann zwar nicht viel sehen, nur das Rosé der zugezogenen Vorhänge, doch der Morgen graut schon. Etwas stört. Etwas juckt. Wird drängender, störender. Eine Erkenntnis drängt sich mir auf. Mist! Es ist ein Fussel im Auge. Dieses Mal ist es das Linke. Das ist schlimm. Ein Entschluss muss her. Ist er gefallen? Ja, er ist. Die lange Wanderung kann beginnen. Ich wackle mit dem kleinsten meiner Finger. Danach mit Allen. Der Schmerz kommt langsam. Doch der Mittlere will nicht mehr. Seit ungefähr zwei Wochen. Das ist mir gesagt worden. Vom Arzt. Ich rutsche mit dem Kopf ein wenig zur Seite, spüre das Ziehen im Nacken und hebe den Arm. Ein Schuss ins Gehirn. Ein Glühen. Das war zuviel auf einmal. Pause! Meine Schulter strömt warm. Und ich denke an die sonore Stimme der Frau, die mit mir diese Übungen macht. Die mit dem Atmen und dem Herzschlag. Dann strömte mein Arm immer warm, wenn sie davon spricht. Die Frau ist nicht da, mein Arm strömt trotzdem und ich bewege erneut. Die Dämmerung weicht. Durch den schmalen Schlitz zwischen den Gardinen kriecht ein Sonnenstrahl. Bald wird er mein Bett erreichen. Das bedeutet, Sie werden kommen, das Licht anmachen und beginnen. Dann ist keine Zeit mehr für den Fussel. Also muss ich jetzt etwas tun! Meine Brust fühlt sich fremd an. Ich streiche mit dem Zeigefinger über meine Haut. Feine Krümel liegen da. Seit dem letzten Abendbrot liegen sie da. Niemand hat sie entfernt. Ich drücke einen von ihnen so fest ich kann. Das ist nicht viel und soll Pause genug gewesen sein. Der dumpfe Schmerz dröhnt nun sowieso schon im ganzen Körper. Ich schiebe meine Hand am Hals entlang. Es piekst. Das ist der Ellenbogen und neu für mich. Ich ignoriere den Schmerz. Die Finger strecke ich und sie klettern mir übers Kinn. Es brennen heiße Nadeln! Aber da sind keine Nadeln! So, Finger auf die Lippen. Pause. Die Pause ist keine Pause! Den Arm genau so zu halten, trotz Schmerz, ist enorm anstrengend. Die nächste Träne ist eine reine Kraftanstrengungsträne. Keine vor Verzweiflung oder Wut. Ich spüre meine rissigen Lippen, ich taste über die Nachtkruste auf ihnen. Sie wird später weggewaschen, weiß ich, und hinterlässt dann dieses unangenehm wunde Gefühl. Weiß ich doch und will schon weiter. Schnell. Hilfe, ein Knacken! Was ist das? Es sticht in meiner Hand. Es tut weh! So weh! Es ist mein Daumen. Das Gelenk sitzt nicht mehr da, wo es war. Das weiß ich doch, denn das hat mir der Arzt erzählt. Und die Frau mit der sonoren Stimme sagte das auch einmal und fummelte noch daran herum. Meine Hand stinkt. Sie ist schmierig. Von der Faustballung der Nacht. Ich öffne die Lippen, um nicht durch die Nase atmen zu müssen und stelle mir eine duftende Jasminhecke vor. Auch Grillenzirpen und saftiges Gras. Mein Atem geht ganz ruhig. Mein Arm strömt warm. Ich höre in Gedanken die sonore Frauenstimme. Meine Hand kämpft sich an der Nase vorbei und klatscht mir mit einem schmerzhaften Ruck aufs rechte Auge. Aua! Es rumpelt im Flur. Meine Hand ist schwer wie Blei. Ich schwitze nun und sie bewegt sich tatsächlich. Ich hebe und schiebe sie hinüber. Stück für Stück nach links. Es knackt noch einmal, doch mein Körper ist nun taub genug. Der Schmerz erreicht mich nur noch sonor. Es strömt warm. Ich höre ein Klopfen an der Tür. Mein Zeigefinger fällt mir auf die Iris. Dieser Schmerz tut gut. Ich reibe und reibe. Aua! Alles brennt dort in den Augen. In beiden. Der Zeigefinger war wohl doch zu schmierig. Guten Morgen, sagt eine vertraute Stimme und ich lasse meinen Arm fallen. Ganz weit hinabfallen. Den langen Weg zurück, bis er wieder plan aufliegt. Neben mir. Als gehöre er nicht zu mir. Die Tränen laufen, der Schmerz ebbt ab, Ich spüre eine fremde Hand auf meinem Unterarm und den Fussel im linken Auge. Meine Bettdecke wird zurückgeworfen. Etwas stört. Der Arzt nennt es MS.
Re: Grenzgänger
Ostern provoziert
Ausgerechnet zu Ostern wollte Mariechen provozieren. Und weil es Familientradition war, zu Ostern im Gartenhäuschen von Onkel Willi und Tante Erna ein Kaffeekränzchen zu veranstalten, wurde zwangsweise oder vielleicht auch irgendwie zufällig gerade Onkel Willi Opfer einer ziemlich willkürlichen Provokation. Wenn auch nicht in solch einer Weise und so folgenschwer, wie Mariechen sich das vorgestellt hatte.
Erst wurde ganz normal geredet. Man riss Witze und erzählte vom neusten Tratsch im Familienkreise. Tante Erna aß 4 Stück Kuchen, lachte viel und hielt sich dabei ihren großen Busen. Onkel Willi rauchte. Opa war eingeschlafen. Oma war ja schon lange tot und so konnte sie ihn zum Wecken nicht mehr in die Rippen knuffen. Die Cousins tobten im Sonnenschein. Mariechen hingegen saß nur still auf ihrem Stuhl und hatte die Hände im Schoß liegen. Papa redete über sie, als sei sie nicht anwesend. Sie habe wohl ein Böckchen, so hieß es. Mama strich ihr über den Kopf.
Aus heiterem Himmel sprang Mariechen dann plötzlich auf. Alle erschraken. Mariechen begann zu tanzen. Dabei lief gar keine Musik! Sie sang und klatschte auch dabei und Onkel Willi drehte sich peinlich berührt weg. "Nun hör schon auf!", sagte jemand. Doch Mariechen hörte nicht und auch nicht auf. Sie zog ihre Blüschen aus, tanzte gleich darauf aus ihrem Röckchen und schoss auch noch ihre kleinen Lackschühchen hoch in die Lüfte. Sie landeten in Tante Ernas Spüle. "Schscht" machte Mama.
Die Cousins hatten inzwischen bemerkt, dass es etwas Spannenderes als Fußball gab und drückten ihre Rotznasen von außen ans Butzenfenster. Sie grinsten und Mariechen grinste zurück, während sie im Hemdchen auf den kalten Fliesen umher tanzte. Da fiel ihr Blick auf Tante Erna. Sie schien gar nicht irritiert zu sein, denn sie lächelte immerfort und fast stoisch und Mariechen begann sich darüber zu ärgern und tanzte sie an, schnitt Grimassen dabei. "Schscht", machte Papa. Da stellte Tante Erna ihren Kuchenteller beiseite und erhob sich betont langsam von ihrem Klappstuhl. Onkel Willi nestelte am Jackettsaum. Papa und Mama schschten nun nicht mehr. Opa schlief immer noch.
Tante Erna begann jetzt ebenfalls und überraschend rhythmisch zu der nichtvorhandenen Musik zu tanzen. Sie hob ihre großen beringten Hände und klatschte ein paar Mal dazu. Onkel Willi erstarrte. Mariechen und die anderen ebenfalls. Tante Erna öffnete ihre Bluse, entledigte sich ihr, indem sie sie auf die Kaffeetafel warf. Nun begann sie auch noch, laut und klar zu singen. Die Wucht ihrer Stimme ließ Opa aus dem Schlaf hochfahren. Er rieb sich die Augen und stellte sein Hörgerät an. Doch auch verstärkt waren Tante Ernas Worte nicht zu verstehen, denn sie sang in einer gänzlich unbekannten Sprache. Mariechen Unterlippe zitterte und Onkel Willi wurde erst rot und kurz darauf weiß. Mama und Papa schwiegen. Die Cousins klebten an der Scheibe.
Das ganze Gartenhäuschen war erfüllt von Tante Ernas Gesang. Während sie sang, entkleidete sie sich weiter. Unter ihren vielen Altfrauenkleiderschichten kam eine feste, enge und perfekt angepasste Lederkorsage zum Vorschein. An ihr zogen je Bein zwei Strapse an je einem Netzstrumpf. Tante Erna legte ihren grauen Rock auf Onkel Willis Schoß ab. Nun ergriff sie Mariechens Kinderhand und zog sie an sich. Mariechens Erstarrung verging und ihr Ärger ebenfalls. Ihr Staunen aber blieb und sie ließ sich von Tante Erna dicht an sie heranziehen. So tanzten sie beide gemeinsam um die Stühle. Das kleine Mädchen stumm im Hemdchen, die stattliche Tante singend in Netz und Leder.
Das konnte nicht lange gut gehen, soviel war klar. Es war Onkel Willi, der dem Spektakel nicht standhielt. Er sprang auf und brüllte seiner Frau mitten ins Gesicht. Niemand sollte je davon erfahren, sie habe einfach so alles kaputt gemacht, dies sei das Ende, das bittere Ende, so schrie er, verließ schnaufend die Laube und verschwand im Klohäuschen.
Tante Erna lächelte noch immer, hatte aber zu tanzen aufgehört und nahm nun ihre Handtasche. Ehe sie ging, strich sie Mariechen noch einmal zärtlich über die Wange, beugte sich zu ihr hinab und flüsterte ihr ins Ohr: "Du kommst ganz nach mir, mein kleines Mariechen, Du wirst schon sehen." Dann verschwand sie und ward nie mehr gesehen. Tante Erna blieb für immer verschollen.
Ostern wurde nun fortan in der Wohnung gefeiert und Onkel Willi heiratete bald wieder. Und seine neue Gattin war das ganze Gegenteil von Tante Erna, fand Mariechen und mochte sie nicht. Im Laufe der nächsten zehn, zwölf Jahre wuchs dann das zarte Mädchen Mariechen zu einer recht voluminösen Frau heran. Die Familie ignorierte beflissen jene auffallende Ähnlichkeit mit der verschollenen Tante. Nur Onkel Willi starrten bei den Familientreffen immer öfter und recht zweideutig zu ihr hinüber. Doch Mariechen war noch zu jung für solcherart Blicke.
Mariechen verkrachte sich ausgerechnet zu Ostern mit ihrer ganzen Familie. Dabei wollte sie diesmal überhaupt nicht provozieren! Onkel Willi war an allem Schuld. Der folgte ihr in einem unbeobachteten Augenblick in ihr Mädchenzimmer und zog sich vor ihren Augen blitzschnell aus. Unter seinen vielen Altherrenkleiderschichten kam eine feste, enge und perfekt angepasste Lederkorsage zum Vorschein. An ihr zogen je Bein zwei Strapse an je einem Netzstrumpf, die seine vielen Beinhaare wie Spinnenbeinchen erscheinen ließen. Dabei tuschelte er ihr merkwürdige Dinge wie "Zu alt fürs Ostereiersuchen ist man nie" und so ins Ohr.
Mariechen mutmaßte einen Scherz und begann laut und anhaltend zu lachen. Daraufhin wurde Onkel Willi ebenso rot und anschließend ebenso weiß, wie damals in der Gartenlaube. Die herbeigeströmten Familienangehörigen glaubten aus einem unerfindlichen Grund, Mariechen hätte Onkel Willi zu etwas Absurdem gezwungen und schimpften in einem fort mit ihr. Mariechen lächelte nur milde, packte ihre Siebensachen und verschwand fast genauso, wie ihre Tante Erna das damals an jenem denkwürdigen Osternachmittag gemacht hatte.
Nur diese besonderen Ledersachen, die kaufte sich Mariechen erst sehr viel später.
Re: Grenzgänger
Da steckt Charme drin!
Re: Grenzgänger
Also, als Kürzesttext, um in ein Programm einzuführen, ist die Idee nicht übel. Danach bringt dir ein Schandknaapje (wie holländische Mittellateiner immer bei Seminaren scherzen) ein Glas Wasser und nimmt dir den Wickelrock und das Wolljäckchen ab: darunter...jetzt gehts weiter in pechschwarzem Strapsleder. "Pechschwarz" könnte auch das 60/90-Minuten-Programm heißen. Denn diese Lederklamotten kleben auf der Haut. ...Als literarische Störung wäre das Programm ein zarter Hammerschlag...Beginn : 24:00.
Hilfe, die Preußen kommen!
Re: Grenzgänger
Ich bin ganz verstört...ich weiß nicht, wie Du das meinst....
Re: Grenzgänger
Das geht vorüber.
Hilfe, die Preußen kommen!
Re: Grenzgänger
Wirst Du dann klarer?
Re: Grenzgänger
Gräfin, ihm gefällts. Er sieht dich schon als Openerin einer erotischen Lesung:-)
Re: Grenzgänger
Re: Grenzgänger
Freier Nachmittag
Bah, ist mir langweilig! Hier passiert nix!
Wie spät haben wir s eigentlich? Erst zwei??? Puh.
Wenn ich mich konzentriere, höre ich, wie mein Herzschlag vor Langeweile wirklich echt immer langsamer wird. Langsamer und langsamer und langsamer und langsamer.
Hab ich ne Mail bekommen? Ein Sms vielleicht? Nein. Ist ja auch erst ne halbe Stunde vergangen, seit ich das letzte mal Okay, ich les jetzt n Buch. Au ja, au fein, das mach ich. Bloß keine schwere Kost. Kurzgeschichten. Die sind immer gut. So.
Ich rieche. Vielleicht sollt ich erst mal duschen gehn? Hm. Oooch. Dann kommt die ganze blöde Cremerei und Fönerei dazu. Nee. Hab keine Lust. Heut Abend dann.
Jetzt hab ich ne halbe Stunde Beinhaare gezupft und finde einfach keine mehr! Ich bin blank wie ein Babypopo. Der Meerschweinchenkäfig ist sauber, das Katzenklo auch, die Wäsche ist gewaschen, fertig getrocknet, zusammen- und weggelegt, das Essen vorbereitet, die Kinder spielen draußen. Zu viel Kaffee ist bereits getrunken, viel zu viele Kekse sind gegessen. Mein Kopf dröhnt, mein Puls schlägt und die Sonne scheint. Zu hell! Der Himmel strahlt.
Bah, ist mir langweilig! Hier passiert einfach nix!!! Alles ist so langsam.
Hilfe! Ich hör meinen Herzschlag nicht! Wo ist er? So sehr ich mich auch konzentriere, ich höre ihn nicht mehr! Ich höre nichts mehr!!! Es ist so still hier. Hilfe, Hilfe! Bin ich vielleicht schon tot? Vor lauter Langeweile gestorben? Wirklich?
Ach nee, da ist er wieder. Puh. Schade. ... Wie spät ist es eigentlich? Erst drei? Bah!