NCIS-FF-Forum - Fanfiction

Kinderkrankheiten

Re: Kinderkrankheiten

Nervös kaute Ian auf seiner Unterlippe, während das Freizeichen ertönte.Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe sich jemand meldete, und als es soweit war, verschluckte er sich fast.

"Hier ist Dr. Ian McNamara", brachte er irgendwie hervor. Zu seiner Erleichterung war es weder Marian noch Dr. Quint, bei der er sich seltsam ruhig nach dem grauhaarigen Agenten erkundigte. Doch die offensichtlich etwas ältere Schwester gab keine Antwort. "Kommen Sie vorbei", erklärte sie schlicht und legte auf.

Mit zitternden Knien machte Ian sich auf den Weg. In der Notaufnahme war mittlerweile relative Ruhe eingekehrt, auch wenn er wusste, dass sich das innerhalb von Minuten, ja Sekunden, ändern konnte. Während er den Knopf des Aufzugs drückte, schossen tausende Gedanken durch seinen Kopf. Warum nur hatte Schwester Harriet ihm keine Auskunft geben wollen? War Gibbs' Zustand zu schlecht, um ihn am Telefon zu besprechen?! Oder war es etwa...
Bleich lehnte der junge Mediziner sich an die kühle Metallwand der Kabine und weigerte sich, diesen Gedanken auch nur zu Ende zu führen. Es DURFTE nicht sein. Das Hochgefühl, dass ihn nach dem Funkspruch aus Kensington erreicht hatte, hatte sich in Luft aufgelöst.

Wenige Sekunden später hielt der Lift auf der gewählten Etage, und die sich öffnenden Türen gaben den Blick auf den Eingang der Intensivstation frei. Ian musste gegen seine Beine ankämpfen, die offensichtlich ihren Dienst quittiert hatten. Mühsam stolperte er aus der Kabine und klammerte sich am Türgriff fest, während er die Schelle betätigte. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, und er hatte das Gefühl, in einem immer werdenden Käfig eingesperrt zu sein.

Auf der anderen Seite der schweren Tür näherten sich rasche Schritte, und nach einer kurzen Vorstellung durch die Sprechanlage ließ die Schwester ihn herein. "Abteil drei", erklärte sie ruhig, ehe sie mit zügigen Schritten über den Gang eilte und in einem der hinteren Abteile verschwand. Ian glaubte, den Stein hören zu können, der ihm in diesem Moment vom Herzen fiel. Was auch immer geschen war, Gibbs lebte.

Der junge Mediziner blieb noch einen Moment neben der Tür stehen. Vom anderen Ende des Flurs waren die leisen Stimmen mehrerer Personen zu hören, die in die Behandlung ihres Patienten vertieft waren. Er hätte zu gerne mit dem diensthabenden Arzt gesprochen, doch das würde noch warten müssen. Leise trat Ian näher an den Vorhang, hinter dem er den grauhaarigen Agenten finden würde. Obwohl er wusste, was ihn erwartete, war der Gang nicht im Geringsten einfacher als bei seinem ersten Besuch vor wenigen Stunden. Er musste sich regelrecht zwingen, den Stoff beiseite zu schieben und den Ermittler anzusehen. Doch der Anblick hatte sich seit seinem letzten Besuch nicht verändert. Ian hatte den Eindruck, dass der Ermittler noch blasser geworden war, falls das überhaupt möglich war, doch er lag noch immer reglos auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Und auch der Tubus ragte noch immer aus seinem halbgeöffneten Mund.

"Oh Jethro", seuftze Ian leise, als er neben das Bett trat. "Es tut mir so leid... wirklich." Vorsichtig fasste er eine Hand des Agenten, die seltsam kraftlos in seinen Fingern lag. Ein Blick auf den Monitor verriet ihm, dass die Temperatur seines Freundes immer noch bedenklich hoch war. Blutdruck und Puls des Patienten waren dagegen gefährlich niedrig, ebenso wie die Sauerstoffsättigung trotz der Beatmung nur knapp oberhalb des kritischen Grenzwertes lag. Zu Ians Erleichterung verliefen zumindest die Wellen des EEG ruhig und unauffällig.

Er blickte noch einmal auf das bleiche Gesicht, das jede Farbe verloren zu haben schien. Die fahle Haut war von kaltem Schweiß bedeckt, und Ian spürte, dass Jethro weit fort war. Irgendwo in einer anderen Welt, weit entfernt von Monitoren, Beatmungsgeräten, Nadeln und Schmerzen. Doch sein Gesicht zeigte keine Entspannung, keinen Frieden. Stattdessen spiegelte sich ein tiefer Schmerz in der Miene des Grauhaarigen, eine qualvolle Sehnsucht nach etwas lange verlorenem.

Er schrak zusammen, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte. Hinter ihm stand ein kräftiger, weißhaariger Mann mit einem ebensolchen Vollbart, dessen gesamte Gestalt eine einmalige Ruhe ausstrahlte. "Dr. McNamara?" fragte er. "Dr. James Hickman. Sie sind ein Freund von Agent Gibbs?" Ian nickte. "Wie geht es ihm?" Mit einer Kopfbewegung lud der ältere Kollege ihn ein, das Gespräch an einem anderen Ort fortzusetzen. Nach einem kurzen Zögern folgte Ian ihm in das kleine Ärztezimmer, verzweifelt hoffend, dass ihm eine zweite Strafpredigt erspart bleiben würde. Auch wenn er nur zu gut wusste, dass er jedes Wort davon verdient hatte, war er im Moment einfach nicht in der Lage, weitere Vorwürfe zu ertragen.

Doch Dr. Hickman hatte nichts dergleichen im Sinn - falls er von Ians Beteiligung am Zustand seines Patienten wusste, ließ er sich nichts anmerken. "Er wird schwächer", begann er ohne Umschweife. "Ich will Ihnen nichts vormachen, Dr. McNamara. Wir behandeln, was wir können - die Masern, den Infekt und die Enzephalitis, und im Moment ist er stabil. Aber... sie wissen ebenso gut wie ich, dass sich das jeden Augenblick ändern kann. Ein Mann in seinem Alter... kritisch."

Ian starrte seinen Kollegen an, der in etwa im gleichen Alter wie Gibbs sein mochte. Die Angst um seinen Freund stand ihm vermutlich auf der Stirn geschrieben, denn der Weißhaarige legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. "Es tut mir leid", erklärte er mit fester Stimme. "Aber ich kann Ihnen keine besseren Nachrichten mitteilen. Aber ich werde ehrlich mit Ihnen bleiben... insbesondere die Enzephalitis macht uns große Sorgen. Wir haben ihn sicherheitshalber punktiert, auch wenn der Erreger in seinem Fall ziemlich eindeutig ist. Die Untersuchungen laufen, aber wir wissen noch nichts genaues. Bis dahin bekommt er eine Kombination aus Aciclovir und Forscanet, zusätzlich etwas gegen das Fieber und den Infekt. Die Krampfanfälle versuchen wir mit Diazepam im Griff zu behalten, allerdings waren wir dabei bisher noch nicht sehr erfolgreich. Er hat seit seiner Einlieferung fünf Mal gekrampft, aber wir hoffen das beste, immerhin ist er jetzt seit zwei Stunden anfallsfrei. Allerdings ist sein intrakranieller Druck noch immer im Steigen - trotz Medikamentengabe und Punktion."

Ian runzelte die Stirn, seine Besorgnis war nun nicht mehr zu übersehen. Er war froh, dass Dr. Hickman so offen war, doch die Erkenntnis erschreckte ihn. Er wusste, dass es schlecht um den Grauhaarigen stand, nun wusste er immerhin, WIE schlecht. "Wie hoch ist er?" fragte er leise nach. "Mittlerweile bei 20 mg Hg", antwortete der Weißhaarige, ohne einen Blick auf den Monitor werfen zu müssen. "Hart an der Grenze zum stark erhöhten Druck. Aber wenn jetzt noch mal ein Anfall dazu kommt... Wie gesagt, es ist verdammt kritisch."

Ian erhob sich, er wollte zurück zu Gibbs, auch wenn er selbst nicht genau wusste, warum. Er würde dem Grauhaarigen nicht helfen können, es würde nichts ändern, ob er an seiner Seite saß oder nicht. Dennoch zog es ihn zurück. Dr. Hickman erhob sich ebenfalls. "Ich denke, die nächsten fünf Stunden sind entscheidend," schloss der Intensivmediziner das Gespräch. "Entweder ist er morgen früh über den Berg - oder... nicht." Ian verstand nur zu gut, was dieses "nicht" bedeutete. "Danke", antwortete er leise und trat zurück auf den Flur.

Er warf einen raschen Blick auf seinen Pager, obwohl er genau wusste, dass das Gerät nicht angeschlagen hatte, seit er die Notaufnahme verlassen hatte. Den Gedanke, dass er - wenn auch freiwillig - immer noch im Dienst war und eigentlich schon lange wieder auf seiner Station sein sollte, schob er rasch beiseite. Dr. Leonhart wusste, warum er hier oben war, und er würde ihn nur anpiepsen, wenn erneut eine Katastrophenwelle über die Aufnahme hereinbrechen würde. Müde griff er nach einem kleinen Hocker und ließ sich an der Seite des Ermittlers nieder. Sein Verstand fuhren Achterbahn, tausende Gdanken schossen durch seinen Kopf, Dinge, die er seinem Freund sagen wollte. Doch er brachte kein Wort hervor. Die gesamte Atmosphäre schnitt ihm die Luft zum Atmen ab und ließ ihn schweigend auf die leblose Hülle vor seinen Augen starren.

Warum zum Teufel habe ich es so weit kommen lassen?! fragte er sich zum tausendsten Mal. Doch eine Antwort darauf hatte er noch immer nicht gefunden. Und Gibbs, der sonst derjenige war, der immer und auf alles eine Antwort kannte, blieb dieses Mal ebenfalls stumm. Statt dessen hallten die Worte von Dr. Hickman in seinem Ohr. "Die nächsten fünf Stunden sind entscheidend... über den Berg... oder nicht." Nervös warf Ian einen Blick auf den Monitor, die Linien verliefen noch immer gleichmäßig - aber das Wellenbild war unruhiger geworden. Oder bildete er sich das ein? Verdammt, Gibbs! schrie Ian innerlich. Kämpf endlich!! Wenn nicht für mich, dann für dein Team. Für Ducky und Abby, und für Tony und Ziva... und für Tim. Sie brauchen dich. Ich verstehe ja, wenn du mit mir nichts mehr zu tun haben willst, aber bitte, bitte... lass uns hier nicht im Stich. Bitte.

Die Augenlider des Grauhaarigen begannen erneut zu flattern, die Augen bewegten sich heftig unter den geschlossenen Lidern. Träumte Gibbs? Der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkte verzerrt, gequält, wie Ian es noch nie zuvor gesehen hatte. War es ein Alptraum? Oder waren es die Schmerzen seines Körpers? Die Entzündung, die Punktion, die Masern? Oder noch etwas anderes? Erneut warf Ian einen Blick auf den Monitor - und im gleichen Moment begann eine der Linien, heftig auszuschlagen. Der Alarm fuhr Ian durch Mark und Bein, er stand wie erstarrt, als der Grauhaarige erneut krampfend um sich schlug. Ein Arm traf ihn in den Magen und ließ ihn nach Luft schnappen, riss den jungen Mediziner aber gleichzeitig aus seiner Starre. Er trat beiseite, während Hickman und die beiden Schwestern sich um den Patienten kümmerten. Gleichzeitig spürte er ein nur allzu vertrautes Vibriren an seinem Gürtel. Unter den Alarmton des Monitors mischte sich ein zweites Signal - nicht ganz so laut, aber mindestens genauso unwillkommen.

Ian starrte auf das kleine Gerät und konnte es nicht fassen. Sein Pager hatte schlug an. Ausgerechnet jetzt, während Gibbs' Leben am seidenen Faden von Dr. Hickmans Händen hing. FUCK!



Re: Kinderkrankheiten

Eine ewig dauernde Sekunde zögerte er, zu gehen und dem Pagerruf zu folgen - hin und hergerissen zwischen Pflichtbewusstsein und der bohrenden Angst, den Tod quasi herauszufordern, wenn er jetzt ging. Dann traf ihn ein Blick von Hickman und er nickte ihm fast unmerklich zu. Etwas in den Augen des älteren Mediziners sagte ihm, dass der Mann mit der Sense Gibbs zumindest nicht ohne Kampf bekommen würde - und erinnerte ihn zudem daran, dass in der Aufnahme irgendjemand auf seine Unterstützung im Kampf gegen den schwarzen Schnitter wartete. Der Augenkontakt dauerte kaum den Bruchteil einer Sekunde, dann wirbelte Ian herum und verließ mit eiligen Schritten die Intensivstation. Das Schließen der schweren Sicherheitstür hinter ihm klang geradezu bedrohlich, weil es die Stimmen der Intensivmediziner abrupt abschnitt und ihn in eine Stille hüllte, die ihn grausam zu verhöhnen schien. Jetzt, in diesem Moment, hasste Ian seinen Beruf. Jetzt in diesem Moment hätte er alles dafür gegeben, einfach nur ein Angehöriger zu sein, sich nicht zwischen Pflichtgefühl und der Freundschaft entscheiden zu müssen. Sich selbst mit aller Kraft dazu zwingend, die Sorge um den grauhaarigen Ermittler in den Hintergrund zu drängen und sich auf die vor ihm liegende Arbeit zu konzentrieren, hastete Ian zum Lift. 
 Als sich die metallenen Türen im Erdgeschoss wieder öffneten, schwappte eine Kakophonie aus hektisch durcheinander rufenden Stimmen, aufjaulenden Sirenen und verzweifelten Schreien in die Kabine und katapultierte in direkt in ein wahres Schlachtfeld. In der Notaufnahme sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, überall schwer verletzte Menschen, dazwischen Schwestern, Ärzte und Pfleger, an deren blutverschmierten Kitteln kaum noch Unterschiede zu den Patienten auszumachen waren. "Grundgütiger...", brachte Ian fassungslos heraus, als sein hastiger Rundumblick eine reglose Kindergestalt erfasste, über die gerade ein Tuch gebreitet wurde. Einen Wimpernschlag lang blieb er regungslos stehen, erfüllt von eiskaltem Entsetzen, dann riss er sich zusammen, verdrängte das Grauen an einen Ort tief in seinem Inneren und trat aus der Liftkabine. Die professionelle Distanz, die er sich über die Jahre mühsam angeeignet hatte, half ihm, sein Urteil nicht vom Elend und Verzweiflung trüben zu lassen. Half ihm, scheinbar ohne jedes Mitleid Patienten für hoffnungslos zu erklären und sich denen zuzuwenden, die eine echte Chance hatten. Half ihm, inmitten all dieses Horrors beherrscht seiner Arbeit nachzugehen und nicht daran zu verzweifeln, dass die kleine regungslose Gestalt nicht das einzige tote Kind blieb. 

Erst Stunden später - Jahre, wie ihm schien - erfuhr Ian, was überhaupt geschehen war. Auf einem der umliegenden Stützpunkte waren mehrere Schulklassen eingeladen gewesen, einer Vorführung der Fliegerstaffeln beizuwohnen. Durch einen fatalen Fehler in der Bordelektronik eines der Flugzeuge war der Pilot nicht mehr in der Lage gewesen, den Kurs zu halten und war in der Formation ins Trudeln geraten, wodurch insgesamt vier Piloten ihre Maschinen nicht mehr unter Kontrolle gebracht hatten und mitten in die Zuschauermenge abgestürzt waren. Weil die Notaufnahme des Bethesda einen ausgezeichneten Ruf hatte und die umliegenden Krankenhäuser durch die Brandkatastrophe in South Kensington teilweise bereits an die Grenzen ihrer Kapazitäten gekommen waren, hatte man den Großteil der Schwerverletzten ins Bethesda gebracht. Die leichtverletzten Schüler und die meisten der Aufsichtspersonen waren auf die Ambulanzen der umliegenden Spitäler aufgeteilt worden, zusätzlich war auf dem Stützpunkt sofort ein Feldlazarett eingerichtet worden, in dem man sich vor Ort noch um die kritischsten Fälle gekümmert hatte. 
Auch eine Untersuchung war bereits im Gange, um zu eruieren, wie es überhaupt zu diesem schrecklichen Ausfall in der Bordelektronik der ersten Maschine hatte kommen können - doch das interessierte Ian nicht wirklich. Zu grausam war das Resultat dieses Ausfalls, zu wirklich der vorherrschende Geruch nach Angst, Blut und Tod. Der Geräuschpegel in der Notaufnahme war merklich gesunken, dennoch war immer noch überall die Verzweiflung deutlich spürbar. Die lauten Schreie der Kinder waren leisen Schluchzern und stummen Tränen gewichen, die fassungslosen Eltern der getöteten Schüler in apathischem Schock versunken. Das Entsetzen hatte die Notaufnahme fest in seinen Klauen, wie betäubt saßen Erwachsene und Schüler nebeneinander, versuchten, das Unfassbare zu begreifen. Das Unglück auf der Flugshow ließ alle Unterschiede verschwinden, verband hochrangige Militärs mit Fabrikarbeitern und Büroangestellten - sie alle vereint in der Sorge um ihre Angehörigen und darum bemüht, sich gegenseitig Halt und Trost zu spenden. 
Doch viel zu oft gab es keinen Trost, viel zu oft war jedes mitfühlende Wort nicht mehr als eine leere Phrase. Viel zu oft hatte der Mann mit der Sense zugeschlagen. Für das Grauen, ein Familienmitglied betrauern zu müssen gab es keinen Trost. Keine Macht der Welt konnte den Eltern, die voller Panik ins Bethesda gekommen waren, ihre Töchter und Söhne wiedergeben, kein Untersuchungsausschuss den Schmerz nehmen über den Verlust eines Familienmitglieds. 


Irgendwann - Jahre, Jahrzehnte später - war es vorbei. Die Patienten waren auf die Stationen aufgeteilt oder entlassen worden. Das Blut war vom Boden aufgewischt und von den Händen gewaschen worden, besudelte Uniformen und Kittel waren gegen saubere getauscht worden. Die Spuren des wahr gewordenen Alptraums waren verschwunden, doch das Entsetzen war geblieben. Das Grauen lag greifbar in der Luft, saß jedem Einzelnen tief in den Knochen, darauf lauernd, dass die hinter der Maske der professionellen Distanz verborgenen Emotionen freigelassen wurden. In kleinen Gruppen standen Ärzte und Pflegepersonal stumm beieinander, unabhängig von Rang oder Hierarchie gleich in der fassungslosen Unfähigkeit, über das Erlebte zu sprechen. Leonstein bat um Aufmerksamkeit, seine Worte in der totenstillen Leere der Notaufnahme auf groteske Weise widerhallend. Als alle zu ihm sahen, ließ Leonstein seinen Blick kurz auf jedem Einzelnen ruhen, eine wortlose Bekundung seines Respekts. Schließlich räusperte er sich und fing an zu sprechen. 
"Dieser Tag ist in mehr als nur einer Hinsicht ein dunkler Tag.", begann er und hielt für einen Moment inne. "Viele von uns sind heute an ihre Grenzen gestoßen, an die Grenzen dessen, was wir zu ertragen in der Lage sind. Auch jahrelange Arbeit in der Notaufnahme ändert nichts daran, dass wir nicht nur Ärzte, Pfleger und Schwestern sind. Wir sind auch Eltern, Kinder, Geschwister - wir sind Menschen und heute mussten wir alle Unmenschliches sehen und ertragen." Wieder musste Leonstein kurz pausieren, um sich zu fassen. "Es ist ein sehr schmaler Grat, in solchen Situationen die eigenen Emotionen zu beherrschen, sich nicht davon überwältigen zu lassen und gleichzeitig dennoch das Mitgefühl für die Patienten und ihre Angehörigen zu bewahren." Wieder ließ Leonstein seinen Blick über die Versammelten schweifen und kurz auf jedem ruhen. "Ihr alle habt die Gratwanderung heute gemeistert und dadurch das Entsetzen ein kleines bisschen erträglicher werden lassen. Ihr wart der Anker, den die Patienten, die Angehörigen, aber auch wir selbst, benötigt haben, um diesen Tag zu überstehen. Dafür danke ich euch." 
Für eine lange Sekunde herrschte Stille. Dann fing irgendjemand zögernd an, zu applaudieren. Ein, zwei Mal war nur das einsame Klatschen zu hören, dann fiel ein zweiter ein, ein dritter, bis schließlich alle auf diese Art den Worten Dr. Leonsteins Respekt bezeugten. Mit einem traurigen Lächeln dankte der Leiter der Notaufnahme für die Geste und bat wieder um Ruhe. Der Applaus verebbte, und er setzte erneut zum Sprechen an. "Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass belastende Erlebnisse nicht immer allein bewältigt und verarbeitet werden können. Oft hilft ein Gespräch mit jemand, der das Gleiche erlebt hat, schon sehr. Manchmal braucht es aber mehr als ein Gespräch unter Kollegen, um mit dem Erlebtem fertig zu werden. Daher möchte ich euch daran erinnern, dass wir im Bethesda über speziell geschulte Mitarbeiter verfügen, die bei der Verarbeitung belastender Ereignisse helfen können. Diese Mitarbeiter stehen nach Vereinbarung gerne für Gespräche zur Verfügung, bei Bedarf auch außerhalb des Bethesdas oder der regulären Dienstzeiten. Eine Liste der Personen werde ich gleich per Rundmail an die gesamte Belegschaft der Aufnahme senden. Sollte jemand dieses Angebot gleich wahrnehmen wollen, bitte ich lediglich um eine kurze Nachricht, damit ich den regulären Betrieb der Aufnahme gewährleisten kann. Das war von meiner Seite alles. Falls es von eurer Seite Fragen gibt, stehe ich zur Verfügung, sobald ich die Liste verschickt habe - dabei kann es sich ja nur um Stunden handeln." 
Verhaltenes, leises Gelächter belohnte den kleinen Scherz, denn Leonstein war dafür bekannt, dass er mit der EDV eher auf Kriegsfuss stand. Der selbstironische Seitenhieb erinnerte Ian aber auch daran, dass er noch jemand kannte, für den die moderne Technik ein Buch mit sieben Siegeln war. Bevor er jedoch dazu kam, Leonstein deswegen anzusprechen, winkte der ältere Mediziner ihn zu sich. "Sie haben uns lange genug ausgeholfen, McNamara. Geben Sie den Pager ab und gönnen Sie sich eine Pause." Ian lächelte müde. "Sieht man es so deutlich?" Leonstein erwiderte das Lächeln ebenso müde. "Sie mögen jünger sein als ich, aber auch an Ihnen ist dieser Tag mit Sicherheit keineswegs spurlos vorübergegangen." Aufmunternd legte er seine Hand auf Ians Schulter und drückte sie kurz. "Abgesehen davon wollten Sie ohnehin auf die Intensiv und nach Ihrem Freund sehen, nicht wahr?"  

Wenige Minuten später stand Ian zum wiederholten Mal an diesem Tag vor der schweren Tür zur Intensivstation. Sein Blick klebte an der Klingel, doch er brachte es nicht über sich, sie zu drücken. Was, wenn Gibbs... Er wollte den Gedanken nicht einmal zu Ende führen, so beängstigend war er. Und seine Karriere war ihm dabei vollkommen egal, es war die Angst, vielleicht feststellen zu müssen, dass er einen Freund verloren hatte. Und auf der anderen Seite war da die Hoffnung, dass Gibbs den Krampfanfall ohne schwerwiegende Folgen überstanden hatte. Die Hoffnung, dass Jethro einmal mehr unter Beweis stellte, dass Marines aus einem anderen Holz geschnitzt waren. Hin und hergerissen starrte Ian auf den so harmlos aussehenden Klingelknopf, der für ihn die Entscheidung zwischen Angst und Hoffnung darstellte. Schließlich wurde ihm die Entscheidung abgenommen, die Tür von innen aufgestoßen. "Ah, Dr. McNamara.", begrüßte Hickman ihn freundlich. "Leonstein hat Sie angekündigt, Sie können direkt zu Mr. Gibbs durchgehen." Ein ganzes Gebirge fiel Ian vom Herzen, als er das aufmunternde Lächeln im Gesicht des Intensivmediziners sah. "Dann ist er...?" Hickman nickte. "Ihr Freund hat den Krampfanfall gut überstanden." Erleichtert folgte Ian der einladenden Geste ins Innere der Intensivstation, sah Hickman dankbar an und steuerte dann sofort das dritte Abteil an. 
Obwohl er darauf vorbereitet gewesen war, versetzte ihm der Anblick des reglos daliegenden Ermittlers einen Stich. Wieder fasste er vorsichtig nach Gibbs' Hand und drückte sie sanft. "Hören Sie bloß nicht auf zu kämpfen, Jethro.", bat er den Grauhaarigen leise. Dann ließ er die Hand wieder los, zog sich den kleinen Hocker heran und setzte sich wie schon beim letzten Mal ans Bett. War es wirklich erst einige Stunden her, dass er hier gesessen hatte? Es kam ihm vor, als wären Tage vergangen. In den letzten Stunden hatte er soviel Leid gesehen, soviel Schmerz und Elend - nicht zu vergessen seine eigenen Sorgen und Ängste um Gibbs. Die toten Kinder, die verbrannten Frauen und Männer. Lautlos weinende Mütter und Väter, laut ihre Verzweiflung hinausschreiende Jungen und Mädchen. Vom Schock betäubte Lehrer, apathische Schüler. Soviel Leid, soviel Grauen. Er war erschöpft, nicht nur müde, sondern richtig erschöpft. Körperlich und seelisch. Matt stützte Ian sich mit den Ellbogen auf dem Krankenbett ab, barg den Kopf in den Händen und schloss für einen Moment die Augen. Nur für einen Moment, nur eine kurze Pause, dann wollte er wieder die Monitore im Auge behalten. Er merkte es nicht einmal noch, war schon eingeschlafen, bevor sein Kopf die Matratze berührte. 


Re: Kinderkrankheiten

OOC: Ich schlage vor, wir basteln die Zeitlinie noch so hin, dass es jetzt früher morgen ist. Einverstanden?


Gibbs

Kopfschmerzen.
Starke Kopfschmerzen.
Piepsen. Regelmäig. Fremd. Vertraut.
Steril. Riecht vertraut. Verhasst.
Dumpfes Pochen.
Schädelknochen... Druck... zu viel Druck, viel zu viel... nicht nachgeben...
Atmen.
Atmen?
Blockade.
Ein Gegenstand im Hals.
Aber keine Luftnot.
Auch das vertraut.
Beatmungsgerät.

Die Sinne des Grauhaarigen kehrten nur langsam zurück. Er war müde und kaum in der Lage, einen konkreten Gedanken zu fassen, doch sein Bewusstsein formte aus all diesen Eindrücken ein Wort.
Krankenhaus.
Er war in einem Krankenhaus.
Aber warum? Was war passiert? Wie war er hier hergekommen?

Vorsichtig blinzelnd öffnete Jethro die Augen. Es war dämmrig im Raum, kein Licht blendete ihn. Doch seine Sicht war verschwommen, und es dauerte einen Moment, ehe er seine Umgebung erkennen konnte.
Krankenhaus. Soviel war vorher klar gewesen. Offensichtlich Intensivstation.  Erklärte den Beatmungsschlauch.

Für einen Moment überfiel den Grauhaarigen Panik, weil er nicht selbst atmen konnte. Doch Jethro Gibbs hatte sich mittlerweile oft genug in einer solchen Situation wiedergefunden, um diese Panik im Griff zu behalten.
In wenigen Augenblicken würde jemand bemerken, dass er wach war, und ihn von dem Tubus befreien. Und das würde wesentlich sanfter vonstatten gehen als wenn er der Panik nachgeben und diesen verdammten Schlauch selbst herausziehen würde. Auch das hatte er oft genug getestet. Zu oft.

Eine Bewegung am Rande seines Blickfeldes zog die Aufmerksamkeit des Grauhaarigen auf sich. Der Ermittler erkannte die Gestalt von Ian McNamara, dessen Kopf auf die Matratze gesunken war und der offensichtlich schlief. Verdammt, was war hier passiert? Warum war er überhaupt hier, und warum schlief Ian neben seinem Bett?!

Als hätte er seine Gedanken gespürt, bewegte sich die verschlafene Gestalt an seiner Seite. Ian schien zu erwachen, reckte sich, blinzelte - und riss im nächsten Moment die Augen auf. Er sah aus wie die Hölle persönlich, registrierte Gibbs, unrasiert und übernächtigt und vollkommen erledigt.

Doch bevor sein Verstand beginnen konnte, sich einen Reim darauf zu machen, tauchte eine weitere Gestalt auf. Ein weißhaariger Mann in einem Kittel trat neben Ians fassungsloses, unendlich erleichtertes Gesicht. Und Jethro entging nicht, dass er seinem jungen Kollegen erleichtert auf die Schulter klopfte. Irgendetwas war hier offensichtlich an ihm vorbeigelaufen... was zum Teufel war passiert?!

"Willkommen zurück", erklärte Dr. Hickman in einem volltönenen Bass, während er bereits nach einem Tuch griff, das unter dem Kinn des Ermittlers ausbreitete.
"Dr. McNamara? Sie haben die Ehre." Er machte eine einladende Kopfbewegung, und der immer noch sprachlose Ian nickte.
Jethro verstand nicht, was die beiden Mediziner da über seinen Kopf hinweg austauschten, aber es war in diesem Moment auch nicht wichtig. Es reichte völlig aus, dass Ian nun neben ihn trat und endlich nach diesem verdammten Schlauch griff. Der Tubus brannte in seiner Kehle, scheurte, kratzte, Gibbs würgte und hustete, doch nach wenigen Sekunden war es vorbei. Hickmans Hand presste eine Maske über seine Nase, er konnte das leise Zischen des Sauerstoffs sogar hören.

Der Grauhaarige lehnte sich einen Augenblick erschöpft zurück und sammelte neue Kraft, ehe er die Augen erneut öffnete. Ian stand noch immer neben ihm und starrte ihn an, und sein Gesicht zeigte eine unglaubliche Erleichterung. Waren das Tränen in den Augen des anderen? Jethro zwinkerte, doch das Bild blieb zu verschwommen.

"Was ist passiert?" versuchte der Agent zu fragen. Doch seine Kehle war noch zu rauh, um verständliche Laute zu produzieren. Ian reichte ihm einen Becher mit Wasser, und der Ermittler saugte vorsichtig an dem Strohalm.

"Jethro... was passiert ist... es tut mir leid!" brach es aus Ian heraus. "Ich hätte nie zulassen dürfen, das es so weit kommt, ich..." Er brach ab, als Dr. Hickman erneut den Raum betrat.
"Dr. McNamara, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?"
Der junge Mediziner nickte und folgte seinem älteren Kollegen aus dem Abteil.

Gibbs blickte ihnen erschöpft nach und konzentrierte sich anschließend erneut darauf, herauszufinden, was ihn in dieses Bett gebracht hatte.
Übelkeit.
Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war eine entsetzliche Übelkeit.
Und Kopfschmerzen - die hatte er immer noch.
Ian.
Ian war in seinem Schlafzimmer gewesen.
Das erklärte, wie er hergekommen war.
Aber immer noch nicht, was passiert war...

Sein Kopf dröhnte noch immer, als ob er jeden Moment platzen wollte, und Jethro gab es auf, weiter darüber nachdenken zu wollen. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Eindeutige - auf seinen Körper.
In seinen langen Jahren im Marinecorps hatte Gibbs gelernt, mit Verletzungen umzugehen und die Signale seines Körpers zu deuten. Systematisch begann er mit der Bestandsaufnahme. Neben dem Kopf, der mit Abstand am meisten schmerzte, sendete sein Rücken bei jeder Bewegung einen stechenden Schmerz durch seine Wirbelsäule.
Allerdings schmerzten bereits seine Muskeln derart, dass er sich ohnehin besser nicht bewegte. Vor allem sein Nacken war unglaublich steif und wie im Dauerkrampf. Sein Hals war nicht nur durch den Schlauch in Mitleidenschaft gezogen, der gesamte Rachenraum schien stark entzündet und geschwollen zu sein.
Beide Hände waren von Kanülen zerstochen, die zu den Infusionen neben seinem Bett führten. Sein rechtes Handgelenk brannte und war sorgfältig verbunden. Aus seinem Hemd ragten Kabel hervor, die darauf hindeuteten, dass seine Brust mit Elektroden verkabelt war - ebenso wie sein Kopf, von dem weitere Kabel herunter zu hängen schienen.
Und zusätzlich zu all diesen spezifischen Beschwerden schien seine Haut am gesamten Körper zu jucken wie die Hölle persönlich. Und er war müde, unendlich müde...
Sich halbherzig kratzend, schlief der Ermittler wenige Augenblicke später ein.